Subject: dimo
Date: Tue, 13 May 2003 08:04:08 +0200
Liebe Marlena
Das muss ich zuerst korrigieren! Du sagst, ich betone immer wieder, dass ich
nicht aus Lust schreibe. Nein, das stimmt nicht. Und es ist ein bisschen
komisch, wie ein solcher Eindruck entstehen kann.
Heute morgen beispielsweise hat mich der Gedanke aus dem Bett gehievt, dass
ich im Box ein Mail von Dir finden würde. Ist also durchaus eine Motivation,
den Tag überhaupt anzufangen. Und dabei ist viel Lust, nicht wahr.
Aber im Hintergrund habe ich diese Sicherung in Form der Devise: jeden Tag
ein Mail, d.h. irgendwann im Tag muss ich mir eine halbe Stunde nehmen
dafür. Und die halbe Stunde kommt nicht aus Lust zu mir, ich muss sie mir
holen. Weil ich den PC hier habe, kann das auch nicht abends um 22h
geschehen, wenn man schon entspannt ist und die Lüste automatisch aufkommen.
Na ja, so ungefähr, verstehst Du?
Vielleicht scheint es, dass ich den rituellen Teil betone, weil ich diesen
Aspekte im Leben zur Zeit für ziemlich wichtig halte. Als 68er waren wir
wirklich gewohnt, aus blosser Lust und aus dem Bauch heraus - wie sie hier
sagen - zu leben, ohne Planung, ohne sich allzu viele Gedanken um den
nächsten Tag zu machen. Und in letzter Zeit versuche ich eben, die Vorteile
der Gewohnheiten, der Rituale, der Pflichten auch für mich zu entdecken.
Ich bin wirklich eine Hochbegabung, mein Leben ziemlich unorganisiert hinter
mich zu bringen. Und manchmal denke ich, dass das in meiner Position ein
wahrer Skandal sei und nehme mir viele Dinge vor, die ich nie in meinem
Leben erfüllen könnte. Kurz und gut: beste Voraussetzungen, um unglücklich
zu sein.
Irgendwie habe ich noch immer die Künstler-Existenz als Lebensideal. Ziel
des Künstlers ist es sozusagen, jeden Moment zu einer Ausnahmesituation zu
machen, jeden Moment auf den Höhepunkt des Lebens zu katapultieren. Und das
kann nur gelingen, wenn die eigene innere Konstellation mit den äusseren
Ereignissen eine geniale Verbindung eingeht. Jeder Moment sollte sozusagen
zum kleinen Kunstwerk werden! Und damit ist der Moment ein momentum
absolutum, ein autonomer Moment, der nur aus sich selbst beurteilt werden
kann. Der nächste Moment ist wieder anders und mit dem vorhergehenden nicht
zu vergleichen. Es gibt keine Steigerung, es gilt nicht, Momente in eine
Reihe zu kriegen, um eine langfristige Entwicklungen zu schaffen, es gibt
keine Unterordnung des einen Momentes unter den anderen (wie man sich z.B.
eine Vorbereitungsarbeit auf eine wichtige Prüfung vorstellen könnte). Ich
glaube, diese Vorstellungen gehen in die Richtung des Existenzialismus. Und
in jener Kunstgeschichte-Vorlesung, die ich zusammen mit A.besucht
hatte, hatte Prof. B. einen Zusammenhang zum Impressionismus von Monet
entwickelt, der in seinem Malstil, einer Art Pointilismus, eben diese
Summierung unendlich vieler kleiner Zeitpunkte, inszeniert hat. Auch ein
impressionistisches Bild ist schliesslich nichts anderes als die Spiegelung
eines schönen (und weiss Gott ephemeren, d.h. vergänglichen) und luftigen
Augenblicks.
Es gibt zur Zeit im Kunstmuseum Basel eine hübsche Ausstellung mit
expressionistischen Bildern und Fotos aus jener Zeit. Man kann daraus sehen,
wie sehr sich die Impressionisten auf das damals moderne Leben gestürzt
haben. Diese Erkenntnis war für mich wirklich neu! Sie haben die Strassen
von Paris gemalt (es gibt ein paar wunderbare Bilder von Monet, auch
Pisarro), die damals gerade von Haussmann neu gestaltet worden waren, sie
haben das Strandleben gemalt, also jene Freizeit-Phänomene der
Industriegesellschaft, sie haben Pferderennen, Bahnhöfe, Stadtparks, oft die
Landschaften und viele andere Aspekte des damals aktuellen Lebens gemalt.
Das war alles gar nicht besonders romantisch, sondern das moderne Leben
damals. Und auf den Fotos kann man sehen, wie einfach und ohne Glanz das
Leben damals wirklich war.
*
Soweit zum Thema Lust und Pflicht.
*
Lustig, dass ihr bei euch in Schweden einen richtigen Streik habt. Ich
glaube, ich habe in meinem ganzen Leben nie einen Streik erlebt. Bloss im
Wallis gab es manchmal Zugsverspätungen, weil die Italiener oder die
Franzosen gestreikt haben. In der Schweiz gilt Streik als Unart, als eine
Sache für Leute mit schlechtem Geschmack fast. Man kann lauthals
reklamieren, man kann trödeln bei der Arbeit, aber streiken, das tun wir
nicht. Wenn wir öffentlich demonstrieren, so tun wir das am
Samstag-Nachmittag. Und wir betreten dabei nicht den öffentlichen Rasen. Das
muss ja echt aufregend sein, wenn Teile der Schule streiken. Ich beneide
dich!
*
Du brauchst keine Gedanken wegzuzensieren in Deinen Mails!
Letzten Sonntag bin ich zufällig am Fernsehen in einen Vortrag einer Mainzer
Professorin geraten. Ich habe den Anfang nicht mitbekommen, aber ich nehme
an, sie sei Kommunikationsspezialistin, oder Professorin für Semiotik oder
so was Verrücktes. Sie hat sich Gedanken gemacht über die Kommunikation per
Internet. Na ja, jedenfalls habe ich sie so interpretiert. Und sie hat
einige Dinge gesagt, die wir längst besprochen und diskutiert haben. Sie hat
beispielsweise nicht von Person, sondern von Persona gesprochen, also von
einer fiktiven Figur, die einen selbstgewählten Namen und selbst
zugeschriebene Eigenschaften hat. Persona sei eine symbolisch hergestellte
Figur. Das heisst, was ich immer gesagt habe: es gibt nichts ausserhalb des
Textes. Alles ist Text. Das ist sogar noch dort so, wo, wie im ST alles
aussieht wie ein Dialog, der in Echtzeit abläuft.
Ist es nicht merkwürdig, dass sich jetzt schon Philosophen mit diesen Fragen
beschäftigen? Mich interessieren sie, weil ich denke, dass sich über lange
Zeit das Subjekt, diese Konstruktion individueller Existenz also, verändern
wird. Ich glaube, dass das "Subjekt", wie wir es heute kennen, eine Leistung
der Schriftkultur ist. Wenn das Buch als Leitmedium untergeht, dann wird
sich auch das Subjekt verändern. Ich erinnere mich daran, wie A. aus
Ecuador zurückgekehrt war und seither die Schweiz lobt, weil man hier mit
jedem Menschen, den man z.B. auf der Strasse trifft, sprechen könne. Sie hat
dort drüben bemerkt, dass man mit Analphabeten nicht sprechen kann, weil sie
in einer völlig anderen Welt leben und andere Anschauungen haben. Sie
brauchen ihre Sprache anders als wir es tun, vielleicht ähnlich wie sie mit
ihren Händen umgehen?
Denken wir nur an Mrs Dalloway und an andere wunderschöne Romane des 19.
Jahrhunderts, deren Funktion wohl nicht mehr und nicht weniger darin
bestand, den Menschen zu zeigen, wie sich ein Subjekt jener Zeit fühlt und
wie es denkt. Sie hatten durch und durch pädagogische Absichten. Die
Liebesromane besonders. Sie waren eigentliche Lektionen, um die Liebe zu
demokratisieren, dh. zu verbürgerlichen, und daraus ein pures - eben
romantisches - Gefühlsereignis zu machen.
Ich finde dieses Thema hochinteressant und habe mir vorgenommen, in nächster
Zeit mal einen Artikel darüber zu schreiben. Ich möchte mir das wirklich mal
näher anschauen.
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Kurz und gut, Du brauchst nicht weg zu zensieren. Was ich von Dir denke, das
betrifft ohnehin nur Deine Persona, nicht Dich selbst. Wer Du bist, wie kann
ich das denn wissen?
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Und damit ist bewiesen: es gibt nicht nur Lust- oder Pflichtmails, es gibt
auch Denkmails. Und dann gibt es vielleicht auch noch Tagebuchmails. Sie
sind, wenn ich richtig sehe, vielleicht alte Nachfahren jener Zeit im
vorletzten Jahrhundert, als man noch die Zeit und Musse hatte, Tagebuch zu
schreiben.
*
Ich wünsche Dir einen schönen Tag.
Mit lieben Grüssen
...