Liebe Marlena
Richtig, die zwei letzten Tage waren wild. Ich habe mich wirklich in den
Hintern gekniffen und versucht, die vielen Dinge, die hier herumliegen, zu
ordnen und soweit möglich zu erledigen. Man gewöhnt sich all zu leicht
ans Bummeln im Büro, denn es kommen tagtäglich soviele Informationen
und Broschüren und Berichte und Schreiben, dass man immerzu damit
verbringen könnte, sie zu lesen, sie zu überlegen und sie zu kommentieren
und zu überarbeiten. Und am Abend hat man alles in allem nichts getan,
oder man hat 9 Stunden gearbeitet, je nachdem, wie man die Sache
betrachtet.
Und wenn ich hier zum Fenster hinausschaue, dann sehe ich hinüber an ein
älteres Haus linkerseits. Früher war das eine traditionelle Wirtschaft, wie
wir es nannten, also ein Restaurant im traditionellen Stil, wenig Besucht,
und wenn, dann von eher einfachen und etwas merkwürdigen Gestalten.
Ein ehrbarer Bürger (gibt es so was noch heute?), ein ehrbarer Bürger
würde kaum ins Restaurant Schweizerhaus gehen. Denn alles schaute von
aussen etwas heruntergekommen aus. Aber dieser Name, Restaurant
Schweizerhaus ist um die rechte Ecke, zum Wasserturmplatz hin, mit klaren
altdeutschen Buchstaben immer noch gross an die Wand geschrieben. Die
Fenster sind mit hölzernen olivegrünnen Fensterläden ausgestattet, und auf
den Simsen stehen Kisten mit leuchtend roten Geranien. Sieht also nach
echtem Schweizer Volkstum aus. Doch auf der Seite zur Strasse wurde über
der alten Eingangstüre ein kleines Vordach an die Wand geklebt. Es ist
gewölbt, wie an einer Pagode. Rechts davon hängt ein Schild mit der
Aufschrift China Restaurant Guang Dong. Und an der Ecke ragt eine Art
Laterne in den Platz hinaus, nachts beleuchtet, mit der Inschrift Ziegelhof.
Das ist das Bier, das hier im Ort selbst gebraut wird. Du musst wissen, dass
für lange Jahre einige grosse Bierbrauereien sich die Schweiz aufgeteilt
haben. Da gab es Cardinal in der französischen Schweiz, auch im Wallis.
Feldschlösschen herrschte in der Gegend hier und im Raum Zürich vor.
Die Innerschweizer schworen auf Eichhofbier und die Bündner auf Callanda.
Bestimmt gab es noch zwei oder drei grössere Namen und daneben auch ein
paar lokale Untertropfen. Kurz und gut, du konntest blind durch die Schweiz
wandern und anhand des Geschmacks des Bieres bloss wusstest Du, in
welchem Raum du dich befandest. Natürlich hättest du dir dabei die Ohren
verschliessen müssen, denn anhand des Dialektes der Leute hättest du
deinen Standort noch viel genauer heraushören können.
Hier also mit einem breiten Baslerdialekt das Ziegelhof Bier. Es schmeckt
nicht so gut wie Cardinal, an welches ich mich in frühen Jahren meines
Lebens ohne grosse Widerstände und mit Hingabe gebunden habe.
Cardinal schmeckt einfach einmalig. Das mag damit zusammen hängen, dass
die Walliser Sommer so trocken und so heiss daherkommen. Denn, wenn
Hunger der beste Koch, dann ist Durst der beste Bierbrauer.
Doch ich war bei unserem Schweizerhaus vis à vis, und bei dessen
Multikulti-Fassade. Es ist zum Heulen, wenn du das siehst. Und dabei ist
das Restaurant heute besser geworden, als es damals, in den letzten Jahren
gewesen ist. Ich war etwa zweimal dort. Und neben anderen Chinesischen
Küchen schmeckt es eigentlich recht gut und differenziert.
Nun, weshalb ich Dir so ausführlich über mein Vis à vis erzähle, das hat
seinen Grund im ersten Stock. Dort ist, gleich rechts über dem
Pagodendächlein, ein Fenster. Linkerseits ist der Vorhang
zurückgeschlagen. Und dahinter steht ein Käfig mit Kanarienvogel oder
Wellensittich. Das Gitter glänzt golden im Sonnenlicht. Na ja, den Vogel
sehe ich nicht genau, dazu müsste ich ein Fernglas ins Büro mit bringen.
Ich meine, er sei blau, aber ich kann mich täuschen. Doch bin ich sicher,
dass sich dort tagein tagaus ein kleiner Wellensittich in der Sonne räkelt.
Die alte Frau besorgt ihm gelegentlich frische Luft, indem sie das Fenster
öffnet und eine Weile auf den Platz hinunter schaut. Die übrige Zeit überlässt
sie ihm die Sicht. Und wenn ich ihn sehe, dann denke ich an Euren Kaddaffi.
Wenn ich jetzt eine Kamera hätte, wie Du sie hast, dann würde ich Dir ein
Bild dieses Platzes schicken. Das hast du mal gewünscht. Und man sieht
wieder, wie sehr ich mit meinen Pflichten und Aufgaben weit abgeschlagen
im Rückstand liege. Ich tue mehr Dinge, die niemand von mir erwartet, als
dass ich jene Obliegenheiten wahrnehme, von denen alle denken, sie wären
meine Aufgaben. Das war schon so an der Universität. Ich habe immer die
Bücher gelesen, die nicht in aller Munde waren, während ich die offizielle
Pflichtlektüre oft meinen Kollegen überliess. Ich dachte mir, darüber würde
man ja dann ohnehin diskutieren, weil alle sie gelesen haben. Und so würde
ich auch noch in den Genuss dieser Information kommen. Du siehst, ich bin
Spezialist für Alternativprogramme, für Insider-Tipps, für
Ausnahmeerscheinungen und Abwegigkeiten.
*
Bob Dylan? Nun ja, ich hab ihn nicht vor Auge, aber er hat bestimmt mehr
Töne von sich gegeben als ich es getan habe. Es ist in Persien aufgenommen
worden. Ich litt damals an der Teheraner Magenverstimmung, die jeden
befällt, der erstmals nach Teheran kommt und bei soviel Durst vielleicht mal
in der Not eine Cola mit Eis zu sich nimmt, oder rohen Salat kostet, was alte
Reiseprofis natürlich geflissentlich unterlassen.
Ich finde, Deine Reaktion auf das Bild war etwas knapp. Und dabei habe ich
nun beinahe ein Jahr lang nach einem Foto gesucht, und kürzlich hat mir
S zufällig dieses eine zugesteckt. Es ist ein Unikat sozusagen, ein
Einzelstück, die Ernte eines Jahres, und Du solltest Dir dessen bewusst
sein. Es ist praktisch nicht mehr als das vorhanden.
*
Jetzt muss ich wieder hinter die Dinge. Es gibt hier noch vieles zu tun.
Heute abend treffen wir die Reisegruppe. S hat ein Mail an alle
geschrieben und mich gefragt, wie sie denn die Anrede schreiben sollte. Ich
habe vorgeschlagen "liebe Angsthasen!". Doch das ist böse. Nein, wir können
sie schon verstehen. Jetzt geht es ums Finanzielle.
Mit einem lieben Gruss
...