Kirche von Raron von oben
Pardon - etwas lang geraten ;-)
Liebe Marlena
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Lass mich dir etwas über Rilke und die Duineser Elegien sagen. Es wäre zwar schöner, das gerade ans Gespräch über das Gedicht "Nachbar Gott" anzuhängen. Ich stelle mir dazu einen Winterabend vor, vielleicht im Wallis, in einem alten Raum mit einem Holzofen. An den kleinen Fenstern glitzern die Eisblumen, weil es draussen kalt ist und der Schnee liegt. Aber hier ist es warm, und wir haben einen goldgelben Schluck Malvoisier, dazu ein paar Nüsse und Käse vielleicht. Ach, ich könnte dir auch einen Marc anbieten, aber das ist vielleicht nicht so dein Geschmack, diese starken Wasser.
Also, meine Liebe, wir waren bei Rilke. Im Dezember 1909 lernte Rilke in Paris die Fürstin Marie von Thurn und Taxis, eine geborene Prinzessin Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst (wow!) kennen. Sie hatte ihn zum Tee eingeladen. Und im Frühjahr 1910 weilte Rilke als Gast der Fürstin auf dem Adria-Schloss in Duino bei Triest. Rilke hatte in Marie von Thurn und Taxis nach der Fertigstellung seines Romans die Aufzeichnungen des Malte laudids Brigge eine hilfreiche Freundin gefunden, die seiner Unruhe, Heimatlosigkeit und Einsamkeit zeitweise ein Asyl bieten konnte. 1911 erhielt er nach einem bewegten und verzettelten Jahr erneut eine Einladung nach Duino. Er antwortete im September 1911: "Welcher Segen, dass Sie mich in Duino verbergen wollen: als ein Flüchtling, wie unter fremdem Namen, will ich mich dort aufhalten, nur Sie sollen wissen, dass ichs bin".
Im Oktober verliess Rilke Paris. Das Auto der Fürstin brachte ihn über die Provence und Norditalien nach Duino. Er war vom 22. Oktober bis zum 9. Mai 1912 ihr Gast. Nach der Abreise der Fürstin blieb er mit wenigen Dienstboten im Schloss, das auf einem steilen Karstfelsen über der Adria steht. Er zog sich einsam zurück und spielte unentschlossen mit dem Gedanken, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. In diesen Tagen des Januars 1912 ergriff ihn ein Zustand, den er später gern als Offenbarung darstellte. Dieses Ergriffenwerden und Inspiriertsein ist nicht nach dem Eros des willentlich und nüchtern betriebenen Arbeitsprozesses verstanden, sondern nach alter platonischer Vorstellung einer göttlichen Sendung des Dichters. Rilke soll auf dem Schloss, wo angeblich schon Dante verweilt hatte, aus dem Brausen des Sturmes die offenbarende Stimme gehört haben:
"Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?"...
Die Fürstin schildert, dass er das Notizbuch, das er stets mit sich führte, hervornahm und die Worte niederschrieb. Und am Abend soll er die ganze erste Elegie niedergeschrieben haben, erinnert sich die Gastgeberin, und ein Brief Rilkes vom 21 Januar 1912 bestätigt es: "Da kommt endlich, liebe Fürstin, um Ihnen immer zu bleiben, das kleine grüne Buch zu Ihnen zurück, höchst eigenmächtig vollgeschrieben mit der ersten duineser Arbeit - für die es genau gemacht war".
Das war der Durchbruch zu einem neuen Werk. Und es führte dazu, dass er dem Arzt seiner Frau, Freiherr Emil von Gebsattel mitteilte, dass er von einer psychoanalytischen Behandlung wieder Abstand nehme. Er wird seine Arbeit als Selbstbehandlung verstehen.
Die schreibende Selbstanalyse schreitet recht erfolgreich voran. Jetzt ist es nicht mehr bloss Eingebung oder Offenbarung, sondern planmässig vorangetriebene Schreibarbeit. Doch der hohe und verpflichtende Stil der gewählten Gattung Elegie als grosser Klagegesang hat inhaltlich noch kein Ziel. Die Preisung und Rühmung der Welt ist noch kein absolutes Thema.
Mit der ersten Elegie hat Rilke die grosse Metapher des "Engels" gesetzt. In dessen Zeichen und Schatten werden die Grundbedingungen des menschlichen Daseins ausgebreitet. Mit der zweiten Elegie tritt der Engel ganz ins Blickfeld. Er grenzt sich gegen die menschlichen Möglichkeiten am Beispiel der Liebe oder unter Erfahrung der Vergänglichkeit und des Todes von dessen Existenz aus. Der Engel bleibt lange das zentrale Medium der Elegien und der Masstab, mit dem Mensch und Welt vermessen wird.
Für seine Aufgabe hat Rilke mit grosser Freiheit an den Traditionen der deutschen Literatur angeknüpft, die von Klopstock und Hölderlin begründet wurden. Die Elegie als eine Form der hohen Lyrik ist bei ihm losgelöst von alten Formkriterien. Er sucht einen wehmutvoll klagenden Grundton in weiten, gelegentlich abgebrochenen Satzbögen, einen Kult der Langzeilen, von denen jede als ein subtiler Balanceakt gelten darf. Die eigenwilligen Schwingungen, die freie Rhythmik und die kühn verschränkten sprachlichen Neubildungen, Bilder und Metaphern schafft Rilke nicht zuletzt durch ein formales Mittel, das er meisterhaft einzusetzen weiss: das Enjambement. Gegen alle Tradition verwendet er den sogenannten Zeilensprung - sonst eher die Ausnahme - das Hinüberführen des Sinn- und Satzzusammenhangs auf exzessive, ja fast provokante Weise. Satz- und Versende fallen selten zusammen, und der Zeilensprung findet sich selbst am Ende einer Strophe, wobei die strophische Gliederung und der Strophenabschluss ihrerseits ausserhalb der Konventionen erfolgen. Rilkes Klagegesang wird so zum Medium der Reflexion.
Im Spätherbst 1913 kam Rilkes Arbeitsphase am Zyklus zu einem Stillstand. Und erst 1921, als er in Schloss Muzot einzog, konnte er die Elegien endlich fortsetzen und vollenden. 1922 im Januar schrieb er an Marie von Thurn und Taxis: "Meine theuere Fürstin, so steht, mit Ihrem gütigen Neujahrs-Gruss, wieder einmal Duino vor mir, während ich hier beschäftigt bin, den dortigen Erinnerungen so nah als möglich zu kommen, in meiner Einsamkeit, an sie anzuschliessen, sie fortzusetzen - , das Verlorene mindestens in mir wieder aufzubauen!".
Während er also daran ging, die Elegien fortzusetzen, werden ihm unverhofft - so seine Formulierung - durch göttliche Inspiration, die Sonette an Orpheus geschenkt. Bis im Februar 1922 hat er die gesamte Elegiendichtung beendet. Und im Glück der Vollendung sieht er auch für sich selbst, wie im Werk, die Balance zwischen Klage und Jubel gefunden - gelungene Selbsttherapie. So sind die Duineser Elegien ein Balanceakt hohen Stils am Beginn der Moderne. Sie erscheinen 1923 in einer Vorzugs- und einer allgemeinen Ausgabe. 1925 verfasst Rilke in Muzot sein Testament. Am 4. Dezember, zu seinem 50. Geburtstag, ist er allein in Muzot. Am 29. Dezember 1926 stirbt er an Leukämie. Der Arzt der Klinik Val-Mont Dr. Haemmerli: "A 3 heures 30, il levait légèrement la tête les yeux grands ouverts et retombait mort dans mes bras. Il y avait Mme Wunderly et la garde..." Im Sarg wird Rilke aus der Klinik getragen und mit einem Schlitten in eine Kapelle gebracht,wo man ihn aufbahrt, bis er nach Raron überführt wird. Eine totenmaske wird nicht abgenommen, er wird auch nicht gezeichnet oder photographiert. Am 2. Januar: In eisiger Kälte wird Rilke auf dem Bergfriedhof von Raron beigesetzt, wie er es bestimmt hatte. In der Kirche, an deren Aussenmauer das Grab liegt, wird eine stille Messe gelesen. Alma Moodie spielt Bach. Es spricht für den Schweizerischen Schriftstellerverein und die Schweizerische Schillerstiftung Eduard Korrodi: "Ein paar Menschen nur stehen wir am Grab des doch von ungezählten Menschen geliebten Dichters.." Für die Freunde aus der französischen Schweiz ruft René Morax über das offene Grab: "Adieu, grand poète!". Später lässt die Fürstin Taxis durch Freunde einen Lorbeerkranz am Grabe niederlegen: "Au poète incomparable, au cher et fidèle ami".
Lieb wie du bist, hast du mir ein Foto der Kirche von Raron geschickt. Ich glaube, wir hatten genau dieses alte Bild in unserem Literaturbuch im Gymnasium. Es ist schon sehr alt, wie man am Vordergrund sehen kann. Man sieht an die Wand der Kirche, die zum Tal liegt. Das Rilke Grab ist ungefähr zwischen diesen beiden Kirchenfenstern, die man sieht. Es ist ganz einfach, eine Steintafel und ich glaube, ein Rosenstrauch. Ich habe ein schönes Foto vom Grab. Das will ich dir mal schicken, zusammen mit meiner Aufnahme von Muzot.
Vor dieser Mauer ist ein kleiner Hof. Und von dort sieht man hinunter ins Tal. Ich glaube, diesen Ausblick hat Rilke veranlasst, sein Grab dort oben zu wünschen. Der Ausblich ist nämlich wunderbar, zum Beispiel in die Abendsonne hinein, also gegen das Licht. Heute ist zwar das Tal ziemlich überbaut mit Häuser und Strassen. Aber ein bisschen kann man noch ahnen, wie es gewesen sein könnte. Es ist wirklich ein schöner Punkt, und es gibt oft ziemlich Wind dort oben. Liebe Marlena, du wirst deine Haare etwas binden müssen! Ach es ist schön im Wallis. Das Klima warm, die Menschen, diese Provenzalen so lieb und loyal und lebenslustig, und alles ist so nah beisammen in diesem Tal. In der Nacht siehst du rundum Lichter der Dörfer an den Berghängen. Du fühlst dich eingebettet wie in einem grossen Zimmer.
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Vielleicht wartest du auf mein Mail. Vielleicht auch noch nicht. Ich bin froh, dass wir diesen Rilke haben. Er ist ein Kapitel der maladi. Und es ist mir eine schöne Gelegenheit, dieses und jenes wieder einmal nachzulesen.
Ich wünsche dir eine schöne Zeit mit deinen Lieben.
G&K
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