"unser Lischen hat nur geschmunzelt ..."
Subject: Wednesday probably
Liebe Marlena
Vor ein paar Jahren waren wir die ganze Familie für ein paar Tage in Paris, per Eisenbahn von Basel bis in die Gare du Nord, Halbpension in einem Hotel Nähe der ehemaligen Hallen (le ventre de Paris nach Zola), also ziemlich zentral. Es war nicht weit zum Louvre, Gare d'Orsay, Sainte Chapelle und so fort. Doch meine grosse Entdeckung, muss ich dir schon wieder etwas beichten, war das Warenhaus Printemps. Irgendwie geriet ich mit meinen Töchtern in die Abteilung der Spiel- und Sportwaren. Und sie genossen es, alles anzuschauen und die Unterschiede zu einem schweizerischen Warenhaus herauszufinden. Und als wir schliesslich schon etwas müde und durstig waren, entdeckten wir, dass es im obersten Stockwerk ein Restaurant gab. Wir fuhren mit dem Lift hinauf. Das Haus war überigens ein altes Jugendstilhaus, und in der Mitte gab es einen zentralen Hof. Die Stockwerke türmten sich um diesen Hof wie Balkone in die Höhe mit schönen Jugendstilgeländern. Vom obersten Stockwerk konnten wir also hinunter in den Bauch dieses schönen alten Hauses sehen und mit einer „göttlichen" Perspektive die Menschen, also die Kunden dieses Warenhauses, weit unten beobachten. Aber das war noch nicht der „clou", meine Liebe, den ich dir erzählen wollte. Wir suchten nun dieses Restaurant auf und entdeckten dabei, dass es oben auf dem Dach noch eine Terasse gab. So stiegen wir ein Stockwerk höher und erreichten eine schöne, grosse und sonnige Terasse, von wo man einen wunderschönen Ausblick über Paris, die Seine und die Ile de la cité (wie schreibt man das??) hatte. Das war für mich eine echte trouvaille. Seither habe ich mir eingeprägt, dass man sich Paris von den Dächern der grossen Warenhäuser anschauen muss. Und meine belle-soeur (ein schönes Wort, schreibt man es so?) hat das auch bestätigt. Wir werden also, Marlena, darauf kannst du dich verlassen, oben auf Printemps ein kleines Wässerchen trinken und in die Strassengassen von Paris hinuntergucken, bis hinauf zum Arc de Triomphe, mit Sacré Coeur im Rücken, über das Pariser Rathaus hinweg bis hinüber zur Sorbonne und zur Kuppel des Panthéon. Das ganze Panorama ist von dort wunderbar zu sehen.
Nun ja, eigentlich wollte ich dir erzählen, wie ich bei diesem kleinen Aufenthalt mit A. den Louvre besuchte. Meine Frau war mit der jüngeren Tochter irgendwie unterwegs und es ging schon gegen Abend. Ich redete auf A. ein, dass es eine Todsünde sei, Paris zu besuchen ohne den Louvre gesehen zu haben, das sei sozusagen wie ein Big Mac ohne Ketchup oder so. Sie wollte von diesem Louvre gar nichts wissen, fürchtete, es würde öde und langweilig werden. Schliesslich hatte ich sie soweit, dass wir etwa um 1600h, beim heiligen Versprechen, nicht länger als eine Stunde, die Karten lösten und ich sie also in diesen Louvre schleppte. Wir eilten förmlich durch die langen Gänge, wir fuhren Slalom zwischen den amerikanischen Touristen, wir hätten am besten die Inline-Skates mitgenommen, so eilig gingen wir den Klassikern entlang. Bei einigen besonders berühmten, etwa bei der Mona Lisa – wie ich mich erinnere – musste man sozusagen erst die Fliegen vor dem Bild verscheuchen, damit man kurz einen Blick drauf werfen konnte. Die Fliegen entpuppten sich als die mit Fotoapparaten bewaffneten Scharen von Japanern. So habe ich mir mit A. den Louvre angeschaut, in einer knappen Stunde, es war praktisch ein Jogging Parcours. Und heute erinnert sie sich bloss noch an diese kleine Mona Lisa, die hinter dickem Glas und einer Traube von Japanern kaum zu sehen gewesen war. Doch unser Lischen hat nur geschmunzelt, das kann ich dir versichern, angesichts unserer Eile, so wie sie immer schmunzelt, angesichts des Lebenstempos unserer Tage. Jemand (weiss nicht mehr wer) hat einmal geschrieben, er hätte den Eindruck, Mona Lisa schaue ihn an wie seine Frau, wenn er nach Mitternacht heimkomme und behaupte, er hätte noch im Büro gearbeitet. Das hat er – so finde ich – schön und treffend gesagt. Sie lächelt in der Tat irgendwie ungläubig!
Aber im Grunde genommen wollte ich nur auf deinen Vorschlag eintreten, für den Louvre einen Tag zu reservieren. Es können meinetwegen auch zwei Tage sein, obwohl man ja in diesen Museen totmüde wird (und dann den Arm auf die Schulter seiner Freundin legt, um sich etwas abzustützen, wie du hilfsbereiter Weise vorgeschlagen hast), und obwohl es in Paris noch andere Sehenswürdigkeiten zu berücksichtigen gäbe. Schliesslich möchte ich, dass du mir einmal rasch die Sorbonne zeigst. Die kenne ich noch gar nicht und die würde mich sehr interessieren, obwohl ich irgendwo unter meinen alten Fotos eine Abbildung eines schweren klassizistischen Hofes habe, den ich mal in der Sorbonne geknipst hatte. Und gleich daneben habe ich ein Foto aus einer wunderschönen Bibliothek in der Nähe des Panthéon, benannt nach der Stadtheiligen, wenn ich mich nicht irre.
Nun ja, wir sind wieder einmal in Paris gelandet. Das ist unser kleinster gemeinschaftlicher Nenner, wie man in der Mathematik und im Bruchrechnen sagen würde. Unsere Wege führen nicht nach Rom, sondern nach Paris, meine Mausfreundin. Und hat nicht jemand, im Kampf der Konfessionen, gesagt, Paris sei eine Messe wert?, oder eine Sünde?, das weiss ich nun nicht mehr so genau, ist aber im Grunde auch kein grosser Unterschied.
Damit bin ich ziemlich nahtlos und organisch bei Faust und meiner katholischen Schule gelandet. Es ist in der Tat möglich, dass die katholische Mentalität der Grund war, weshalb wir uns nie an die Lektüre des Faust vorgewagt hatten. Ich kann mich noch schwach erinnern, wie uns der Professor (an dieser Schule nannte man damals die Lehrkräfte noch Professor, heute – so glaube ich – nicht mehr) damals mit geteilt hatte, er würde uns den Faust erlassen. Wir waren alle erleichtert und wir hatten den Eindruck, es sei die reine Barmherzigkeit des Lehrers, und nicht der profane und laszive Inhalt des Faust. Na ja, „lasziv" ist ein bisschen dick aufgetragen!
Es ist wunderschön, Marlena, wie du von deinen Jugenderinnerungen sprichst und von den Personen, die dich damals beeindruckt und geprägt haben. Es ist eine richtige Ahnengalerie, die du mir vorführen kannst. Und im Zentrum thront dein Grossvater mit seinen eindrucksvollen violetten Augen. Oder der Wiener Arzt, den du schon früher erwähnt hattest. Die Episode aus dem Zirkus hat mir besonders gut gefallen. Sie zeigt, wie schön es ist, wenn Erwachsene ihren Kindern die Welt zeigen und sie in die vielen schönen, geheimnisvollen und interessanten Bereiche des Lebens einführen können. Dein Onkel muss ein sehr jovialer Mensch gewesen sein mit einem guten Auge für alles Interessante und Aussergewöhnliche. Ich habe diese „Einführung in die Welt" auch immer genossen, als meine Töchter noch kleiner waren. Wir sind einmal in aller Eile und Hals über Kopf einem Heissluftballon nachgefahren, weil ich ihnen ein solches Ungetüm aus der Nähe zeigen wollte. Er landete schliesslich etliche Kilometer entfernt, aber wir konnten diese Landung aus nächster Nähe beobachten. Allerdings kann ich mich auch erinnern, wie ich mich für die Menschen geschämt habe, wenn meine Töchter etwa zufälligerweise in den Fernseh-Nachrichten irgend etwas Schlimmes gesehen hatten und dann wissen wollten, wie es sich damit verhalte. Ich habe mich wirklich geschämt für Kriegsszenen oder Verbrechen oder andere schlimme Sachen. Und es ist wohl genau diese Schamgrenze, die das Fernsehen aufbricht, von der der Mediensoziologe Postman mit seiner These vom „Ende der Kindheit" spricht. Kennst du seine Theorie? Sie ist ein bisschen amerikanisch, das heisst effekthascherisch und simpel. Postman meint: seit der Renaissance gibt es eine Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenen, besonders in der Zeit des Bürgertums seit der französischen Revolution. Die Grenze ist entstanden durch die „Gutenberg Galaxy" (wie Mac Luhan sagt), die Verbreitung der Literalität auf grosse Teile der Menschen in den modernen Gesellschaften. Kinder, solange und soweit sie nicht Lesen konnten, waren in diesen Zeiten geschützt vor den überwältigenden Informationen von Sex and Crime. Die Lesefähigkeit bildete sozusagen erst den Zugang zur Welt der Erwachsenen, war eine Art Zensurgrenze. Heute aber, durch das Bild und durch das Fernsehen vor allem, ist dieser Schutz für die Kindheit nicht mehr aufrecht zu erhalten. Kinder werden heute mit denselben Informationen überschüttet wie die Erwachsenen. Es wird ihnen alles zugemutet. Und in diesem Sinne spricht er, in Anlehnung an Ariès, vom „Ende der Kindheit". Die These Postmans hat schon etwas für sich, auch wenn er eine etwas allzu vereinfachte, eben amerikanische Variante darlegt. Man hat beispielsweise in Krankheitsstatistiken festgestellt, dass heutige Kinder nicht mehr so sehr an den alten, typischen Kinderkrankheiten erkranken, sondern an denselben Leiden, wie die Erwachsenen. Das sind vor allem psychoorganische Leiden und Allergien, im Zusammenhang mit nervöser Belastung. Man kann auch in Kriminalitätsstatistiken sehen, wie die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen langsam verblasst. Die Vergehen von Kindern und Jugendlichen mit Schusswaffen der letzten Jahre in Amerika, aber auch in Europa, weisen in diese Richtung. Das Alter des Drogenkonsums sinkt. Und wenn man früher sagen konnte, die Kinder seien wie kleine Erwachsene gewesen, so muss man heute sagen, die Erwachsenen sind oft ziemlich wie kleine Kinder (Kleidung, Verhalten etc.) geworden. Die Generationen haben sich irgendwie angeglichen. Du hast es auch erwähnt bei den Jugendlichen, die à la americaine schon wie Ehepaare zusammenleben.
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Doch wir haben von deinen schönen Erinnerungen gesprochen. Es macht dich wirklich schön, Marlena, wenn du von diesen Bildern sprichst! Es gibt dir eine Ausstrahlung wie jene von Chagalls Geiger, wie eine Sonnenblume van Goghs, und ich bin sicher, man wird es dir auch physisch ansehen, was ich nun ja aus diesen 2000km nicht feststellen kann (bin leider zu kurzsichtig!!), aber doch schwer vermute.
Ich finde es – nebenbei gesagt – auch eine Pflicht, unseren Kindern von diesen alten Zeiten und ihren Personen zu erzählen. Man soll es zwar nicht übertreiben, denn die Kids haben schnell genug. Aber ein bisschen hören sie doch hin, und wenn sie älter werden, werden sie sich wieder daran erinnern. Das ist auch der Grund, weshalb ich jedes Jahr unseren Familienbrief für alle unsere Bekannten und Verwandten in aller Welt schreibe. Ich erzähle, oder besser, wir erzählen, was in unserem Familienkreis im vergangenen Jahr passiert ist. Das gibt 5 – 10 Seiten jedes Jahr. Und das tun wir jetzt schon seit 10 Jahren. Eigentlich ist es schade, dass wir nicht schon bei Geburt der Kinder angefangen haben, denn es gibt bei kleinen Kindern soviele drollige Vorkomnisse und auch Gespräche, die man leider später wieder vergisst. Insgesamt sind es etliche Papierseiten, die zusammengekommen sind. Und wenn unsere Töchter einmal ausziehen werden, oder heiraten oder was weiss ich, dann werden wir ihnen diese Art Familienchronik mitgeben. Sie sollen sich erinnern! Man soll sich seiner Familie erinnern, das ist eine Wurzel des Selbstbewusstseins. Vielleicht sind es ja nicht ihre wirklichen Erinnerungen, aber es sind Erinnerungsstützen und aides mémoire. Doch im Moment ist der jährliche Brief einfach ein Kontakt mit unseren vielen Bekannten. Vor allem ältere Tanten und Onkel schätzen die Informationen und meine Zeichnungen dazu sehr. Die jüngeren Freunde melden sich gelegentlich oder schreiben eine Karte. Insbesondere wenn man sich nach langer Zeit wieder trifft, hat man das Gefühl, man sei immer irgendwie in Kontakt gestanden und man hat so auch Gesprächsthemen zur Verfügung. Das ist sehr gut, obwohl es jedes Jahr eine Anstrengung ist, diesen Brief zu schreiben und sich auf die Themen (manchmal sogar auf Formulierungen) zu einigen.
Ich muss an meine Arbeit, meine Liebe. Sonst bin ich es, der bloss 80% erreicht. Du erstaunst mich überigens. Ich habe nie und nimmer gedacht, dass Lehrkräfte auf der Gymnasialstufe soviel für ihre Lektionen vorbereiten. Vor allem natürlich in den mathematischen Fächern glaube ich nicht, dass sie das tun. Aber du scheinst ja mit deinen vielen Arbeiten und Preparationen wirklich eine ausergewöhnliche Ausnahme zu sein. Unter all diesen Studienrätinnen und Studienräten, den schwedischen ebenso wie den schweizerischen, scheinst du doch eine echte Musterschülerin zu sein. Ich hoffe, deine Schüler wissen das zu schätzen! Mindestens sie, denn ich tue es nicht sonderlich, angesichts der knappen Zeit, die dir übrig bleibt.
Ich mag dich trotzdem sehr
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