Liebe Malou
Nein, ich bin noch nicht im Wallis und ich habe die kleine Ausfahrt
auch noch nicht geplant. Wenn ich schon fahre, möchte ich schönes
Wetter. Ich finde, das Wallis ist bei schlechtem Wetter wie eine
Dampfkammer. Ich glaube nicht, dass ich diese Enge, die durch eine
tiefe und dichte Bewölkung entsteht, noch lange aushalten würde. Es
gibt zwar im Sommer schöne Situationen, wenn die Nebelschwaden
bis tief herunter hängen. Das kann sehr malerisch sein. Aber natürlich
nicht für einen Touristen wie mich, der einmal im Jahr daherkommt
und alles von der Sonnenseite her sehen möchte.
Nein, das Wallis ist eine Sonnenregion, und so sollte man sie auch
sehen und fotographieren. Was mich noch zögern lässt ist die Frage,
ob ich mit dem Auto oder mit der Eisenbahn losfahren soll. Mit dem
Auto ist es aufwendig. Es ist eine gute 3-Stunden-Fahrt via Bern und
Lausanne. Aber mit dem Auto hätte ich im Wallis die Möglichkeit, in
die Seitentäler hinein zu gehen, kleine Dörfer zu besuchen und die
besten Photo-Punkte aufzusuchen. In der Eisenbahn fährt man ja
eigentlich nur im Eiltempo durch.
Und so würde ich wohl oder übel schliesslich in Brig landen, die
Bahnhofstrasse hinauf schlendern, vielleicht auch noch die
Burgschaft, dieses alte Pflaster unter die Füsse nehmen, auf dem
wir so viele male auf und heruntergerannt waren, und ein paar
Blicke vom alten Kollegium und vom Pensionat, der damaligen
Mädchenschule, nehmen. Ach, ich weiss schon heute, wie sich
das im Herzen anfühlt. Es ist so ähnlich, wie wenn du dich an
einer alten Wunde kratzest. Irgendwie tut es wohl, aber die Wunde
schmerzt auch wieder. Und wenn du dann abends wieder
abreist, hängst du irgendwie in der Luft und bist mehr oder weniger
enttäuscht über all die Dinge und Menschen, die nicht mehr sind. Ich
weiss nicht, ob ich mir soviel Melancholie leisten kann?
Mit dem Auto wäre ich natürlich freier und würde vielleicht eine
kleine Fahrt bis hinauf ins schöne Goms machen. Das ist ein einmalig
schönes Hochtal mit wunderbaren kleinen Dörfern, die noch das alte
Bild erhalten haben mit den Holzbauten. Ich würde vielleicht in der
Nähe Visps hinüber gehen nach Baltschieder, wo am warmen
Sonnenhang praktisch eine neue Ortschaft entstanden ist. Oder ich
würde in Raron aussteigen und hinauf zur Kirche wandern, wo ich
schon in jungen Jahren gerne war, um über das Tal hinweg zu blicken
bis hinunter zum Pfinwald.
Es wäre alles ein bisschen so, wie wenn Du nach vielen Jahren das
Elternhaus wieder besuchst. Du kommst in die alte Stube, alles steht
da wie in einem Traum, du siehst, dass in der Küche noch dieselbe
Ordnung mit denselben Küchengeräten herrscht, und auch in
Deinem Zimmer ist das meiste so geblieben, wie es war. Es ist alles
noch so, wie es damals war, und trotzdem ist es nicht mehr so. Die
Bedeutungen haben sich verändert. Es ist nicht mehr deine Umwelt.
Aber sie hat immer noch deinen Geruch. Mindestens glaubst du, ihn
zu riechen. Ach, es ist wirklich ein merkwürdig melancholisches
Gefühl. Und vor allem denkst du ständig, du würdest irgendwelche
bekannte Menschen treffen. In Brig auf der Strasse, die alten Figuren,
die damals das Zentrum bevölkert haben. Aber nein, keinen einzigen
kennst du. Das macht so ein Gefühl der Irrealität. Du fühlst dich wie
in einem Film, der dir vorspiegelt, du wärst zuhause. Aber all die
Leute, die herumgehen, sind bloss Statisten für deine alte Heimat.
Dabei sind viele von jenen Menschen, die damals bedeutsam waren,
gestorben. Und die Kollegen aus der Schule sind beschäftigt und
kommen nicht auf die Idee, an einem gewöhnlichen Nachmittag die
Bahnhofstrasse auf und ab zu flanieren, um sich alles ganz genau
anzugucken.
Und dann kommen all die Häuser dazu, die neu gebaut worden sind.
Du vermisst die alten Bauten, mit denen du immer noch gerechnet
hast. Und du kannst das alles einfach nicht in solch kurzer Zeit
nachvollziehen, all diese Aenderungen, die gemacht worden sind,
ohne dich (!) anzufragen, ob es auch recht sei. Dies ist die Verletzung,
glaube ich, die man erlebt. Es ist vieles in d e i n e r Landschaft
verändert worden, ohne dass man dich vorher gefragt hätte.
Ach Du siehst, Malou, ein Besuch im Wallis ist ein kompliziertes
Unternehmen. Es ist ähnlich wie die Renovation eines alten Hauses.
Eine solche geht selten ohne Komplikationen ab. Und auch wenn man
sanft renovieren möchte, kommt man oft nicht drum herum, das eine
oder andere herauszureissen und völlig zu ersetzen. Und das Haus ist
nachher nicht mehr, wie es vorher war. Vielleicht ist das die
Anstrengung, die mich erwartet, wenn ich ins Wallis reise. Alle
denken, er macht sich einen schönen, sonnigen Tag. Und dabei
habe ich einen harten Arbeitstag mit Entbehrungen und Schmerzen
und Renovationsarbeiten, so dass der Staub nur so quillt. Da könnte
ich doch hier in der Region Basel bleiben und gemütlich über die
Jurahöhen wandern und in irgend einem Landgasthof einen kalten
Teller essen und ein Bier trinken. Etwa auf der Obetsmatt, wo ich als
Kind in den Ferien hier noch den bekannten Maler Fritz Pümpin des
Baselbietes gesehen hatte.
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Ach Malou, vielleicht mekst Du, dass ich eigentlich Selbstgespräche
führe. Und es ist dabei schon eine kleine Not, das muss ich zugeben.
Es ist das Gefühl der Not, dass man all diese Gefühle und Situationen
nicht ausdrücken kann. Man kann ihnen keine Form geben. Es
schwebt alles in der eigenen Seele, ungesagt, unbearbeitet.