Freitag, 30. April 2010

der Visper


Die Visper Geschichte ist für mich ok. Sie ist wirklich eine merkwürdige Sache. Und ich weiss, dass du vertrauenswürdig bist, meine Liebste. Sonst würde ich dich nicht lieben. Ich schicke dir sogar eine Ansicht der Situation Visps, die du diesem Sarbach weitergeben kannst. Er wird zu Tränen gerührt sein. Und dann fragst du ihn, ob er bei Ansicht dieser Karte ein Glas Fendant oder ein Glas Dôle trinken würde. Er wird dort drüben einen Abend lang heulen und flennen vor Heimweh. Ich kenne die Walliser, die sind so, sie hängen sehr an ihrer Heimat. Ich schicke dir die Karte. Unten, etwas links von der Mitte, ist Visp. Dort geht das Tal hinein. Dann verzweigt es sich wie ein Buchstabe Y. Rechts geht es hinauf nach Zermatt, den berühmten Kurort. Dort ist auch dieser markante Berg am rechten Rand. Das ist das Matterhorn. Die Einheimischen sagen nur "Horu", dh. das Horn. Und links geht das Tal hinauf nach Saas Fee. Dort hat Zuckmeyer gelebt. Auch Saas Fee ist ein schöner Kurort, etwas weniger bekannt und mondän als Zermatt. Saas Fee hat sogar eine unterirdische Bahn den Berg hinauf, die Metro-Alpin. Und unten, parallel zum unteren Kartenrand, verläuft das Rhonetal. Nach rechts kommt man als nächstes nach Raron, das aber auf der anderen Talseite liegt als Visp. Visp liegt sozusagen auf der Schattenseite, Raron auf der Sonnenseite. Dort fangen dann auch die ersten grösseren Rebgebiete an. Ach ich kenne das wie meinen Hosensack.

*

du Allzuschöneallzuferne

Liebe Marlena

Herzlichen Dank für dein Mail. Schön, dass du deinen Charme jetzt zugibst. Du bist wie eine ganz schlaue Schwerverbrecherin. Du gibst immer nur soviel zu, wie man dir schon bewiesen hat. Du wärst eine echt Nummer und gut für den Colombo. Ich mache dich nicht nur ein bisschen ideal für dich, sondern auch für mich. So läuft das nun einmal in der Briefliteratur. Das kann gar nicht anders gehen. Ich glaube nicht, dass etwas an dir mich sehr enttäuschen könnte. Vielleicht wenn du sehr launisch wärst. Oder wenn du einen ganz unförmigen Hintern hättest, so wie sie ihn die Amerikanerinnen manchmal in der Weltgeschichte herumtransportieren. Nein, pardon meine Liebste, das war jetzt sehr salop gesagt im Zusammenhang mit deiner Person. Aber ich wollte es ein bisschen lustig machen. Ich werde das niemals akzeptieren, deinen Vorschlag, uns erst zu treffen, wenn wir keine Hoffnungen mehr haben, wenn wir nicht mehr enttäuscht sein können. DAS KANN ICH NICHT AKZEPTIEREN, meine Liebe. UND DAS WILL ICH NICHT AKZEPTIEREN. Sonst bin ich sehr flexibel und konzessionsbereit, aber hier nicht. Da bin ich hart. Vielleicht hilft das auch nichts, aber ich bin es. Wenn ich keine Hoffnungen mehr habe, dann bin ich nicht nur tot, dann bin ich mausetot. Und dann können wir es vielleicht auch lassen.

*
Ich habe diese Kopfbinden der Universität Uppsala gesehen, die sie bei den Doktorwürden verteilen. Sehen echt komisch aus, wie ein römischer Augustus mit dem Lorbeer auf dem Kopf. Schlicht und komisch. Ich würde mich hüten, Ehrendoktor an einer schwedischen Universität zu werden, wie das Reich-Ranitzky gemacht hat.

*
Du hast mir nicht gesagt, wohin ihr in die Ferien reist. Ist denn das ein Geheimnis? Geht ihr ans Meer oder in eine Stadt? Oder willst du es machen wie bei Prag? Erinnerst du dich, du hast absolut kein Wort darüber gesagt. Nur im letzten Moment, aber auch dann nicht wohin. Du hast etwas von einer Überraschung gesagt. Doch darin habe ich nun überhaupt keine Ueberraschung gesehen. Eine Woche wärst du einfach weg gewesen und ich hätte nichts gewusst, vor allem nicht wo, bis vielleicht eine Woche später deine schöne Karte gekommen wäre. Nein, das ist doch keine Überraschung. Das ist ein kleines Martyrium, weiter nichts. Und die Sache mit Barbaras CDs hätten wir besser organisieren können, wenn deine Informationspolitik nicht gewesen wäre wie die Leutseligkeit des Kremls, oder vielleicht noch die Schwatzhaftigkeit des Nobel-Preis-Kommittees. Da könnte ich jetzt wieder sagen: also sowas, meine Liebste Marlena, das verstehe ich einfach nicht. Du musst doch dem Typen, der im gleichen Boot sitzt, sagen wohin du schwimmen gehst. Ist doch das absolute Minimum. Wir haben den Ausdruck im Deutschen auch: im gleichen Boot sitzen. Wir sind vielleicht bloss nicht so gute Ruderer wie die Schweden.

*

Das ist mein Abendmail, meine Liebste. Ich sende es gleich. Und ich bekränze es mit vielen süssen Küssen, von der Sorte, wie man sie in Paris auf der Strasse finden soll, so mindestens behaupten es die alten Geschichtenerzählerinnen. Geniesse sie, ich habe sie schon genossen. Es werden sozusagen zweimalgebrauchte sein.

KKKKKKKKK

MMMM

SS

H

Valborg


Lieber ...,

Du weißt vielleicht dass der letzte April bei uns gross gefeiert wird. Es ist Valborgsmässo- afton, der Abend an dem man den Frühling willkommen heisst und die Finsternis verjagt. Überall zündet man Feuer an und Männerchöre singen die typischen Lieder, die mich immer so nostalgisch machen wie z.B. "Sköna maj välkommen" oder "Oh, hur härligt majsol ler" (Oh, wie herrlich die Maisonne lächelt). Die Sänger tragen dabei die weissen Sängermützen (sehen aus wie unsere weissen Studentenmützen die man bekommt wenn man das Abitur bestanden hat). Ich liebe diesen Abend und diese Lieder, denn ich bin damit aufgewachsen. Mein Onkel war Sänger in einem Männerchor und sein bester Freund war der Dirigent dieses Chores. So fuhren wir an solchen Abenden von Feuer zu Feuer und ich hörte diese schönen Lieder wieder und wieder. Nachher wurde noch die ganze Nacht "gefestet". Besonders in Uppsala (und auch anderen grossen Universitätsstädten) wird Valborg sehr gross gefeiert. Ich erinnere mich noch gut an solche Abende in Uppsala wo ich im Schein des Feuers die schönen Lieder und die Rede an den Frühling hörte und vielleicht die nähe spürte von jemanden in den ich ein bisschen verliebt war und der dann zu demselben Fest eingeladen war. Alle Studentnationen haben s.g. "gask" an diesem Abend und daneben werden auch viele private Feste veranstaltet. Am nächsten Tag kommt dann noch der grosse "majmiddag" zu dem sich auch alle Professoren und Honoratiores einfinden. Es ist sehr feierlich und alle tragen ihre weissen Mützen, die mit der Zeit immer weniger weiss aussehen (d.h. eine schöne Patina bekommen ) :-)

Hier zu Hause legen wir am Valborgsmässoafton, wenn wir nach Hause kommen eine Platte auf mit den typischen Liedern. Es ist eine alte etwas raspige Platte aber es macht nichts. Im Gegenteil, es hört sich an wie das Knistern des Feuers und macht das ganze noch mehr authentisch.

Nun, also an diesem Abend bin ich noch schnell mit Anna zum Heimatmuseum gegangen um das Feuer anzusehen. Nachher kam noch das übliche Feuerwerk das dieses Jahr sehr imponierend war. Vielleicht hatte man noch Raketen von der Neujahrsfeier übrig. ;-)

Wir blieben nicht so lange, da ich am nächsten Morgen früh aufstehen musste um den Bus nach Prag zu nehmen.

Donnerstag, 29. April 2010

J'ai presque peur, en vérité

J'ai presque peur, en vérité,
Tant je sens ma vie enlacée
A la radieuse pensée
Qui m'a pris l'âme l'autre été,

Tant votre image, à jamais chère,
Habite en ce coeur tout à vous,
Mon coeur uniquement jaloux
De vous aimer et de vous plaire ;

Et je tremble, pardonnez-moi
D'aussi franchement vous le dire,
A penser qu'un mot, un sourire
De vous est désormais ma loi,

Et qu'il vous suffirait d'un geste.
D'une parole ou d'un clin d'oeil,
Pour mettre tout mon être en deuil
De son illusion céleste.

Mais plutôt je ne veux vous voir,
L'avenir dût-il m'être sombre
Et fécond en peines sans nombre,
Qu'à travers un immense espoir,
Plongé dans ce bonheur suprême
De me dire encore et toujours,
En dépit des mornes retours,
Que je vous aime, que je t'aime !

Paul VERLAINE

Dienstag, 27. April 2010

das Wallis - Nostalgie

Liebe Malou
Nein, ich bin noch nicht im Wallis und ich habe die kleine Ausfahrt
auch noch nicht geplant. Wenn ich schon fahre, möchte ich schönes
Wetter. Ich finde, das Wallis ist bei schlechtem Wetter wie eine
Dampfkammer. Ich glaube nicht, dass ich diese Enge, die durch eine
tiefe und dichte Bewölkung entsteht, noch lange aushalten würde. Es
gibt zwar im Sommer schöne Situationen, wenn die Nebelschwaden
bis tief herunter hängen. Das kann sehr malerisch sein. Aber natürlich
nicht für einen Touristen wie mich, der einmal im Jahr daherkommt
und alles von der Sonnenseite her sehen möchte.
Nein, das Wallis ist eine Sonnenregion, und so sollte man sie auch
sehen und fotographieren. Was mich noch zögern lässt ist die Frage,
ob ich mit dem Auto oder mit der Eisenbahn losfahren soll. Mit dem
Auto ist es aufwendig. Es ist eine gute 3-Stunden-Fahrt via Bern und
Lausanne. Aber mit dem Auto hätte ich im Wallis die Möglichkeit, in
die Seitentäler hinein zu gehen, kleine Dörfer zu besuchen und die
besten Photo-Punkte aufzusuchen. In der Eisenbahn fährt man ja
eigentlich nur im Eiltempo durch.
Und so würde ich wohl oder übel schliesslich in Brig landen, die
Bahnhofstrasse hinauf schlendern, vielleicht auch noch die
Burgschaft, dieses alte Pflaster unter die Füsse nehmen, auf dem
wir so viele male auf und heruntergerannt waren, und ein paar
Blicke vom alten Kollegium und vom Pensionat, der damaligen
Mädchenschule, nehmen. Ach, ich weiss schon heute, wie sich
das im Herzen anfühlt. Es ist so ähnlich, wie wenn du dich an
einer alten Wunde kratzest. Irgendwie tut es wohl, aber die Wunde
schmerzt auch wieder. Und wenn du dann abends wieder
abreist, hängst du irgendwie in der Luft und bist mehr oder weniger
enttäuscht über all die Dinge und Menschen, die nicht mehr sind. Ich
weiss nicht, ob ich mir soviel Melancholie leisten kann?
Mit dem Auto wäre ich natürlich freier und würde vielleicht eine
kleine Fahrt bis hinauf ins schöne Goms machen. Das ist ein einmalig
schönes Hochtal mit wunderbaren kleinen Dörfern, die noch das alte
Bild erhalten haben mit den Holzbauten. Ich würde vielleicht in der
Nähe Visps hinüber gehen nach Baltschieder, wo am warmen
Sonnenhang praktisch eine neue Ortschaft entstanden ist. Oder ich
würde in Raron aussteigen und hinauf zur Kirche wandern, wo ich
schon in jungen Jahren gerne war, um über das Tal hinweg zu blicken
bis hinunter zum Pfinwald.
Es wäre alles ein bisschen so, wie wenn Du nach vielen Jahren das
Elternhaus wieder besuchst. Du kommst in die alte Stube, alles steht
da wie in einem Traum, du siehst, dass in der Küche noch dieselbe
Ordnung mit denselben Küchengeräten herrscht, und auch in
Deinem Zimmer ist das meiste so geblieben, wie es war. Es ist alles
noch so, wie es damals war, und trotzdem ist es nicht mehr so. Die
Bedeutungen haben sich verändert. Es ist nicht mehr deine Umwelt.
Aber sie hat immer noch deinen Geruch. Mindestens glaubst du, ihn
zu riechen. Ach, es ist wirklich ein merkwürdig melancholisches
Gefühl. Und vor allem denkst du ständig, du würdest irgendwelche
bekannte Menschen treffen. In Brig auf der Strasse, die alten Figuren,
die damals das Zentrum bevölkert haben. Aber nein, keinen einzigen
kennst du. Das macht so ein Gefühl der Irrealität. Du fühlst dich wie
in einem Film, der dir vorspiegelt, du wärst zuhause. Aber all die
Leute, die herumgehen, sind bloss Statisten für deine alte Heimat.
Dabei sind viele von jenen Menschen, die damals bedeutsam waren,
gestorben. Und die Kollegen aus der Schule sind beschäftigt und
kommen nicht auf die Idee, an einem gewöhnlichen Nachmittag die
Bahnhofstrasse auf und ab zu flanieren, um sich alles ganz genau
anzugucken.
Und dann kommen all die Häuser dazu, die neu gebaut worden sind.
Du vermisst die alten Bauten, mit denen du immer noch gerechnet
hast. Und du kannst das alles einfach nicht in solch kurzer Zeit
nachvollziehen, all diese Aenderungen, die gemacht worden sind,
ohne dich (!) anzufragen, ob es auch recht sei. Dies ist die Verletzung,
glaube ich, die man erlebt. Es ist vieles in d e i n e r Landschaft
verändert worden, ohne dass man dich vorher gefragt hätte.

Ach Du siehst, Malou, ein Besuch im Wallis ist ein kompliziertes
Unternehmen. Es ist ähnlich wie die Renovation eines alten Hauses.
Eine solche geht selten ohne Komplikationen ab. Und auch wenn man
sanft renovieren möchte, kommt man oft nicht drum herum, das eine
oder andere herauszureissen und völlig zu ersetzen. Und das Haus ist
nachher nicht mehr, wie es vorher war. Vielleicht ist das die
Anstrengung, die mich erwartet, wenn ich ins Wallis reise. Alle
denken, er macht sich einen schönen, sonnigen Tag. Und dabei
habe ich einen harten Arbeitstag mit Entbehrungen und Schmerzen
und Renovationsarbeiten, so dass der Staub nur so quillt. Da könnte
ich doch hier in der Region Basel bleiben und gemütlich über die
Jurahöhen wandern und in irgend einem Landgasthof einen kalten
Teller essen und ein Bier trinken. Etwa auf der Obetsmatt, wo ich als
Kind in den Ferien hier noch den bekannten Maler Fritz Pümpin des
Baselbietes gesehen hatte.
---
Ach Malou, vielleicht mekst Du, dass ich eigentlich Selbstgespräche
führe. Und es ist dabei schon eine kleine Not, das muss ich zugeben.
Es ist das Gefühl der Not, dass man all diese Gefühle und Situationen
nicht ausdrücken kann. Man kann ihnen keine Form geben. Es
schwebt alles in der eigenen Seele, ungesagt, unbearbeitet.

Momi.. schon

date 30 May 2005 10:46
subject Momi.. schon


Lieber ...,
Ach, wie lieb von dir mich mit Mails zu verwöhnen. Mit grosser
Freude und einigem Erstaunen habe ich immer wieder deinen
Namen mit dicker Schrift hier gefunden. Aber weisst du, ein wenig
war mir auch wie einem Schiffbrüchigen, der immer wieder grosse
Schiffe in der Ferne vorbeigleiten sieht ohne Möglichkeit mit ihnen
in Kontakt zu kommen. Aber jetzt... :-) Endlich!

Neben mir steht eine Vase mit herrlich duftenden Maiglöckchen. Ab
und zu stecke ich die Nase hinein und sauge den Duft ein. Wie eine
Art Dufttherapie. So was soll es doch geben..? Ich habe sie am
Wochenende gepflückt.
---

Ja, Frankreich hat NON gesagt, und ein bisschen kommt es mir vor
als würden sie "französische Revolution" spielen. Die Anhänger hier
bei uns meinen, es war mehr ein Protest gegen Chirac als gegen die
EU. Die Jugend sagst du? Ich glaube es sind die Linken in guter
Gesellschaft von den Anhängern von Le Pen. Und bei euch reagieren
die Rechten mit Schadenfreude? Die Welt ist wirklich komisch!
*
Mein Finger wird langsam besser. Mehr als der Finger kümmert mich
der Schmerz in Hand und Arm, der nicht nachlassen will. Aber ich
habe doch den Termin beim Arzt heute abgebucht. Oder besser gesagt
bis auf den 8. Juni verschoben. Ich habe genug von diesen sinnlosen
Besuchen, wo sowieso nichts passiert.
Nein doch, ich gehe nicht herum mit obszönen Gesten Der Finger ist
leicht gebeugt und ich habe sogar Mühe ihn richtig auszustrecken.
Verrückt, dass ein einziger Finger so viel Aufmerksamkeit bekommt.
*
Du siehst schon deiner Reise in den Iran entgegen. Ja, es ist klug,
noch nicht die Verwandten zu informieren. Ich finde, jedesmal wenn
man in Richtung Iran schaut wird einem etwas bange. Deine Analyse
ist sehr gut. Ich frage mich was passiert wäre, wenn die Amis den Iran
statt Irak von seiner Diktatur befreit hätten. Möchte gern deine Miene
sehen bei diesen Worten..
*
All die Pflanzen, die ich neulich gekauft habe, stehen noch herum. Ich
werde sie in die Erde stecken müssen.
*
T und auch andere Lehrer haben im Moment Besuch aus Italien. Ein
Schüleraustausch. Und alle sind sich sehr einig: Die Lehrer, die sie
bei sich einquartiert haben, haben ein sehr schlechtes Benehmen. Z.B.
werfen sie sich wie hungrige Wölfe auf die gefüllten Platten.. oder
besser gesagt vielleicht, wie die Heuschrecken in Ägypten und noch
dazu sagt der Gast, nachdem er einen 2½ Kilo schweren Elchbraten
hart angegriffen hat: Es war ausgezeichnet, aber ein italienischer Wein
hätte gut dazu gepasst. L hatte ihm einen französischen Wein dazu
serviert.
Weisst du, sowas schockiert mich sehr, wenn ich sehe wie ungebildet
s.g. "ausgebildete" Menschen sein können. Dich sicher auch.
*
So, nun werde ich mich hier ein wenig beschäftigen. Es gibt eigentlich
ziemlich viel zu tun, vor allem im Garten.

Nochmals herzlichen Dank für all deine schönen Zeilen. Du bist ein
Schatz! :-)

Ich wünsche dir einen schönen angenehmen Tag,
und freue mich bald wieder von dir zu hören.
Mit lieben Grüssen,
Malou

Siehst du..

date 30 May 2005 06:18
subject Siehst du..


Liebe Malou
Ach nein, das macht keinen Spass, schreiben ohne Antwort. Das ist
wie essen ohne Gesellschaft, trinken ohne Trinkkumpan und Sex
ohne Partnerin. Ach, das ist echt trostlos und autoerotisch!
Hier ist Montag. Und bei euch? Erstaunlich, wie wenig es während
der Nacht abgekühlt hat. Ich habe hier Türen und Fenster geöffnet,
um ein wenig frische Luft reinzulassen. Aber man merkt es kaum. Die
Aussenluft ist nicht kühler als die abgestandene Luft in den Räumen.
Das ist nicht immer so. Ich öffne unten die Türe ganz weit und
arretiere sie. Und bei uns oben öffne ich die Eingangstür und in den
hintersten Büros die Fenster. Das sollte eine Kaminwirkung machen.
Aber eben, unten auf der Strasse ist es zu warm.
An sich ist der Himmel bewölkt. Und die Luft ein wenig düppig, wie
wir sagen. Das meint, warme und feuchte Luft, so dass man schon
beim Maschinenschreiben ins Schwitzen gerät. Und in den
Nachrichten hört man, dass die Franzosen die EU-Verfassung mit
NON quittiert hätten. Unsere Rechten hören das mit Schadenfreude.
Na ja, vielleicht ist die EU-Verfassung wirklich noch zu zentralistisch
formuliert. Chirac hört man in Schadensbegrenzung. Er ist schwer
desavouiert. Offenbar waren es vor allem die Jungen, die in die
Opposition gingen. Die Sieger, viele davon Globalisierungsgegner,
trafen sich auf der Place de la Bastille, an diesem symbolträchtigen
Platz. Juncker und Barroso sind irritiert.

Na ja, was rede ich da über Europa. Wir Schweizer sind weit davon
entfernt. Wir sind sozusagen das Lock in der Mitte des Mühlsteines.
Und wir leben ziemlich gut damit. Nächstes Wochenende werden
wir über Schengen abstimmen. Da ist auch noch nicht klar, wie das
Resultat sein wird. Und vorher stimmen noch die Niederländer ab.
Ich glaube, nachdem man gehört hat, was die Franzosen sagen,
werden sie wohl zustimmen. Das ist meine Prognose. Aber ich bin
ja doch kein wirklicher Kenner der Verhältnisse.

Wie lebt dein Finger? Hat er sich gebessert? Ist seine Schwellung
abgeklungen? Ich stelle mir dich immer vor mit diesem steifen Finger.
Ist es nicht der Mittelfinger? Du weisst, dass der gestreckte, steife
Mittelfinger keine sehr noble Geste ist. Das wird in Schweden nicht
viel anders sein wie bei uns. Mindestens hat sich dieses agressive
und unanständige Zeichen in den letzten 20 Jahren herausgebildet.
In meiner Jugend gab es dieses Zeichen noch nicht. Es wird vor
allem von Männern gebraucht. Aber gelegentlich sieht man auch
aufgebrachte Damen, zB. am Steuer.

Rogers Federer ist in Paris eine Runde weiter. Die Damen Schnyder
und Cagliardi sind ausgeschieden. Schnyder kommt hier aus unserer
Gegend, Cagliardi aus Genf. Und Federer wohnt auch nicht weit von
hier. Wir hoffen natürlich, dass er dieses Mal in Paris gewinnen kann.
Er hat offenbar bisher immer Mühe gehabt auf den Sandplätzen von
Roland Garros. Aber dieses Jahr scheint er in ziemlich guter Form.

Du siehst, womit wir uns hier den Alltag versüssen und uns über die
schlimmsten Sorgen und Schmerzen hinwegtrösten. Es hält zwar nicht
lange hin. Aber es tröstet immerhin ein bisschen. Soviel wie ein
kleines, zuckerloses Bonbon.

Soweit also mein Bonbon für dich. Mit Zucker, notabene.
MLG
...

Frühling

Fortsetzung "Künstlerberuf"

Bei uns ist der Frühling durchgebrochen. Der gestrige Tag war ziemlich warm und ich war abends durstig, ohne zu wissen, woher das eigentlich kam. Und viele leiden schon an Heuschnupfen. Und auf der Strasse siehst Du die Jungen ziemlich intensiv küssen. Es wird jedes Jahr intensiver und sie werden jedes Jahr jünger! Nun ja, ich kann mich eigentlich noch ziemlich gut an jene Zeit erinnern. Und wahrscheinlich hat auch uns der Frühling damals das Blut in Wallung gebracht. Wir hatten uns niemals erlaubt, auf der Strasse zu küssen. Aber man stand doch stundenlang an irgend einer Ecke und schäkerte herum. Und man war gut drauf und wusste nicht mal so echt, woher das alles kam. War es vielleicht das schöne Wetter? Und die Erwachsenen, die vorbeigingen, schauten mit einem gewissen Verständnis hin. Wussten sie vielleicht, woher das kam, dass man sich so gut fühlte? Na ja, gelegentlich schauten sie auch eher kritisch. Die wussten sie bestimmt, woher das kam.

Ach, Du siehst, ich verstehe sie schon, die Jungen. Und in kurzen Momenten, wie in Rilkes Gedicht vom Panther, sehe ich einen kurzen Moment zwischen den Stäben meines Käfigs durch und fühle ein kleines Stechen, welches man Neid nennen könnte.

Ich wünsche Dir einen schönen Tag
Mit lGuK
...

Valborg in Uppsala


Subject: RE: freitagsvordersitzung
Date: Fri, 30 Apr 2004 09:55:01 +0200


Lieber ...,

Lieb, dass du mir noch vor deiner Sitzung ein paar Zeilen geschrieben hast.

Du spürst mit anderen Worten einen neuen Frühling.. ? :-) Das mit dem leidenschaftlichen Küssen ist eine Wahrheit mit Modifikationen. Man weiss dass man es könnte, aber es fehlt ein passendes Objekt.. *s*

Hier ist ein strahlender Frühlingstag. Fast alle Leute haben sich heute frei gemacht. Nur wir armen arbeiten bis am späten Nachmittag. Eigentlich müsste man an diesem Tag in Uppsala sein. Nirgends sonst feiert man diesen Tag so gross und schön wie dort. Ich zähle die Valborgsfeiern in Uppsala zu meinen schönsten Jugenderinnerungen.

Dies nur in aller Eile gesagt. Ich wünsche auch dir einen schönen Tag.
Mit lieben Gs und Ks,
Malou

Montag, 26. April 2010

armer Künstler ..

den 29 april 2004 07:20
RE: Do-Mo..

Lieber ...,
So früh schon auf?? Ich erinnerte mich an ein kleines Gedicht von Wilhelm Busch, als ich dein mail las.

Es hat mir schon immer gefallen und ist klug ausgedrückt:

"Armer Künstler hat es sauer,
doch Erfolg kommt allgemach!
zeigt sich nur erst ein Beschauer,
folgen wohl die andern nach."

aus Wilhelm Busch "Künstlers Hoffnung"

und die süsse kleine Zeichnung dazu. Weisst du, dass W. Busch sehr schön zeichnen konnte?
Ich schreibe dir später heute mehr. Dies nur als kleine Vorspeise.
LGuK,
Malou

Künstlerberuf

Ämne: RE: Do-Mo
Datum: den 29 april 2004 06:36

Liebe Malou
Nein, Deine Komplimente über meine Bilder betrüben mich absolut nicht. Sie freuen mich und helfen mir, dass ich auch selbst meine Bilder mit weniger strengen Augen ansehen kann. Ich glaube, die Vorstellung, sich als Maler durch das Leben zu bringen, ist ein fantastisches Alternativprogramm. Ich glaube, es wäre ein harter Job. Und man müsste sich seiner Leidenschaft sehr sicher sein. Denn man muss sie auch gegen das Publikum betreiben können.
Aber wir wissen doch, dass das Alternativprogramm in der Phantasie mehr oder weniger dazu dient, dich im normalen Leben bei der Stange zu halten. Versteht man diesen Satz als Fremdsprachlerin? Ich will sagen: es ist leichter, einen Weg zu gehen, wenn man weiss, dass es auch noch einen Umweg gäbe. Auch wenn der Umweg gelegentlich als attraktiver erscheinen würde. Gut gesagt, nicht wahr?
Allerdings muss man sagen, dass es eine Zeit gab, da Maler neben ihrem bürgerlichen Beruf gemalt, und mit internationaler Wirkung gemalt haben. Jan Steen - so glaube ich mich zu erinnern - war ein solcher Typ. Erinnerst Du Dich? Die Holländer sprechen von einem „Jan Steen Haushalt“. Ich müsste von einem „Jan Steen Büro“ reden. In seinen hübschen Genrebilder liegen immer viele Dinge auf dem Boden herum. Ich glaube, er hatte Angst vor der leeren Fläche, eine Art Horror Vacui. Steen hatte einen bürgerlichen Beruf und hat daneben gemalt. Und das war damals wohl eher üblich.
Aber heute ist der Künstlerberuf zu einem intellektuellen Turnprogramm erster Güte geworden. Mindestens für jene Künstler, die vorne mit dabei sein wollen. Alle andern sind Epigonen.
...

Na ja, siehst du..

date 30 April 2005 09:18
subject Na ja, siehst du..


Lieber ...,

Ein Kater, der an meine Winterreifen pisst: Voilà mein Leben in einer
Nussschale. ;-))

Das Begräbnis gestern hat lange gedauert. Aber es waren schöne
Stunden, die wir im Gedenken an Lennart verbracht haben. Normal
kommen mir die Tränen, wenn wir unsere alten Freunde begraben..
aber wenn man an Lennart denkt, hat man sofort ein Lächeln auf
den Lippen. Man kann ganz einfach nicht einsehen, dass ein solcher
Mensch sterben kann.
Und stell dir vor, obwohl er schon seit 8-9 Jahren aus dem Beruf war,
haben ihn 43 Kollegen (noch berufstätige und schon pensionierte)
geehrt. Und natürlich sehr viele andere. Die kleine wunderschöne
Landkirche aus dem 12. Jahrhundert, war bis zum letzten Platz besetzt.

Ich habe mich dann auch noch mit der Schwester und den Söhnen
des Verstorbenen unterhalten. Einer von den Söhnen hat einen
historischen Roman geschrieben und man sagt von ihm, dass er
Anhänger des Asaglaubens sei und er hätte auch sein Kind in deren
Ritualen taufen lassen. Wo doch sein Vater so viel mit der Kirche zu
tun hatte und sein Grossvater Oberpfarrer war in gerade dieser
schönen kleinen Kirche.

Na ja, alle die wir Lennart gut gekannt haben, wissen dass er ein
grosser Schelm war. Es reichte, dass man seine Augen sah, und man
wusste, was er sagen würde..

Heute regnet es ein bisschen. Schade für alle die den Tag (jedenfalls
Abend) im freien bei den Feuern feiern wollen.
Anna ist zu Hause und etwas erkältet.. so habe ich einen Grund zu
Hause zu bleiben. Ich mag nämlich auch nicht solche grosse
Menschensammlungen. Auch fühle ich mich dabei oft wie der Affe. Du
weisst: "Alle kennen den Affen, aber der Affe kennt niemanden". (auch
bei euch ein Sprichwort?)

Nun wünsche ich dir ein schönes Wochenende.
Mit lieben Grüssen
Malou

Sonntag, 25. April 2010

die Alpen

J.M.W. Turner - Die Teufelsbrücke St. Gotthard

Subject: Re: Nur drei Worte... (shorthand ?)


Liebste
Ein schönes Gute-Nacht-Mail hast du mir geschickt. Ich habe es jetzt gerade, zu meinem Morgenkaffee gelesen. Und es ist sehr lieb und schön, und ich hätte auf einem so süssen Kissen wunderbar geschlafen. In Wirklichkeit konnte ich nicht sonderlich gut einschlafen, bin nochmals aufgestanden und habe in einem Buch herumgeblättert: romantische Malerei in Deutschland, Dresdener Schule, Caspar Friedrich. Die phänomenale und einmanlige, fast einzelgängerische Malerei von Turner, der bekanntlich auch in den Schweizer Alpen schöne Sachen gemalt hat. Damals, anfang des 19. Jahrunderts haben die Engländer die Alpen entdeckt und haben angefangen, zu uns in die Ferien zu fahren und Bob Rennen zu veranstalten und Skifahren und so fort. Es waren die Engländer, die die Schweiz als Touristenland entdeckt haben. Vorher waren wir wohl mausarm und abgelegenste Provinz. Mit der Naturschönheit und der Erhabenheit sind neue Dimensionen in die Ästhetik gelangt. Das Schöne und das Erhabene, das einen kleinen ästhetischen Schauder erzeugt, sind die beiden Dimensionen. Wir haben auch einen schönen Schweizer Bergmaler der Romantik, das ist Wolf. Er malt die Berge mit soviel schöner Haltung und mit einer Leichtigkeit, dass man immer wieder erstaunt ist. So wie er möchte ich gerne malen könnte, obwohl das heute ja wohl nicht mehr ganz modern wäre.
*

Samstag, 24. April 2010

eine Geliebte?

Pygmalion und andere Metamorphosen
Sat, 27 May 2000 20:48:39 GMT


Liebste blutrote Marlena
Die Farbe gefällt mir sehr. Da ist was dran, das glüht von innen. Da ist Substanz, auch Kraft und Wärme. Ich finde es ist wunderschön, blutrot, und wenn man dich als blonde Schwedin so anschaut, würde man es vielleicht nicht ahnen. Aber ein bisschen sieht man es schon. ...
*
Deine Frage, ob ich eine Geliebte hätte, hat mich noch den ganzen Tag begleitet. Die Frage hat mich gerührt, weil sie mir zeigt, dass du viele Gefühle für mich hast. Nur dann wird eine solche Frage fällig. Und ein bisschen musstest du dich auch überwinden, es zu fragen. Verstehe ich. Vielleicht auch aus Angst vor der Antwort? Und die Frage hat mich ganz nah zu dir gerückt. So etwas fragt mich nur meine Geliebte oder meine Frau. Was würde ich wohl sagen, wenn S. mich fragen würde. Sie merkt schon was, wenn ich auch in letzter Zeit etwas fröhlicher und aufgeräumter geworden bin zu Hause.
Aber die Frage hat mich noch in einem anderen Sinn beschäftigt. Und zwar so: ich selbst hätte dir niemals im Leben eine solche Frage gestellt. Wenn ich all die schönen Worte und die Liebesgedichte und deine gefühlvollen Sätze mir durch den Kopf gehen lasse, so denke ich, es ist einfach unmöglich, dass du einen Geliebten daneben hast. Und wenn du ihn hättest, so würdest du mir nicht auf diese Art schreiben.
Und so habe ich mir gedacht, wie kannst du denn an mir zweifeln? Meinst du denn, meine Worte sind nur gespielt? Denkst du, ich könne am nächsten Tag dieselben Wort zu einer anderen Frau sagen? Wirken denn meine Worte nicht echt, dass du daran zweifelst. Denkst du denn, ich würde so lange Mails schreiben einfach so dahin, vielleicht daneben noch für andere (ach, ich könnte sie ja kopieren und nur den Namen wechseln!). Ich verwende wirklich sehr viel Zeit, noch mehr als am Anfang, mit dir, meine Liebe. Und daneben habe ich einen Chefjob, wo man etwas mehr als bloss 8,5 Stunden arbeiten sollte. Und dann ist da noch eine Familie. Und ich habe knappe 24 Stunden pro Tag zur Verfügung. Wie stellst du dir vor, eine Geliebte daneben. Ich bin doch kein professionelller Dandy. Vielleicht ein Casanova, der sich nie satt bekommt. Ach, wie du unsicher sein kannst, ist so rührend und so erstaunlich in einem. Das hat mich echt ein bisschen erschüttert. Und ich habe es ins Kapitel Geschlechterrollen gelegt. Ich meine damit, bei den Männern hält man es für möglich, dass sie mehrere Geliebte haben können, bei den Frauen glaubt man das weniger. Und deshalb wolltest du vielleicht sicher gehen und einfach fragen. Oder vielleicht war deine Frage nur ein Zeichen unserer Intimität. Und wenn es eine solche Frage war, dann umarme ich dich, dass dir die Frage nie mehr aufkommen wird. Ich würde sogar weiter gehen, als bloss umarmen, meine Liebe. Ich würde dann wirklich untreu werden. Und ich stelle mir jetzt das blutrote Feuer dabei vor. Weißt du, meine Liebe, manchmal, wenn ich deine Mails lese, ...

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*
So weißt du nun, dass du meine einzige und grosse Geliebte bist. Und damit du sicher bleibst, schreib es irgendwo auf, vielleicht an die Decke? Oder auf die Hinterseite des Pragerbildes? Oder ganz einfach in dein Herz! Weshalb denkst du denn, wollte ich dich unbedingt sehen? Ich wollte bloss wissen, ob ich hier meine Gefühle nicht auf was Falsches verwende.
*
Ich wünsche meiner blutroten Geliebten einen wunderfollen Muttertag, das wünsche ich ihr von Herzen
K
U
S
S
...

Frühling


 Buschwindröschen
Date 28 April 2005 07:26
subject Frühling


Lieber ...,
Es ist wieder ein wunderschöner Morgen. Jedenfalls durchs Fenster
sieht es so aus. Strahlende Sonne und an allen Sträuchern und Bäumen
grosse Knospen, die bald aufbrechen werden. Ach, sie ist so schön
diese Zeit des Wartens.
Und doch, vor meinem Fenster spielt sich im Moment ein kleines Drama
aus. Ein Vöglein kam mit einem Bausch im Mund und wollte ihn in den
Nistkasten legen. Doch dann kam er schnell, wie von etwas gestochen
wieder heraus und sass lange im Kirschbaum damit. Es sah so lustig
aus.. als hätte er einen Schnurrbart à la Nietsche. Und dann sah ich
einen Vogelkopf aus dem Nistkasten herausschaun, sehr lange, bis dann
zwei Vögel herausflogen. Und jetzt ist er wieder da der Kleine mit dem
Riesenschnurrbart.. doch die anderen beiden jagen ihn weg.

Ich muss ein bisschen schmunzeln, denn ich denke, dass ich wohl nun
wirklich eine alte Person geworden bin - nur solche haben Zeit den
kleinen Vöglein zuzusehen zu dieser Zeit am Morgen.
---
Es gibt ein schönes Gedicht von Karin Boye über diese Zeit des Jahres.
Es beginnt so:

Ja visst gör det ont när knoppar brister.
Varför skulle annars våren tveka?

Ja, gewiss, es tut weh wenn Knospen aufbrechen,
warum würde sonst der Frühling zögern?

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Ich wünsche dir einen schönen Tag
MlGuK
Malou

Donnerstag, 22. April 2010

Latein und Zeitzählung

Liebe Marlena
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Ich denke immer, Menschen, die Latein gelernt haben, sind wie ich durch Himmel und Höllen gegangen, die müssen mit mir verwandt sein. Ach, ich erzähle dir ein andermal über meinen Latein-Komplex.
MORIBUS ET FORMA CONCILIANDUS AMOR
Mit seinem Wesen und seinem Aussehen muss man Liebe erringen (Heroides VI 94).
Stell dir vor, ich habe kürzlich ein Taschenbüchlein gekauft "Ovid für Verliebte" Latein - Deutsch. Doch ehrlich, es war damals mehr wegen des Latein als wegen der Liebe. Ich glaube es war vor dem Januar. Weißt du noch, Marlena, wann wir unser erstes Mail hatten (entschuldige, manchmal schreibe ich der Mail, manchmal das Mail. Ich glaube das Mail ist besser. Was findest du?). Um wegen des Vorher-Nachher Klarheit zu schaffen. War es Januar 2000? Ist ein schönes Datum. Wollen wir eine neue Zeitzählung einführen, b.M und a.M, before und after Mail? Ich glaube, wir lassen es besser. Der Shah von Persien wollte das tun und ist dabei schwer auf die Nase gefallen.
Ich wünsch Euch einen schönen Sonntag

Re: die vérité

den 8 april 2000 13:48

Liebe Marlena
Ich nehme an. Sofort kann ich annehmen. Wie könnte ich anders? Da gibt es nicht viel zu zweifeln und hin und her zu überlegen. Ein fettes Hororar! Ein Honorar würde mir schon genügen. Also noch fett dazu, ok, wenn es denn sein muss, auch ein fettes. Und vorausbezahlt, hör ich denn richtig? Alle Freiheiten, ausgenommen den Chat. No problem. Da würde ich nichts vermissen, absolut nichts. Und dazu eine feine Chefin. Na ja, da könnte ein Problem liegen. Also eine solche Chefin, ich weiss nicht. Ich glaube, ich wäre befangen gegenüber einer Chefin, die ich zu sehr mag. Man soll ja das Persönliche und das Geschäftliche nicht zu sehr mischen. Aber ich glaube, bei dir würde ich es mal versuchen. Man darf sich im Leben ja zwei oder drei Dummheiten erlauben. Mehr vielleicht nicht, aber zwei oder drei schon. Deine sozialen Fähigkeiten habe ich ja schon ein bisschen kennengelernt. Ich glaube, du wärst eine faire Chefin. Und ehrlich und offen und nicht schwatzhaft. Du hast alles, was eine erfolgreiche Chefin braucht. Weshalb sollte ich da nicht einen Versuch wagen? Der Nachteil wäre nur, dass man dann nach der Arbeit nicht auch noch zusammen sein kann. Ich denke, wir werden Überzeit machen. Wir werden viel Überzeit machen. Unsere Leute werden staunen, wie viel Zeit wir arbeiten können. Wir sollten nur acht geben, dass wir zum Schluss nicht die Gewerkschaften am Hals haben, weil wir mit unserer vielen freiwilligen Arbeit die Sozialverträge untergraben. Sie würden uns hassen, die Gewerkschaften.
Ich kann es ohnehin besser mit Frauen bei der Arbeit. Es geht auch mit Kollegen, aber mit Frauen finde ich, geht es runder. Ich lobe Mitarbeiterinnen mehr als die Männer, bei denen ich häufiger meckere.
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Also, ich akzeptiere. Wann können wir den Vertrag unterzeichnen? Und wo? Hamburg? Wo ist denn überhaupt mein Arbeitsort? Kann ich frei wählen? Und wenn du mit mir so grosszügig bist, wer übernimmt das allfällige Defizit? Wollen wir uns darin teilen? 50 : 50, wenn wir bancrupt (schreibt man das ungefähr so?) gehen? Dann wandern wir aus, Australien oder meinetwegen Südfrankreich, Cõte d'Azur, die kennst du ja schon ein bisschen. Dort liesse sich gut leben.
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zu nahe

Und heute sollte ich noch einige der Bücher rezensieren, die ich am
Freitagnachmittag geholt hatte. Es war ein spontaner Entscheid
gewesen, als ich über Mittag in einem Kaffee sass und Ideen für ein
paar Zeichnungen entwarf, wie ich von B gebeten worden war. Ich
hatte Glück, die Bibliothek war offen, zum letzten Mal in dieser
Woche. Denn nächste Woche findet hier die Fasnacht statt, und da
ist kein Mensch mehr ansprechbar.
Die Chefin der Bibliothek ist auch vorbeigekommen und hat mich
begrüsst. Ich hatte bei ihr immer den Eindruck, sie habe etwas
Vulgäres an sich. Gestern ist mir aufgegangen, woran das liegt. Sie
tritt mir zu nahe, rein physisch. Wenn wir stehenderweise sprechen,
und wir kennen uns nicht lange, dann kommt sie auf eine Distanz
von unter einem Meter. Und das ist doch schon fast Intimdistanz.
Habe ich selten erlebt, das Frauen sowas machen. Aber ich glaube,
sie hat auch in ihrer Art eine Tendenz, Grenzen nicht zu beachten.
Bei solchen Menschen sollte man wohl etwas vorsichtig sein.
*
Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende im Kreis Deiner Familie.
Mit einem lieben Gruss
...

ein Wunder

Liebe Marlena

A propos Wunder, von denen wir kürzlich gesprochen haben, und wie
es sie in der katholischen Kirche immer noch da und dort ereignen.
Wir haben zuhause ein Wunder erlebt. Ich wollte gleich sagen, 'ein
wahres Wunder', aber das klingt nicht ganz echt, ein 'wahres Wunder'
ist eben gerade nicht ein Wunder in diesem urkatholischen Sinne.
Doch wir hatten eines zuhause. Du wirst es nicht glauben. Und Du
wirst sicherlich behaupten, das Objekt, an dem sich unser Wunder
vollzogen, realisiert und in Szene gesetzt hat, das eignet sich im
Grunde genommen für Wunder ganz und gar nicht. Mag sein, und
dennoch, dennoch ist das Wunder geschehen. Ich werde es vielleicht
in den nächsten Tagen im Vatikan anmelden. Wie bloss muss man
dabei vorgehen? Im Moment ist es bloss ein behauptetes Wunder.
*
Übrigens muss ich Dir mitteilen, dass ich in den nächsten drei
Tagen weg bin. Wir fahren für diese Zeit ... Die zweite Hälfte der
Woche werde ich, so Gott und Allah es wollen, wieder hier sein.
*
Ämne: Willst du ..
Datum: den 8 mars 2003 13:40

mich martern? Ein Wunder annonzieren und dann nich sagen worin es besteht! Darf ich raten? Deine Kaffeemaschine macht Kaffe aus nur Wasser.
Ist es das?
Sag es mir schnell. Kann nicht drei Tage warten.
Liebe Grüsse
Marlena

Erwachende Natur


Ämne: Erwachende Natur
Datum: den 17 mars 2003 19:06

Lieber ...,
---
Du hast von kleinen blauen Blümchen geschrieben. Meinst du Leberblümchen? Die gibt es hier in Mengen im Frühling. Sie sind aber geschont (?). Man darf sie nicht pflücken. Dagegen bringe ich mir öfters einen Strauss von Windbuschröschen, die fast genauso aussehen aber weiss sind, mit nach Hause. Man sieht sie reichlich wachsen am Waldrand. Aber noch werde ich mich ein paar Wochen gedulden müssen.
*

Mittwoch, 21. April 2010

Bruegel

Liebe Marlena
...
Letzte Woche habe ich einen Bildband über Pieter Bruegel erstanden, du erinnerst dich, den Bauern Bruegel, oder der Drollige Bruegel, wie man ihn heisst, Pieter Bruegel der Ältere. Es gibt ja dann noch den Jüngeren und es gibt noch Jan, den Blumen Bruegel, der etwas feiner gemalt hat und zB auch mit Rubens zusammengearbeitet hat. Ich erinnere mich an ein Bild, das sie zusammen gestaltet haben, ich meine, soweit Rubens seine Bilder überhaupt selbst gemalt hat. Er hatte ja eine wahre Fabrik, sagen wir Manufaktur, das klingt etwas höflicher. Er war ein guter Geschäftsmann gewesen, dieser Rubens. Heute wäre er wahrscheinlich ein grosser Video-Produzent, der mit seiner Arbeit steinreich geworden ist. Er hatte eine Nase für die Moden und Vorlieben seiner Zeit, und er hat sie voll genutzt. Aber zurück zum alten Bruegel. Er hat dieses wunderschöne Bild des Turmes zu Babel gemacht, dieses zugleich schöne wie bedrohliche und unheilversprechende Bild. Wie wäre es jetzt schön, dieses Buch zusammen anzuschauen? Hättest du überhaupt Zeit für solchen Luxus? Bruegel ist wohl mit Bosch der originellste Maler des 15. Jahrhunderts, köstlich und flandrisch und witzig, verspielt und mit einer Bauernschläue, wie nur noch der alte Cato bei den Römern. Nein, Cato war nicht verspielt, der war eher tierisch ernst und stockkonservativ. Bruegels Turm ist ja zur Ikone geworden. Und das ist eine grosse Leistung für eine einzige kleine Existenz im 15. Jahrhundert Flanderns.

Ich habe immer geliebt, wie die Holländer ihre Maler lieben und mit ihnen leben. Jedes Kind kennt sie. Und es gibt diesen schönen Begriff eines „Jan Steen Haushaltes". Kennst du die Bilder Steens? Er hat viele Interieurs gemalt und immer sehen sie zwar sehr malerisch, aber eigentlich äusserst unordentlich bis chaotisch aus. Mein Büro ist gelegentlich ein Jan Steen Haushalt, echt, es fehlen nur noch ein paar Hühner und in der Ecke eine Stoffdrapierung. Dann wäre ich ein Jan Steen Hausherr (es ärgert mich, mein Computer macht aus Steen immer Stehen. Er ist wirklich dumm und unverbesserlich starrköpfig, sofern er überhaupt einen Kopf hat!).

*

Oro

Ämne: Oro
Datum: den 2 juli 2003 13:11


Lieber ...,

Immer wieder suche ich nach dir... aber du bist nicht .. wo du sein sollst.... Vielleicht hast du dich einen Tag frei gemacht und bist irgendwohin verschwunden zu einem fremden Abenteuer.

Ich habe gestern, du wirst staunen, das Buch der Unruhe in unserer Bibliothek gefunden. Das hat mich wirklich überrascht, denn ich hatte nicht damit gerechnet. Und noch dazu ganz neu war es. Niemand hat es vor mir geliehen. Nun bin ich glücklicher "Besitzer" dieser Unruhe bis zum 26 August. Und ich werde die Lücken, die du in meinem Leben lässt, mit Unruhe ausfüllen... was ich ohnehin schon tue.. auch ohne Pessoa.

Grüsse dich lieb. Bleib mir treu ;-))
Marlena

monogam

Liebe Marlena
---
Ich habe mich - mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen - erinnert, wie du damals mit viel Ernst betont hast, du seist monogam, eindeutig und endgültig und per saecula saeculorum monogam. Und ich glaube, im nächsten Mail hast du dann noch ein bisschen ausgeführt und gemildert, weil du vielleicht den Eindruck hattest, deine erste Formulierung wäre zu hart gewesen. Ich hatte das Gefühl, du denkst, ich sei beleidigt, weil du so eindeutig gewesen bist. Und ich muss dir sagen, ich habe deine Relativierungen sehr genossen, sie haben mich irgendwie erlöst und getröstet. Doch ich glaube, ich verstehe schon, wenn du sagst, du seist monogam. Es ist natürlich immer auch eine Frage, in welchem Stadium einer Beziehung man sowas sagt. Es ist ja gewissermassen nicht nur eine Aussage zur eigenen Situation in der Welt, sondern auch eine strategische Bemerkung zur Beziehung, in der man spricht.

Ich würde von mir auch sagen, ich sei monogam, obwohl ich im strengsten und naturwissenschaftlichen Sinne das nicht immer war, natürlich "monogam", aber manchmal "untreu" oder nicht immer "treu". Wenn es eine starke Liebe ist, dann kreisen alle Gedanken um diese Person. Dann bewegt sich die gesamte Seele auf dieses schöne Gegenüber zu. Dann entstehen diese Kilometermails. Und ich weiss, dass die Sexualität für uns nur dann wirklich schön und erfüllend ist. Doch auch hier glaube ich, dass wir ein bisschen altmodisch sind, oder dann vielleicht wieder hochmodern. Die Sexualität hat sich in den letzten Generationen infolge der Pille und der Anticeptiva sehr verändert. Die Monogamie qua sexuelle Treue war ein wichtiges Element der bürgerlichen Ideologie, also gute 200 Jahre alt. Sie war teil der Familienideologie (jetzt kommt dein Stück Don't break my heart..., die CD läuft immer wieder), und natürlich vor allem ein Machtinstrument der Männer zur Kontrolle ihrer Frauen. In der Akkumulation von Reichtum, einer Funktion der Familie, ging es darum, zu sichern, dass nur leibliche Nachkommen das Erbe übernehmen können. Da waren Kuckuckseier nicht zu gebrauchen. Heute hat sich die Sexualität weitgehend von der Reproduktion, dh. vom Kinder zeugen, getrennt. Sie hat sich zu einer allgemeinen Sinnlichkeit emanzipiert. Und sie ist durch ihre Präsenz in allen Medien und allezeit und überall aus der privaten Sphäre in die öffentliche gerissen worden. Ich glaube, diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die sex. Treue sich sehr gewandelt hat. Auf der anderen Seite haben Faktoren wie AIDS eine grosse Rolle gespielt.

Ich denke oft an meine Töchter und an das Problem von AIDS. Es ist ungeheuerlich. Wenn wir ihnen sagen, sie dürfen nur geschützten Sex machen, so arbeitet in einer romantischen ersten Nacht dem doch alles entgegen. Wenn man mit jemandem verschmelzen möchte, zum ersten mal im Leben dieses grosse Gefühl erlebt, kann man doch nicht gleichzeitig noch misstrauisch sein gegen diese Person. Es ist doch fast unmöglich! Ich weiss wirklich nicht, wie die Jungen das hinkriegen sollen. Und ich denke, sie brauchen einfach einen starken Schutzengel.

*

Freue dich ..

date 16 December 2004 21:05
subject Freue dich..


Lieber ...,
Wie schön, dass du freie Tage hast. Ich weiss wie sehr man sie
schätzt, wenn man mitten im Berufstrubbel steht. Sicher wirst du
beide deine Wünsche erfüllen können. Ein paar ruhige Tage zu
Hause in Stille und Gemütlichkeit und dann zwei erlebnisreiche
Wochen unter herrlichem Sonnenschein. Ich freue mich mit dir.

Ich muss dir etwas komisches erzählen. Ich habe ein ganz kleines
winziges Bild gefunden, was in einem Automaten von mir gemacht
wurde. Es muss damals gewesen sein, als ich gerade zu meiner Tante
geschickt worden war .. für eine kurze Zeit, wie ich glaubte. Nun habe
ich es mit dem Scanner vergrössert. Und wenn ich das Bild betrachte
werde ich traurig. Weiss garnicht wie das kommt. Ich fühle mich als
hätte ich eine grosse Schuld diesem kleinen Mädchen gegenüber, als
hätte ich ihr Leben nicht richtig verwaltet. Findest du das nicht sehr
komisch? Oder ist es eine normale Reaktion?
Auf dem Bild trage ich ein kleines Tweedmäntelchen und auf dem
Kopf einen etwas dunklen Hut. Ich frage mich, ob Kinder wirklich so
gekleidet waren damals oder ob nur meine Tante nicht wusste, wie
man Kinder anzog. Mein Haar ist in Zöpfe geflochten, die vorn über
den Mantel runterhängen. Und dann sieht man meine ganz hellen
Augen, die so unschuldig in die Welt schauen.

Ach, ich bin sentimental. Übrigens bekomme ich manchmal ein
ähnliches Gefühl., wenn ich kleine Kinder anschaue. So als hätte
ich ein grosses Mitleid mit ihnen, wenn ich daran denke, was ihnen
das Leben antun kann.

Doch Schwamm drüber. Es ist fantastisch, wie schnell man aus einem
winzigen Bild eine Vergrösserung machen kann. Hast du ein kleines
Bild aus deiner Kindheit? Schick es mir, ich meine leihe es mir eine
Weile aus und ich werde dir ein Portrait davon machen. :-)

Schön, dass du noch einmal geschrieben hast.
...

Dienstag, 20. April 2010

Happy end

den 7 april 2000 01:15
Fortsetzung : happy end


Liebe Marlena

Weißt du, wie wunderbar es ist, von dir einen schönen langen Mail zu bekommen? Du bist ein Schatz, wie könnte ich es anders sagen. Du scheinst eine sehr grosse Naturliebhaberin zu sein. Und es ist schön, wie du das erzählen kannst. Ich weiss jetzt allerdings noch nicht so genau, wie ich meinen Baum hätte schneiden sollen. Aber das macht nichts, er ist geschnitten. Ich habe es ein bisschen nach dem gesunden Menschenverstand gemacht. Doch der reicht ja bekanntlich nicht immer aus.
Weißt du, meine liebe Mausfreundin, die Fragen, die ich dir zu meiner Person gestellt hatte, waren irgendwie meine letzte Karte, die ich - leicht übernächtigt - spielen konnte. Ich wollte dich endlich dazu bringen, dass du mir mehr schreibst als die lieben Grüsse. Die Grüsse sind lieb von dir, vor allem wenn ich denke, dass du sie manchmal sogar morgens vor der Arbeit schreibst. Ich könnte dich umarmen dafür. Ich mag deine lieben Grüsse wirklich sehr, aber es genügt mir oft nicht. Und jetzt hast du mir wirklich die vérité und nichts als die vérité erzählt. Ich kann dir verraten, Marlena, die vérités, die wir uns in unserer Jugend an den Kopf geschmissen haben, waren um einiges härter. Deine Wahrnehmung ist ziemlich zutreffend, würde ich sagen, ist natürlich leicht zu sagen, bei den vielen positiven Aspekten, die du erwähnst. Nur einen Punkt muss ich doch etwas verschieben und ins rechte Licht rücken. Wenn ich hier in Basel vor meinen Bekannten behaupten würde, ich wäre ein Latino, dann würden sie lachen und wiehern wie die Pferde. Ein Latino bin ich nun bei weitem nicht. Stell dir meinen Beruf, mein Alter und die Mentalität der Schweizer vor. Nein, Latino, ach Simine wäre vielleicht stolz darauf und begeistert. Ich kann mich zwar sehr gut erinnern, dass ich eine solche Bemerkung gemacht habe. Aber wenn man den Kontext berücksichtigt, meint das dort vielleicht eher einen Gefühlsüberschwang auf einem kühlen Hintergrund. Das klingt jetzt etwas kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Ich glaube, einen grossen Teil des Eindruckes macht das Medium, dh. die Tatsache, dass man sich nicht in die Augen sieht.
Das Bild mit dem Turm, den ich baue, und wo du nur vorsichtig einige Steine beisteuerst, hätte ich ähnlich verstanden, wie du es mir jetzt erklärt hast. Dazu gäbe es natürlich vieles zu sagen. Aber ich habe mir vorgenommen, mich etwas kürzer zu fassen. Weißt du, Marlena, ich bin nun ja vom Beruf her und vom Alter her und von der Lebenserfahrung her auch nicht mehr ganz ein gutgläubiger draufgängerischer Jüngling. Ich habe irgendwo angedeutet, dass ich schon weiss, dass für mich deine Schönheit mit der Distanz zwischen uns zusammenhängt. Es ist Flirt dabei und Nettigkeit. Ich weiss das schon, dass es zum Teil Wahrheit ist und zur anderen Teil Imagination. Doch die ganze Literatur, die wir beide mögen, ist so. Ich bin auch ein Typ, der sich für gewisse Sachen oder Personen sehr begeistern kann. Ich könnte mich leicht, ja, habe ich gesagt, in Saint-Ex vertiefen, einfach weil wir darüber gesprochen haben und weil ich ihn schlecht kenne und weil ich denke, ich könnte über dich etwas darin lernen. Ich kann mich aber auch fürs Modellieren begeistern, für den spanischen Stierkampf oder für ein neues psychologisches Buch. Wenn es denn sein müsste, könnte ich mich sogar für Mathematik oder Physik begeistern. Ich bin wirklich ziemlich vielseitig. Mit dieser sehr intuitiven und gefühlsmässigen Begeisterungsfähigkeit habe ich viel gelernt in meinem Leben, und ich glaube, darin bin ich noch ein bisschen wie die jungen Menschen. Vielleicht muss ich sagen, ich habe sogar noch mehr davon als manche Junge, denn die sind heute gelegentlich schwer zu begeistern.
Ich habe bemerkt, dass du umso zurückhaltender wirst, je mehr ich schreibe. Eigentlich wollte ich dich mit meinen langen Mails auch dafür begeistern, dass du zu erzählen beginnst. Ich glaube, wenn man von schönen Erfahrungen erzählt, ist es so, als ob man sie nochmals erleben würde. Was sage ich? Es ist nicht bloss als ob, es ist WIRKLICH so, für den Körper und für die Seele, es kann noch intensiver sein als damals. Stell dir dein Zirkuserlebnis mit deinem Vater vor. Ist doch schön, das wach zu behalten, und es gibt dir einen Teil jenes behüteten Glückes wieder, das man nur in der Kindheit so haben kann und das nie mehr so kommen wird. So nicht, aber in der Erinnerung. Solche Erfahrungen und Erinnerungen vermehren die positive Substanz, sie machen glücklich, zufrieden und sind - nebenbei - auch sehr gut für die Gesundheit. Da bin ich mir sicher. Und dies ist alles doch irgendwie ein Teil der Serenität, die wir im Leben und durch das Mausleben erreichen wollen. Irgend einmal habe ich gedacht, es sei falsch, dir so viel und so ohne Zensur zu schreiben. Du stehst atemlos und mit dem Rücken zur Wand und siehst diese Fluten vorbeifliessen. Du sagst selbst, es macht dich stumm. Es ist einfach eine Überschwemmung für dich. Du hast zwar immer Begeisterung gezeigt, aber vielleicht war darin auch sehr viel Höflichkeit. Wenn wir diesen Punkt und dessen Erkenntnis in einen § giessen wollen, dann müssten wir irgendwie sagen, wir machen einen Dialog, und nicht einen Monolog. Monologe führen zu nichts Neuem, sie sind repetitiv. Dialoge aber sind inspirativ, oder zumindest können sie es sein.
Also, ich bitte dich Marlena, sprich mit mir, zeige dich, erzähle mir so wie heute. Fang bei dir an. Du musst nicht unbedingt meine Fragen beantworten. Wenn sie wichtig sind, kommen sie wieder. Ich weiss sehr genau, dass es nicht rundum so ist, wie ich es mir vorstelle. Aber ich höre gern, wie es wirklich ist. Und ich glaube nicht, dass ich enttäuscht bin, wenn ich meine Illusionen erkenne. Es sind ja auch viele verbale Gesten im Spiel. Ein oder zwei mal hatte ich den Eindruck, du hälst mich für sehr narzisstisch. Das heisst, du denkst, ich sei sehr schnell beleidigt und ziehe mich zurück. Ich glaube nicht, dass ich so sehr empfindlich bin. Natürlich ist es immer schwierig, sich selbst zu beurteilen. Aber das gehört nun ja auch zu meinem Beruf, dass man nicht überempfindlich sein soll.
Und bei all dem Gesagten möchte ich dir ehrlich sagen: ich bewundere dich, weil ich weiss, dass du eine schöne und eine intelligente Frau bist. Die heutigen (dh. gestrigen) Mails sind so natürlich und gerade und klar und ungekünstelt, das mag ich sehr an dir. Zu deinem ersten Foto, das du mir geschickt hast, habe ich immer wieder gedacht: alle Eltern müssten sich eine solche Schwiegertochter wünschen. Sie zeigt alle wunderbaren Möglichkeiten einer Frau. Und dazu hast du soviel Kenntnisse und Gespür für Rilke. Ich habe nie im Leben jemanden getroffen, der sosehr meine stille Begeisterung für diesen guten Rilke geteilt hat. Und es ist unglaublich, dass du das in einer Fremdsprache erreichen konntest. So bist du meine Schwester im Geiste. Und es ist schön, deine Zitate zu lesen. Wenn es Liebesgedichte sind, dann ist es noch schöner und es kitzelt ein bisschen in der Bauchgegend. Aber es macht natürlich so etwas wie Liebe. Da bin ich mir ziemlich sicher. Und das weißt du als Frau noch besser als ich. Für mich ist das kein Problem. Ich habe deswegen keine Schuldgefühle gegenüber S. oder meiner Familie. Ich kann mit meiner Familie schliesslich auch nicht über Rilke diskutieren.
Doch weißt du, Marlena, angenommen, du würdest nächstes Wochenende auf dem Flughafen Kloten in Zürich landen (was ja nun - weiss Gott - nicht gerade anliegt), und ich würde dich abholen, um dich im Wallis auf Rilkes Spuren herumzuführen (ist doch ein schönes Beispiel gewählt?), ich wäre ein bisschen scheu dir gegenüber, ich wüsste nicht, ob wir uns jetzt sehr förmlich die Hand drücken sollen und ob vielleicht eine französische Begrüssung nicht doch etwas zu gewagt sei. Wir könnten uns zum Anfang vielleicht nicht einmal allzu lange in die Augen schauen. Schliesslich sollte man höflich bleiben. Schreiben kann man vieles, tun ist was anderes.
So nimm denn alle meine Worte zum §5 mit deinem Herzen entgegen. Es sind Worte, klar, aber es ist doch etwas mehr als blosse Worte.
Ich danke dir für die zwei schönen Mails. Sie haben meine Woche gerettet. Und hoffentlich bist du zeitlich dennoch über die Runden gekommen.
Mit einem feinen Küsschen
...

die "vérité"

Fortsetzung "ein Steak?"

Lieber ...,
...
Du möchtest dass ich dich beschreibe und dir die "vérité" sage? Nun, diese kenne ich ja nun sicher nicht ganz aber den Eindruck den ich von dir habe brauche ich dir nicht zu verschweigen. Du bist vielseitig begabt, intelligent, humorvoll, einfühlsam (heisst es so?) und noch einiges mehr. Du hast mir selbst gesagt du seist wie ein "Latino". Nun, was solche Männer sagen nehme ich meistens mit einem Körnchen Salz. Es ist ihre Art und bedeutet eigentlich nichts. Doch weiss ich nicht sicher wie es mit dir ist und so freue ich mich jedenfalls darüber als ob es wahr sei und versuche es dann wieder zu vergessen. :-)
Wenn ich dich anstellen würde? Eines würde ich jedenfalls tun. Immer kontrollieren ob du nicht mit jemanden während der Arbeit chattest. (Wahrscheinlich aus Eiersucht ;-)))

Wenn ich dich schon anstellen müsste dann möchte ich Verlagschef sein. Ich würde dir ein fettes Honorar vorausbezahlen damit du dich dann ganz dem Verfassen widmen könntest und auch mehr Zeit hättest für deine künstlerischen Aktivitäten.
Sag, könntest du denn nicht eine kleine Sonnenbeterin machen. Das würde ich hier eher gebrauchen. Übrigens: mein PC steht natürlich nicht im Garten obwohl ich hier einen schönen Blick auf den Garten habe. Hast du nicht das Bild von Ior gesehen mit der Wolke die gerade über ihm stand? Es war symbolisch gemeint.
Ich glaube auf keinen Fall dass du anstrengend bist für deine Umgebung. Im Gegenteil bist du sicher ein Mensch der immer viel Freude um sich verbreitet. Bin ich übrigens auch :-)
Ich werde dir mal einen Arbeitstag etwas mehr eingehend schildern damit auch du mich vor dir sehen kannst. Ich kann dich schon ziemlich gut bei deiner Arbeit beobachten.

Muss nachsehen ob ich etwas von dir finde. Hoffentlich!!!
Ach ja, ich erinnere mich dass du heute irgendeine Sitzung hast. Schade!

Wünsche dir noch einen schönen Abend
Marlena

Danke für deine süsse Nachspeise! *freu*

Montag, 19. April 2010

Coffee time

Subject: coffee time, mein Schwesterchen
Date: Fri, 19 May 2000 05:35:22 GMT


Liebes Schwesterchen Marlena

Du bist blauäugig, nicht wahr? Wir können doch nicht eine halbe Stunde chatten. Stell dir vor, wenn wir chatten, dann werden es gute 4 Stunden, und kaum eine Minute weniger. Und dann sitzen wir fast fiebrig vor diesem verfluchten Bilschirm und warten und warten und das System schleppt sich dahin wie eine Schnecke und alle die Leute können dumme Sprüche machen, nur unser wichtiger Satz kommt nie. Er kommt einfach nie. Du könntest verzweifeln, er scheint vom System verschluckt worden sein. Und dann, wenn du längst bei anderen Gedanken bist, kommt dieser verfluchte Satz so langsam und fremd wie ein Findling, wie eine Faust aufs Auge, er passt überhaupt nicht mehr, weil du längst bei anderen Dingen bist. Er verwirrt bloss.

Und so etwas unbarmherziges nennen wir kurz Chat.

Tut mir leid, mein Liebes, aber ich war wirklich abwesend gestern. Es hat mir nicht mehr gereicht.

*

Ich hoffe, du hast mir in deiner Sehnsucht ein schönes langes Mail geschrieben. Schau was du hier sagst: ich könnte dir jetzt viel darüber schreiben aber du weißt wie das kommt. Ich weiss, meine Marlena, ich weiss überhaupt nicht wie das kommt. Und du hast keine andere Wahl, denn zu schreiben. ...
*

Etwas hat mich befremdet, ein bisschen verletzt. Du hast in unserer Diskussion um Rom erwähnt, dass du ...
Ach, vielleicht bin ich ungerecht. Beweise mir, dass ich ungerecht bin, mein Schwesterchen.

*

Aber ich will nicht nur reklamieren am Morgen früh, wie ein schlecht ausgeschlafener Ehemann. Das wäre doch schlimm. Nein. Schau meine Liebe, es hat mich gefreut, dass du erstmals GKH geschrieben hast. Du verstehst, was ich meine. Es sind die Nuancen, die wichtig sind. Dieses H hast du vorher nie erwähnt. Die Fantasien von Rom habe ich noch nicht aufgegeben, die Hoffnung schon. Es war auch so merkwürdig, welche Argumente du vorgebracht hast. Du hast gesagt, du kannst nicht weg, deine Familie lässt dich nicht gehen. Ok. Das muss ich akzeptieren, kann ich nicht selbst beurteilen. Dann hast du aber auch angedeutet, dass wir vielleich voneinander enttäuscht wären, dass man - wie soll ich sagen - nicht so einfach miteinander ins Wasser springen kann. Das finde ich, ist eine andere Klasse von Argumenten. Wenn du so denkst, dann musst du die nötigen Bedingungen ausdenken und sagen. Vielleicht ist es zu lange, 3 Wochen. Vielleicht in 2 verschiedenen Hotels. Wir treffen uns nach dem Frühstück und verabschieden uns um 1600h. Und wenn ich dann sehr sympathisch bin und du so von mir begeistert bist, kannst du mir eine Viertelstunde länger geben. Dann geben wir uns unseren Abschiedskuss bei der spanischen Treppe um 1615h. Ich bin doch sehr kompromissbereit. Ach, Marlena, du stehst da wie eine Salzsäule und ich ? Das führt doch zu nichts. Es gibt doch keine Freundschaft, wenn einer sich alles allein ausdenken soll. Das führt eher zum Käfig als zur Freundschaft.

*

Es tut mir leid, dass du so früh aufstehen musstest. Das ist phänomenal und ich bewundere dich. Sowas habe ich seit meiner Gymnasialzeit nicht mehr gemacht. Damals bin ich ab und zu sehr früh aufgestanden, weil ich noch etwas lernen musste und am Vorabend keine Zeit mehr hatte. Aber du in deinem Alter, das ich nun ja überhaupt nicht kenne, das finde ich phänomenal. Ich hätte es am Morgen gerne übernommen, dir einen besonders starken Kaffee zu machen. Damit du auch wieder in die Höhe kommst.

*

Findest du nicht auch, die neuen Anreden Schwesterchen und Brüderchen bringen eine etwas andere Gefühlslage. Es ist doch merkwürdig, wie sehr unsere Gefühle an Worte konditioniert sind. Nein, merkwürdig ist es nicht, aber ich beobachte es hier besonders. Darin liegt ja wohl die Wirksamkeit der Liebeslieder, mit denen du mich immer wieder betört hast, vielleicht sogar nolens volens. Ich von mir aus hätte mich nie in dieses weite heikle Feld hinausgewagt. Ich hätte es mir nicht erlaubt. Aber es ist schön, mein Schwesterchen, mach weiter so. Machen wir nun halt inzestuöse Liebe. Auch gut. Das ist gleichzeitig unschuldig und erotisch und dazu noch illegal. Das ist schon eine dicke Packung.

Schwesterchen, ich habe viele Fragen gestellt. Beantworte mir wenigstens einige.

Du bist mein Schatz, Schwesterchen.

Je dirais que...

den 18 maj 2000 17:44
Je dirais que tu me manques déjà, mon petit frère :-)


Ach, mein liebes Brüderchen, wie schade dass du nicht mehr kommen kannst heute. Ich bin nämlich etwas frei und könnte eine halbe Stunde ;-) mit dir chatten wenn es ginge.
Weisst du, heute hab ich doch schon um 4.30 angefangen und jetzt habe ich ununterbrochen gearbeitet. Und weisst du was ich mir dabei gedacht habe? Wenn ich nach Hause komme, darf ich als Belohnung sofort ins Internet gehen und sehen ob mir mein Schatz ein paar Zeilen geschrieben hat.
Du bist wirklich der liebste Mensch den ich kenne und die Idee mich zu einem Familienmitglied zu machen ist nicht schlecht. Denn Geschwister ist man für immer, da gibt es kein Adieu.

Lys Assia singt:

Für immer, möcht ich bei dir sein,
für immer nur bei dir allein,
mit dir lachen, mit dir weinen
nur dich allein lieben
und alles verzeihn..

Ja, wir lachen und weinen zusammen. Das Weinen habe ich nie mit jemanden getan. Immer nur für mich allein (und seit langem nicht einmal das).
Ich könnte dir jetzt viel darüber schreiben aber du weisst wie das kommt..
Schreib mir doch bitte noch ein paar Zeilen, wenn es geht. Oder komm eine ganz kleine Weile in den ST.
Ich schau bald wieder rein um zu sehen was du dazu sagst.
G + K + H
Marlena

ganz vernarrt

Subject: Que diras-tu ce soir, pauvre âme solitaire
Date: Thu, 18 May 2000 11:09:07 GMT


Liebes Schwesterchen

Ich bin ganz vernarrt in deinen neuen Titel. Ist doch schön, und so unschuldig. Da braucht man sich keine Schuldgefühle zu machen. Was kann denn schon ein kleines Schwesterchen anstellen, vielleicht ein bisschen Zucker klauen oder der Nachbarin eine lange Nase machen?

Und als Schwesterchen gehörst du halt nun zu meiner Familie. (don't break my heart kommt gerade). Ich möchte dir auch unseren Familienbrief von 1998 schicken. Ich habe noch einen gefunden. Gib mir eine Adresse, an die ich ihn schicken kann. Vielleicht auch an das Schulhaus? Ich werde ganz neutral adressieren und keinen Absender drauf schreiben. Ich werde keine Herzchen oder sowas drauf malen. Aber es ist Persönliches über unsere Familie, eigentlich möchte ich nicht, dass ihn sonst noch wer liest ausgenommen du, na ja, vielleicht Anna noch, wenn du es wünschst. Und wenn es zu kompliziert ist, dann lass es mich wissen, dann vergessen wir es.
*
Nun ja, ein bisschen bin ich schon traurig, wegen dieser Römer Geschichte. Aber es ist nicht deine Schuld, und du hast mir auch nie falsche Hoffnungen gemacht. Ich will sagen, deine Informationspolitik war immer sehr korrekt. Vielleicht will ich oft zuviel und zu schnell? Ohne dich kann ich weder nach Rom noch nach Prag. Und Paris schon gar nicht. Es sind schon viele Städte mit unserer Maladi belegt, meine liebe Schwester! Bald muss man nach Afrika ausweichen. Oder eben in den Nahen Osten, in dieses Pulverfass. Ach, ich muss mich ein bisschen lösen von dir.

---

Das ist mein letztes Mail heute. Ich komme nicht mehr dazu diesen Abend. Also zum Frühstück morgen, wenn es reicht.

Ich umarme dich herzlich, mein kleines süsses Schwesterchen.
...

liebes Schwesterchen

Subject: Guten Tag liebes Schwesterchen
Date: Thu, 18 May 2000 05:26:58 GMT

Liebe Marlena
Hier bin ich schon wieder, meine Liebe, nach ein paar Stunden Schlaf. Es ist vor 0600h und gerade dämmert es. Der Himmel ist mit dunkeln Wolken behangen und wir machen uns auf einigen Regen gefasst. Bei der Thermometer Säule hat es heute rot geleuchtet.

Ich bin weniger enttäuscht, als ich erwartet hatte, wegen deiner Absage für Rom. Ich bin froh, dass es klar ist. Ich bin dir nicht böse. Gestern abend habe ich wieder bemerkt, dass du in einer echt schwierigen Situation bist. Aber wir beide wissen auch, dass du sie selbst willst. Also, was kann ich schon tun?

Für mich wäre Rom (oder was immer, man könnte auch was anderes machen) eine Möglichkeit, uns kennenzulernen. Ich weiss auch, dass wir dort nicht einfach wie ein Liebespaar leben könnten, zb im gleichen Hotelzimmer. Das wäre ein bisschen zuviel verlangt für dich und für mich. Ich hatte einfach den Wunsch, zu wissen, mit wem ich in den nächsten 20 Jahren chatten werde. Und wenn ich es denn auch wisse, dann werde ich es auch 20 Jahre können.

Dann habe ich gedacht, Rom wäre für dich eine einmalige Gelegenheit, weil du die Stadt noch nicht gesehen hast... Ich glaube, es ist einfach wichtig, dass es noch etwas anderes gibt als unsere Maladi. Wenn wir uns gesehen hätten und wenn wir enttäuscht gewesen wären, dann wäre immerhin noch Rom geblieben, und alles hätte sich dennoch ausbezahlt.

Dann wollte ich etwas machen mit dir. Das fände ich wunderschön. Und ich tue es immer noch.
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Du siehst, meine Liebste, deine Situation beschäftigt mich, und ich bin immer wieder erstaunt, wie du das alles meisterst.

Klar, ich idealisiere dich ein bisschen, aber das machst du bei mir auch. Am Anfang hatte ich das Gefühl, du würdest mir nur soviele Komplimente machen, damit ich warm bleibe, damit ich dir weiterhin Mails schreibe. Dh. ich hatte den Verdacht, du tust nur so, als ob du mich lieben würdest, du spielst mir was vor. Eigentlich hatte ich gar nicht erwartet, dass du dich verlieben solltest. Aber in der Zwischenzeit habe ich bemerkt, dass du wirklich irgendwie an mir hängst. Und weil ich dich eine echt liebe, aber auch eine begabte und intelligente Person halte, die mir viel zurückgeben kann, so bin ich gerne ein Mailfreund für dich. Anfangs hast du auch kaum etwas geschrieben. Ich habe Kilometermails geschickt und du hast gesagt, du hättest leider im Moment viel Arbeit und keine Zeit und so weiter. Ich habe dir viel von meiner privaten Situation erzählt, und du hast sehr wenig gesagt. Wenn man bloss schreibt, weiss man nie genau, ist es bloss eine Ausrede oder ist es wirklich so. Man merkt erst nach langen Jahren, was echt und was vorgemacht ist. Aber jetzt hat sich das geändert. Und gestern hast du sogar beschlossen, mir ab und zu von Anna zu erzählen.

Weißt du, ich weiss jetzt, dass du wunderhübsch schreiben kannst. Und wenn wir unsere Mailfreundschaft weiterführen, wird noch Routine dazu kommen. Und deshalb denke ich, wir könnten schon gemeinsam was gestalten. Aber vielleicht ist es heute noch zu früh. Wir werden sehen.
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Weißt du Marlena, manchmal denke ich, ich möchte wie ein Bruder zu dir sein. Wir müssen das erotische nicht so stark betonen. Es macht vielleicht diesen holden Schmerz, wie du ihn nennst. Wir haben soviele Gemeinsamkeiten, dass wir uns wie Geschwister irgendwie fühlen können. Das ist doch ein gutes Gefühl. Man weiss, dass man auf der Welt nicht allein ist und wenn man ihn oder sie braucht, ist er da, man kann über alles reden und so fort. Ich bin der ältere Bruder und du bist meine kleine Schwester. Ist das ok? Und ich liebe sie ein bisschen, meine Schwester, wie man auch als Bruder die Schwester beobachtet und merkt, dass sie eine schöne Figur bekommt und dass sie attraktiv ist und dass sie weiblichen Charme hat. Ach nein, das Erotische möchte ich nicht ganz weglassen. Es ist so schön bei dir, wenn wir zusammen flirten können.

Aber ich werde versuchen, nicht mehr zu wünschen, dich zu treffen. Du bist meine virtual sister, ein blosses Bild, wie du mir kürzlich zurückgegeben hast.

Ist es für dich gut so, Schwesterherz. Du hast ein gutes Herz, Schwesterchen. Und darum mag ich dich. Ach, ich erinnere mich, dass du ja einen Bruder hast. Hab ich ganz vergessen. Da fühle ich schon eine kleine Rivalität, aber nur eine kleine.
...
Und einmal, wenn wir alt sind, werde ich meiner Schwester den Turm von Muzot zeigen, und die Kirche von Raron und das Grab, und die Aussicht von dieser Kirche, die so einmalig ist, wenn einem dort oben der Wind an die Kleider geht. Ach, es hat immer Wind im Wallis. Darauf musst du dich gefasst machen. Ich werde ja dann vielleicht kaum mehr Haare haben, im hohen Alter, aber deine werden fröhlich im Winde fliegen.
...

Samstag, 17. April 2010

Pour elle seule, hélas!

In dem Blog "Semsakrebsler", der beste Blog seiner Art und ein
täglicher Freudenspender, gibt es die von Hermann Hesse brillante
Übersetzung des Gedichtes "Mon Rêve Familier" von Paul Verlaine.
Die schwierige Aufgabe, sowohl Klang wie Inhalt des Gedichtes
bei der Übersetzung zu beachten, ist Hesse meisterlich gelungen.

Nach Paul Verlaine

Ich träume wieder von der Unbekannten,
Die schon so oft im Traum vor mir gestanden.
Wir lieben uns, sie streicht das wirre Haar
Mir aus der Stirn mit Händen wunderbar.
Und sie versteht mein rätselhaftes Wesen
Und kann in meinem dunklen Herzen lesen.
Du fragst mich: ist sie blond? Ich weiß es nicht.
Doch wie ein Märchen ist ihr Angesicht.
Und wie sie heißt? Ich weiß nicht. Doch es klingt
Ihr Name süß, wie wenn die Ferne singt –
Wie eines Name, den du Liebling heisst
Und den du ferne und verloren weißt.
Und ihrer Stimme Ton ist dunkelfarben
Wie Stimmen von Geliebten, die uns starben.

Hermann Hesse

Freitag, 16. April 2010

Souveränität der Erzählerrolle

Subject: A la très belle, à la très bonne, à la très chère (3)
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Soll ich dir ein Beispiel zeigen, welches die Souveränität der Erzählerrolle, die Erzählmaske nennt man sie ja auch, zeigt? Man sagt immer, dass der Künstler, der Erzähler, der Maler eine göttliche Rolle einnimmt, indem er wie ein Demiurg eine eigene Welt kreirt. Es ist nicht blosse Abbildung, sondern es ist die Gestaltung, die Kreation einer neuen, einer eigenen Welt. Du hast mir auf wunderschöne Art und Weise vom Fest am letzten Freitag erzählt, als sich das Dach leicht hob, ob der guten Stimmung. Und du hast den Gastgeber herausgepickt, und ihn mir freundlich vorgestellt. Und alle anderen Gäste, ausser vielleicht dich selbst, hast du weggelassen, indem du die elegante Wendung fandest, du hättest sie mir in Gedanken längst beschrieben. Du erinnerst dich sicherlich, denn eine solch schöne Wendung ist nicht unbewusst, sondern gut und bewusst erfunden. Ich habe noch selten jemanden gehört, der so elegant Dinge übergehen kann. Ich meine, du erzählst sie nicht, und trotzdem schliesst du mich ein. Du lässt mich nichtwissend wissen. Du kannst mir nicht alles erzählen, und doch lässt du mich überall dabei sein. Ach Marlena, du darfst nicht sagen, ich mache dich perfekt. Sowas ist einfach perfekt. Das ist so schön und elegant erzählt, ich kann dir kaum ausdrücken, wie mich das berührt. Ich glaube, es ist sehr ähnlich der Art, wie du tröstest. Ich habe so etwas noch nie erlebt in meinem Leben. Vielleicht habe ich es schon von Personen erfahren, aber sicherlich nie bewusst erlebt. Es ist für mich eine wunderbare Bereicherung, und ich bin dahin und meine Liebe wird immer - wie soll ich sagen - gefährlicher. Ich weiss nicht mehr, wie ich meine Seele zurückhalten kann.

glückliche Momente

Subject: A la très belle, à la très bonne, à la très chère (2)
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Ich habe immer noch dein wunderbares Mail von gestern auf der Zunge. Vielleicht war es auch dieses Mail, dass mich heute so früh aufstehen und ins Büro fahren liess, um meiner Liebsten und Schönsten eine baldige Antwort zukommen zu lassen. Ich bin nun mal ein bisschen ein altmodischer Mensch. Und ich mag es, wenn meine Lieben glücklich sind. Und wenn sie unglücklich sind, dann leide ich mit wie die sympathetischen (gibt es so ein Wort?) Bäume, die die Blätter hängen lassen. Ich bin glücklich, wenn ich höre, dass du glücklich bist. Und gestern hatte ich den Eindruck, dass du auch viele glückliche Momente und Seiten in deinem Leben hast. Das war nicht immer so. Ich hatte auch schon die Vorstellung, dass dein halbes Leben Unglück sei, und dass man dich so schnell wie möglich dort oben in diesem nordwärts liegenden Schweden retten müsste, erlösen müsste, wie dies der Prinz mit seiner Prinzessin im Märchen tut, damit sie endlich in Glück und in Frieden lebe.

Deshalb hat mich dein Mail sosehr befriedigt. Und dann kam noch die kleine Message aus dem ST dazu. Ich würde sie wirklich gerne ausschneiden und an die Wand hängen, oder doch mindestens als Buchzeichen in einen schönen Band legen.
...
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Sympatheia

Subject: A la très belle, à la très bonne, à la très chère

Liebe Marlena
Ja, weißt du, die Sache mit dem Verschlafen ist eben so eine Sache. Mach dir nicht zuviel Sorgen. Heute habe ich mich nicht verschlafen. Und so bin ich um 0500 aufgestanden. Die Vögel haben eben gerade angefangen, alle gleichzeitig, so dass man mit Beruhigung annehmen darf, dass sie Mitglieder einer sehr gut organisierten Gewerkschaft seien. Und dann war ich um 0530 schon im Büro. Und auf der Strasse war es noch menschenleer und der Himmel war noch hellblau klar. Aber in den Nachrichten haben sie gemeldet, dass es bis abends regnen würde. Ich komme in B. mit dem Auto bei einer Thermometer-Säule vorbei. Und dort leuchtet entweder ein rotes oder ein grünes Licht. Sie geben nicht den Verlauf des Nikei Indexes an, sondern des Luftdruckes. Das ist die moderne Sympatheia. Weißt du, was die Sympatheia ist? Habe ich mir noch im Latein-Unterricht gemerkt und bis heute behalten. Es ist dieses erzählerische Stilmittel, letztlich die Vorstellung überhaupt, dass die Natur an den Gefühlen der Menschen teilhat. Wenn man erzählt, dass einer so traurig war, dass auch die Bäume ihre Blätter haben hängen lassen, so an seiner Trauer teilgenommen haben, Teil der Trauer waren, dann nennt man das Sympatheia. Und ich habe einmal einen Roman von einem holländischen Autoren gelesen, der mit den Wirtschaftsindices auf ganz ähnliche Weise umgegangen ist. Die Menschen waren guter Dinge, und der Börsenindex stieg, wie damals die Pflanzen und Bäume zuversichtlich und froh sich der Sonne entgegen gestreckt hatten. So ändern sich die Zeiten.
...

Donnerstag, 15. April 2010

damals - und heute

Liebe Marlena
...
Bei uns zuhause in X haben wir immer einen Samstagskaffee gehabt. Und da haben wir ein bisschen diskutiert und sind zusammengesessen. Es war praktisch der einzige Moment in der Woche. Und ich habe das sehr genossen. Wir waren sonst keine diskutierende Familie. Im technischen Denken gab es nicht sehr viel zu diskutieren. Und mein Vater wollte gern Recht haben und behalten. Für Zwischentöne gab es da wenig Raum. Und anschliessend bin ich zum Bahnhof gegangen und habe mir eine Zeitung gekauft und dazu manchmal die kleinen Cigarillos, die ich damals in meinem Übermut noch geraucht hatte. Und wenn ich nicht jemanden angetroffen habe, bin ich in mein Zimmer hinauf gestiegen, mit der schönen Aussicht in die Schneeberge, habe France Inter gehört und Zeitung gelesen und die Beine auf den Tisch hinaufgehievt, wie ich das bei den Amerikanern gesehen hatte. Und habe vom Leben eines Intellektuellen geträumt. An Arbeit habe ich nie im Leben gedacht, wirklich nie. Ich habe mir vorgestellt, ich würde mein Leben lang lesen, schreiben, wieder lesen, in einem Restaurant mein Essen einnehmen, am Stammplatz, versteht sich, als intellektueller Bohémien sozusagen. Eine Büroarbeit von 8 - 12 und von 14 - 17h, nein, das hätte ich mir im Leben nie geträumt. Dass man im Leben Geld brauchte, das war mir wirklich sehr lange entgangen. Ich war wohl ein grosser Träumer, nicht wahr?

Und heute sitze ich im Büro und träume weiter. Gut bezahlt. Das habe ich wohl nicht schlecht gemacht. Aber ich muss aufpassen. Mit diesem neuen New Public Management wollen sie überall Leistungen sehen. Es ist ein Greuel, sie wollen überall Effekte messen. Sie kommen mir wieder mit Technik, wo ich ihr doch noch nicht lange entflohen bin.

*

meine liebe Wand

Halo meine liebe Wand
Liebe Marlena
Ach meine Liebe, Du bringst mich echt in Not. Deine Mails sind
zuckersüss und klitzeklein wie Surfin-Pralinen, aber ich brauch mal
wieder ein echtes breites gepfeffertes Bergarbeiter-Steak, das mir ein
tüchtiges Fundament abgibt. Verstehst du meine Not? Der Turm bröselt
dahin!
With one incentive & intensive kiss
und mach es gut, mein Turmfräulein
Gruss ...

Ein Steak?

Lieber ...!
Ich habe eine etwas längere Mittagspause heute und so werde ich
versuchen (so wie du es tust) einen kleinen Teil meines Mails zu
schreiben.
Die Sonne scheint so schön hier und das Thermometer zeigt (hör
und staune) +26 Grad. Aber das ist natürlich an der Wand auf der
Südseite des Hauses. Sonst ist die Luft noch ziemlich kühl. Ich
wünsche dass ich heute keine Konferenz hätte und endlich die
Bäume beschneiden könnte.
Als wir dieses Haus kauften (neugebaut) ging ich einen "Garten-kurs"
und lernte viel von dem ich früher keine Ahnung hatte. Ich tat es
zusammen mit der damaligen Nachbarin und es machte einen
Riesenspass. Ich glaube der Leiter des Kurses hatte ein spezielles
Auge zu uns beiden jungen lebenslustigen "Mädchen".
Ich hatte übrigens seinen Sohn ein Jahr in Französisch gehabt :-)
Bei dem Kurs lernten wir u.a. wo man was pflanzen kann, wie man die
Erde behandelt, wie man einen Rasen anlegt u.s.w. Das ganze endete
mit einem Tagesausflug mit dem "Gartenverein" zu dem wir uns
anmeldeten.
Es war meine erste Erfahrung von dem Pensionistenleben ;-) Damals
hatte ich noch die Vorstellung dass man, wenn man so um die 60 ist,
nicht mehr zu den lebenden Wesen zählt *lacht* Aber auf dieser Reise
habe ich umgelernt. Schon im Bus herrschte eine sehr gute Stimmung.
Einige der Männer konnten vortrefflich Witze erzählen, andere konnten
sogar Gedichte bekannter schwedischer Schriftsteller in Dialekt vortragen.
Das gibt ihnen ja einen ganz besonderen Reiz .Auf diese Weise wurde es
wie eine kleine Kulturreise.
Alle waren sehr froh gelaunt mit einer Beredsamkeit die man
normalerweise nicht von einem Schweden erwartet. Die Erklärung
bekam ich später. Eine kleine Ausbuchtung ihrer Brusttasche führte
mich auf die Spur. (kleine Flasche mit belebendem Inhalt ;-)
Die Frauen ihrerseits führten Obst aus ihren Gärten mit. Herrlich
saftige Birnen, interessante Apfelsorten u.s.w. die sie uns zum
schmecken anboten. Und alle schienen sich etwas extra zu freuen
darüber dass auch die Jugend an dem Ausflug teilnahm. Ausser uns
beiden war nur noch ein junger Mann dabei, ein "Muttis Söhnchen"
der wahrscheinlich (so glaubte ich jedenfalls) niemals seine Mutter
verlassen würde. Das Ziel unsere Reise war eine wunderschöne
Gegend mit einem Berg wo wir beim Mittagessen auf der Terrasse
die schöne Landschaft bewundern konnten und eine grosse Garten-
anlage wo alles zu finden war,was man so für einen Garten brauchen
kann. Ich konnte es nicht lassen und kaufte zwei kleine Thujen die
wir dann beim Eingang pflanzten. Jetzt sind sie schon über 3 Meter
hoch geworden und sehen majestätisch aus.
...

Mittwoch, 14. April 2010

erste Liebesgeschichte

Liebe Marlena
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Ich habe dir meine erste Liebesgeschichte versprochen, ich glaube nicht, dass ich sie sonst je schon jemandem erzählt hätte. Für dich Marlena mach ich das und ein bisschen auch für mich. Hier ist sie. Sie endet eigentlich ein bisschen traurig. Und sie spielt in L..
Leider kann ich dir nicht sagen, wie sie hiess. Hiess sie Vreni? Es könnte sein. Doch als ich älter war, hatte ich immer eine gewisse Abneigung gegen diesen Namen. Ihren Familiennamen aber weiss ich noch. Sie war damals ungefähr ein Kopf kleiner als ich, hatte wundervolles kastanienbraunes Haar, das hinten zu einem Schwänzchen zusammengebunden war. Mein Leben lang sollte ich dann für solche Schwänze eine Schwäche haben. Fast die ganze Jugendzeit unterschied ich zwischen Kameradinnen mit Schwänzchen und Kameradinnen ohne Schwänzchen. Es grenzte an Rassismus!
Meine Vreni besuchte wie ich die zweite Klasse im grossen Schulhaus bei Frau H. im Zentrum der Stadt L, wo wir damals wohnten. Wir selbst wohnten am Fusse des schönen Schlossbergs, in einem riesengrossen Haus mit einem unendlich weitläufigen Garten, der am Schlosshang auf mehreren Etagen angeordnet war. Hier, im Nachbarhaus, hatte früher einmal der grosse Dichter Frank Wedekind gewohnt. Dessen Vater war um die Jahrhundertwende noch Besitzer des Schlosses gewesen und Wedekind hatte die Schulen im Ort und schliesslich die Kantonsschule von Aarau besucht. Aber Wedekind war ein schwieriger Sohn mit heftigen pubertären Ausbrüchen und wilden erotischen Fantasien. Ich habe mich nie überwinden können, wirklich etwas von ihm zu lesen. Obwohl er im Grunde ein Zeitgenosse Rilkes gewesen ist. Beide lebten sie am Ende des letzten Jahrhunderts. Wahrscheinlich war Wedekind etwas jünger?
Ein Junge mit wüsten erotischen Fantasien war ich nun ja in der zweiten Klasse noch nicht. Mein Problem war allerdings, dass Vreni am anderen Ende der grossflächigen Ortschaft wohnte. Ich wusste damals, als kleiner Zweitklässler, nicht, wo das war. Aber später konnte ich feststellen, dass sie täglich einen ziemlich ähnlich weiten Schulweg zu gehen hatte, wie ich ihn auch ging. Ich musste den alten Markt hinunter, dann über den Kirchplatz und an der Post vorbei, um den kleinen Weg zu erreichen, der dann über den Aabach direkt und geradewegs zum Haupteingang des grossen Schulhauses führte. Das grosse Haus, das man in gut zwei Stunden bestens als Militärkaserne hätte einrichten können, stand erhöht am Ende dieses Weges, der schliesslich über eine Treppe auf dem Schulhof endete. Und wenn man diese hohe und disziplinierte Fassade anschaute, so konnte einem kleinen Zweitklässler schon ein Schauer über den Rücken gehen. Wenn ich heute ein Schulhaus zeichne, so zeichne ich dieses Schulhaus mit dieser monströsen Fassade, die wenig Erbarmen zeigte.
Vreni kam nun aber von der Aarauerstrasse her, von der Hinterseite also, und musste kurz vor dem Schulhaus noch die bewachten Geleise der Seetalbahn überqueren. Die Seetalbahn konnte man oft während des Unterrichtes hören, denn bevor sie diesen Übergang passierte, pflegte sie einen fröhlichen Pfiff in die Luft zu lassen. Und wenn wir im Unterricht der zweiten Klasse sassen und schwer mit Buchstaben und Additionen bis etwa 100 kämpften, so war so ein Pfiff wie ein rettender Beweis, dass es die Welt draussen auch noch gab. Es war wie der aufmunternde Zuruf, dass dieser unendlich lange Vormittag doch irgendwann zu Ende gehen würde, und dass wir dann wieder hinaus in die Welt konnten, um richtig durchzutamten. Es hatte auf diesem grossen Pausenhof riesige rote Buchen, die ja sehr schöne Bäume sind. Und im Spätsommer pflegten diese kleinen Nüsschen auf dem Boden zu liegen, mit den drei Kanten. Man biss sie auf einer seite auf und konnte darin ein wintzigkleines Nüsschen finden. Winzigklein, zugegeben, schmeckte aber prächtig.
Ich mochte Vreni, und ich glaube sagen zu können, dass sie mich auch mochte. Das war schon einmal ein wunderbares Gefühl. Sowas Feines hatte ich bis dahin im Sandkasten und in unserem grossen Garten noch nicht erlebt, diese wunderbare Übereinstimmung mit einem anderen Menschen. Es war das selige Gefühl, dass da ein anderer Mensch war, der ebenso fühlte, der ebenso in die Schule gehen musste, der Ähnliches im Sinn hatte.
Ich war kein besonders guter Zweitklässler. Manchmal war ich etwas Vorlaut. Ich erinnere mich, dass ich der Lehrerin einmal "Viel Vergnügen" wünschte, als sie vorzeitig aus dem Unterricht weg musste. Und sie klärte mich kurz auf, dass diese Formulierung schlecht passte, wenn jemand zu einem Begräbnis gehen musste. Ein mal las die Lehrerin ein Gedicht vor, und wollte uns Kinder fragen, ob wir es auch verstanden hatten. Wir waren etwa 40 Schüler in dieser Klasse. Und keiner hatte es wirklich verstanden. Aber ich hob keck die Hand und gab eine Interpretation. Sie muss ein bisschen eigenwillig gewesen sein. Wenn ich mich richtig erinnere, hat die Miene der Lehrerin nicht angezeigt, dass sie meinen Lichtblick bewundert hätte. Aber immerhin hatte ich den Mut, denn all die anderen 39 sassen mausestill und wollten dieses kleine Gedichtlein (...) Reni und ich üblicherweise noch ein Stück zusammen, obwohl wir ja nun absolut nicht den gleichen Schulweg hatten. Als Gentleman begleitete ich sie in ihre Richtung bis zum Turnplatz. Der Platz war wunderbar. Er war umgeben von Linden und wenn es regnete oder kurz vorher geregnet hatte, so war hier alles tropfnass und klebte, wohin man trat. Auf diesem Rasen verbrachten wir noch ein paar Minuten, oder waren es Viertelstunden? Wir vergnügten uns am Reck, machten Überschläge und hangelten an den Stangen herum, sprangen in die Erdkissen, bis die Schuhe voller Sand waren. Und irgendeinmal, vielleicht nach einer halben Stunde trennten wir uns dann. Sie ging die Aarauerstrasse hinaus mit ihrem kecken Schwänzchen, das lustig hin und her baumelte, in eine unbekannte Welt, die ich nicht kannte. Und ich ging dann eben die Aarauerstrasse hinein Richtung Stadt. Beim Kino konnte ich so noch die grossen Fotoauslagen anschauen. Sie waren schwarz-weiss, aber sehr eindrucksvoll. Man konnte auch sehen, dass die Frauen, mit ihren dunkeln Lippen, ziemlich dick aufgetragen hatten.
So hatte ich mit Vreni eine stille Freundschaft, und wahrscheinlich wusste ausser uns zweien niemand auf der Welt davon. Allerdings, das sollte anders kommen. Einmal, an einem freien Nachmittag schickte mich meine Mutter in die Wisa-Gloria, wo ich unser Dreirad-Velo holen sollte, das man dort wieder in Stand gestellt hatte. Das war eine interessante Aufgabe, fand ich, denn einen solch weiten Weg mit dem Velo zu fahren, das versprach einige Abenteuer. Auf dem Rückweg von der Fabrik mit meinem kleinen Velo nahm ich nicht gleich den direkten Weg. Und irgendwie landete ich in der Nähe der Post. Neben der Post lag zu dieser Zeit ein grosses Lager an Bauholz. Hier wurde irgendwie gearbeitet. Und mein Glück wollte, dass auch Vreni hier war. Meine Erinnerungen um diese Situation sind sehr dunkel. Aber irgendwoe taucht da so ein Licht auf. Und meine kleine Geliebte lud mich ein, mit einem riesigen gelben Lastwagen mitzufahren. Erst später erfuhr ich genauer, dass ihr Vater ein grosses Baugeschäft hatte. Unter seinem Namen fuhren in Lenzburg etliche Lastwagen und Baumaschinen und Walzen umher. Eine solche Einladung konnte ich mir nicht entgehen lassen. So stellte ich mein Velo rasch unter eine kleine Holzbeige und kletterte hoch hinauf in diese riesige Fahrerkabine des laut ratternden Lastwagens. Das war ein strammes Gefühl! Alles rundum war zwar ein bisschen gross und ein bisschen grob, man konnte sich kaum halten, und alles wackelte und vibrierte und lärmte und man konnte kaum hinunter auf die Strasse sehen. Wir zwei Kinder wackelten auf dem riesigen Ledersitz hin und her und rutschten bei jeder Kurve in eine andere Ecke. Vreni gab sich so, als ob sie tagtäglich solche Fahrten unternehmen würde. Sie war aber ganz und gar nicht überheblich, zeigte keinen Ansatz von Überlegenheit, sondern half mir da und dort, informierte mich wie selbstverständlich, zeigte mir dies und jenes. Und ich war einfach Auge und Ohr und schaute diesem Chauffeur zu, wie er auf der schmalen Strasse hoch oben vorankam und schaute in die grüne Landschaft hinaus, die schüttelte und so unwirklich daherkam. Wir fuhren in irgend eine Kiesgrube in der Nähe Lenzburgs. Und ich vergass mich völlig und staunte rundum und - wenn ich ehrlich sein sollte - vergass auch ein bisschen meine Vreni, die galante junge Gastgeberin.
Keine Ahnung, wie lange dieses grosse Ereignis gedauert hatte. Doch als wir wieder zuruckkamen, fand ich mein kleines Velo verbogen und kaputt unter der Holzbeige. Es war nicht mehr zu fahren. Irgendwelche älteren Buben, wohl die aus der berüchtigten Eisengasse, sie mussten es benutzt und kaputtgefahren haben. Ich hatte keine Ahnung, ob dieser Defekt schlimm war oder nicht so schlimm war. Auf jeden Fall war es nicht mehr zu gebrauchen. Ich musste es zu Fuss heimschleppen. Und das war schon ein Stück weg und es hatte bestimmt schon vier oder gar fünf Uhr geschlagen. Klammheimlich versorgte ich den Schrott im Schopf hinter dem Haus, ohne auch nur irgend jemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen. Dass dieses Velo gleich wieder in die Wisa-Gloria zur erneuten Reparatur musste, das stellte meine Mutter erst ein paar Tage später mit Erstaunen und einigem Ärger fest. Man muss annehmen, dass sie mich bei dieser Gelegenheit unter ein hartes Verhör genommen hatte. Doch daran kann ich mich nun ganz und gar nicht mehr erinnern.
Kurz vor Weihnachten in der zweiten Klasse zogen wir dann von L. ins Wallis, in diese wilde Landschaft mit viel Schnee und Häuser mit steinigen Dächern. So habe ich meine Vreni aus den Augen verloren.
Später, viele Jahre später, als meine Mutter bereits tot war, habe ich zufällig in einer Zeitung die Meldung gelesen, dass diese Vreni auf der Aarauerstrasse von einem Auto angefahren und tödlich verletzt worden war. Damals wurden in den Zeitungen noch Namen genannt. Ich war geschockt, diesen Namen in diesem traurigen Zusammenhang wieder lesen zu müssen. Ich, und auch sie folgedessen, muss etwa im Pupertätsalter gewesen sein. Unsere Mutter war gestorben, meine erste Freundin war gestorben. Ich hatte eine zeitlang die Vorstellung, was immer ich liebe, es würde zugrunde gehen müssen.
Das ist ein trauriges Ende. Doch die kleine Liebe war schön und frisch und kindlich vergnügt gewesen.
Erzähl mir bei Gelegenheit von deiner Trauer? Ich bin deswegen ein bisschen in Sorge, obwohl ich keine Ahnung habe, was da zum Vorschein kommen könnte.
Ich wünsche dir eine wunderschöne Zeit mit deinen Lieben, Marlena.
Mit einem schönen Gruss
...