Liebe Marlena
Ach, so ein langer Witz! Er ist gut. Ich habe ihn auch verstanden, was nicht immer selbstverständlich ist. ;--))
Heute war ich nochmals an der 5. Avenue. Samstagsstimmung wie vor einer Woche. Aber diesmal war etwas bewölkt. Bei Tiffany bin ich nicht mehr hineingegangen, sonst wäre ich herausgekommen wie der hired farmer. Oben beim Central Parc ist die 5. sehr elegant. Je weiter man runter kommt, desto gefährlicher wird sie. Ich bin von oben bis unten bis ins East Village heimgewandert. Wahrscheinlich hatte ich zu wenig Energie, eine U-Bahnstation zu suchen.
Meine Erkältung ist ein bisschen besser, aber noch nicht 100%. Aber es wird schon gehen. Ich habe soeben eine knappe Stunde geschlafen. Im Union Square gab es einen Markt, ähnlich wie auf dem grossen Platz in Basel. Sie verkaufen Gemüse und Früchte, Blumen, auch selbstgemachtes Brot und Kuchen. Auch Käse gab es, hübsche kleine Käslein. Ich habe mir ein paar Zwetschgen gekauft. Sie sehen wirklich robust und gross aus, dunkelblau, mit diesem hellen Schimmer oben drauf, den man abreibt, bevor man hineinbeisst. Früchte sind hier ziemlich teuer. Wenigstens jene, die hier in der Nähe angebaut werden. Und die amerikanischen Masse, das wäre ein eigenes Kapitel. Ein lb ist ein Pfund, und ein Pfund ist etwas mehr als 400 Gramm. Das ist wirklich noch altertümlich, was die Amis hier aufbewahrt haben. Heute morgen habe ich mir schon hier im Village zwei Orangen gekauft, um zu etwas Vitamin C zu kommen. Man kauft sie als Einzelstücke, so teuer sind sie. Na ja, es ist eigentlich jetzt nicht gerade Orangenzeit.
Am Morgen kam ich bei St. Marks vorbei. Da waren einige Schwarze vor der Kirche, alle in bester Kleidung. Ich setzte mich auf die Bank, einerseits, weil ich ein bisschen schwach war, andererseits wollte ich die Gelegenheit wahrnehmen, die Situation zu beobachten. Die Gesellschaft war quietschvergnügt. Sie hatten auf der Strasse einen riesenlangen Wagen stehen, so eine Prominentenkutsche, ganz in weiss. Neben mir sass ein alter Ami, etwas ärmlich gekleidet, mit seiner Frau - so nehme ich an - die im Rollstuhl eher vor sich hindämmerte. Er sagte zu ihr, die wirklich nicht mehr ganz wach schien :"I thought it's a wedding .. but there is no groom .. so can't be a wedding". Und dann ist er mit seinem Rollstuhl abgezockt.
Die schwarzen Frauen trugen die knalligsten Farben und die originellsten Schnitte. Ich glaube, sie nähen das selbst. Man sieht das an den Säumen, wie Du sicherlich weisst. Und die Kleider passen ihnen nur ungefähr. Aber die Knallfarben passen gut zu ihren ausdrucksstarken Gesichtern. Die Männer waren dagegen eher ausdruckslos in schwarz. Einer hatte ein seidenes Revers und Hosen mit einem Seidenband an der Seite. Und einen aufgestellten weissen Kragen. Er hat sich wirklich in die Schale gestürzt, sah aus wie ein alter Jazzmusiker. Dazu trug er einen schwarzen Schirm, obwohl die Sonne schien, mit dem er sich in Pose werfen konnte. Er sah gut aus, auch wenn die Hose etwas zu lang war. So standen sie eine Weile herum, liessen sich von Passanten begaffen, plauderten hier und dort und verzogen sich dann allmählich. Ich habe auch keine Braut und keinen Bräutigam gesehen. Vielleicht gibt es hier in Amerika Hochzeiten ohne Hochzeitspaar??
An der 5. Avenue gibt es auch ein Kirchlein. Es ist gebaut wie eine gotische Kapelle. Auch in der Nähe des Institutes gab es eine und unten in der Stadt ist nochmal eine, ich weiss nicht mehr, wie sie heisst. Diese gotischen Schmuckkästlein wirken so zierlich und sakral zwischen den riesigen Gebäuden, dass man sie irgendwie ins Herz schliesst. Vielleicht sind sie ja auch ein bisschen grösser, als sie scheinen, und wirken nur so neben ihren riesigen Nachbarn. Letzten Samstag, so erinnere ich mich, begannen abends die Kirchenglocken zu läuten. Ich hatte zwar den Verdacht, das ganze sei ein Tonband. Es war so laut und deutlich zwischen den Wolkenkratzern. Aber es schuf eine heimatliche und irgendwie feierliche Stimmung.
Also, bei der Kirche an der 5. Avenue war auch eine Gesellschaft. Ich glaube, das waren Philippinen. Sie waren ziemlich gut angezogen und wirkten recht smart. Sie verschwanden dann in der Kirche. Bei einigen Frauen quoll das Fleisch unter den Armen aus den Kleidern. Sie waren alle wohl nur um 160 gross.
Und als ich dann auf diesem Markt in Union Square herumging und Vitamine suchte, da fing es an zu regnen. Das ist neu für mein NY. Die meisten schienen das nicht erwartet zu haben, und die Menge lichtete sich merkbar. Es war ein warmer Regen, und seine Nässe war schwer zu unterscheiden vom Schweiss auf dem Rücken. Ich hatte sogar einen Schirm dabei, von der Schweiz herübergebracht, und war froh darum.
Und dann bin ich die letzten Meter auch noch zu Fuss heim. Ich glaube, so habe ich den ganzen unteren Teil der 5. Avenue gemacht. Ach nein, der letzte Teil war Broadway. Die 5. endet beim Washington Square Park, also bei der Universität NY. Aber ich bin doch ein gutes Stück zu Fuss gegangen. Ich wollte S. ein kleines Geschenk kaufen von der mondänen 5. Avenue und bin in verschiedene Geschäfte gegangen, wo ich mir natürlich eher etwas verloren vorgekommen bin. Irgendwo hat mich eine Verkäuferin angesprochen, eine Mulattin. Sie warf mir ein fröhliches und gedehntes "hey" zu, als ob sie einen Flirt im Sinn hätte. Dann fragte sie mich, wie es mir gehe, aber sie hielt sich irgendwie entfernt, so dass alles ziemlich spielerisch wirkte. Und später fragte sie, ob sie mir helfen könne. Sie schien sehr vergnügt, so vergnügt, dass sich bei einem Schweizer schon fast ein bisschen Misstrauen regt. Ich erklärte, ich wolle nur so herumschauen. Ob ich etwas Spezielles suche. Ich sagte, nein, ich wisse nicht genau, was. Sie lachte wie ein Kind, welches das Osterei gefunden hat, und meinte laut heraus "a present, right?" Es war eine süsse Situation, und alles spielte sich so zwischen Tablaren und Gestellen mit Blusen und Röcken und Strümpfen ab, also eigentlich in einem Territorium, wo man sich als Mann eher in einem Auswärtsspiel empfindet.
Ich habe dann in einem anderen Geschäft einen Hut für S. gefunden. Es war ein italienisches Modell, ganz einfach, ein Sommerhut aus Leinen in einem schönen Rot. Na ja, das beste dran ist, dass er von der 5. Avenue stammt. Ich glaube, sowas gefällt S. Eigentlich alle Dinge, die ich näher anschaute, kamen aus Italien. Das ist mir aufgefallen. Das ist wohl am Geschäft gelegen. Ich habe mir speziell noch eine Business/Card geben lassen, um S. zu zeigen, woher er stammt. Unter uns gesagt, Marlena, er war nicht so teuer. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, es war ein Ausverkauf. Aber das erzähle ich S. nicht. S. hat ein bisschen die Einstellung, dass alles Gute auch teuer sei. Nach ja, nicht immer, aber im Zweifelsfall schon. Also bitte nicht weitererzählen!
Und jetzt sitze ich hier zuhause. Ich wollte nicht mit zur Party. Es ist noch etwas zu früh, und ich bin sicher, sie kommen nicht vor 3 am heim. Das kann ein alter Mann wie ich nicht mehr durchstehen.
Ich schicke das, bevor es alles abstürzt.
Mit lieben Grüssen
...