Brig heute... Foto: Chris
Liebe Marlena
...
Aber das Bänklein auf dem Bahnhof in Brig habe ich gestern besucht. Ich
habe mir wirklich einen Tag frei genommen und bin ins Wallis gefahren. Das
war erfrischend und eine gute Abwechslung. Ich habe schon um 6h das Haus
verlassen und bin um ca. 9h aus dem Bahnhof von Brig getreten und habe
mit kritischem Blick den trüben und fürs Wallis untypisch regnerischen
Himmel gemustert. Das Glishorn gegenüber lag bis zur Hälfte im Nebel.
Vielleicht weißt Du das als Flachländerin nicht so genau. Berge sind
wunderbar und fantasietreibend. Sie gestalten als Panoramas wunderbare
Helle, aber auch blaudunkle Schatten. Doch bei Regen und Nebel verwandelt
sich die Gebirgslandschaft in eine enge Kartonschachtel. Links eine Wand,
rechts eine Wand, vorne eine Wand, hinten eine Wand und oben eben ein
nebliger, tropfnasser Deckel über den Schädel. Dann ist es ein wenig wie
Kaninchenhaltung im Wallis und die Leute kommen sich noch näher, als sie
es bei himmelblauem Wetter schon sind.
Kurz und gut: es war ein trüber, durchschnittlicher Freitag und die
Menschen eilten in ihren Angelegenheiten dahin, als ob nichts wäre.
Ich hatte meine Kamera mitgenommen, aber bei trübem Wetter ist es
wirklich nicht leicht, ansprechende Sujets zu finden. Ich bummelte die
Bahnhofstrasse hinauf. Vor einigen Jahren gab es ja in Brig eine riesige
Überschwemmung, so dass der halbe Fluss die Bahnhofstrasse herunter-
gewalzt ist. Nun haben sie viel neu gemacht, die Strasse gepflästert, vom
Verkehr mehr oder weniger befreit, die Geschäfte erneuert. Die Katastrophe
war ein einziges Wirtschaftsimpulsprogramm für die Oberwalliser
Metropole. Und, ich muss sagen, es hat sich zu Brigs Vorteil gewandelt.
Ich kann Dir jetzt nicht erzählen, was alles ich vermisst habe, weil es in
meiner Erinnerung immer noch vorhanden ist. Es würde kein Ende nehmen.
Und es ist immer ein wenig schmerzhaft und auch verletzend festzustellen,
dass sie soviel geändert und verändert haben, ohne mich, den Besitzer der
Erinnerungen, vorher zu fragen. Sie setzen mich damit ins Unrecht. Das
finde ich einfach rüchsichtslos.

... und damals
Ich bin den ganzen Weg hinaufgegangen bis zur Kirche. Die Bahnhofstrasse
endet heute im Stadtplatz, was früher eine blosse Kreuzung war. Dort hat das
Hotel Couronne heute eine grosse Gartenwirtschaft. Links ist das Café
Ganter, dass damls neu eröffnet hatte. Auf der anderen Seite das Londres,
mit der etwas düsteren Bar. Das kleine Gärtchen, wo früher im Sommer
Tische standen, fehlt. Sogar den Brunnen vor der Sebastianskapelle zur
Erinnerung an Chavez, den ersten Überflieger des Simplons, haben sie
verschoben. Er steht heute vor dem neuen Geschäft "Zur Stadt Paris",
was es damals noch nicht gegeben hatte.
Überigens ist mir dabei in den Sinn gekommen, wie Christoph, ein anderer
Schulkollege, beinahe seine Schulmappe verloren und damit seine
Schulkarriere riskiert hatte. Es war wohl einer der Abende, da wir
kurzentschlossen ein Käsefondue essen wollten. Christoph dachte, er sei
sehr erfinderisch, als er seine Mappe - deren physische Belastung er für ein
paar Stunden abschütteln wollte - einfach in der Kapelle deponierte. Nun ja,
man hätte doch davon ausgehen können, dass sich der heilige Sebastian ein
Stündchen Zeit nimmt und ein Auge auf das Ding hält. Aber er tat es nicht.
Am nächsten Morgen, als wir übrigen die Sache längst vergessen hatten,
meldete Christoph uns den Verlust seiner Mappe. Wenn ich mich richtig
erinnere, machte er sich während einiger Tage erhebliche Sorgen, bis das
mittlerweile ausserordentlich wertvolle Ding wieder hervorkam.
Wahrscheinlich gab ihm dieses glückliche Ereignis soviel Mut und
Zuversicht, dass er später in kürzester Zeit Zahnmedizin studiert und
abgeschlossen und geheiratet hat und in die Unsichtbarkeit seiner Praxis
verschwunden ist.
Und dann bin ich die steilere Burgschaft hinaufgestiegen, eine enge
altmodisch gepflästerte Strasse, die einstmals die alte Simplonstrasse war.
Der Wegenerplatz, der bei der Katastrophe nicht tangiert war, sieht heute
immer noch ziemlich alt und da und dort etwas ungefplegt aus. Ich meine
damit natürlich die Häuser rundum, etwa, das Restaurant, wo mein Kollege
Werner das Mittagessen einzunehmen pflegte. Doch das Wegenerhaus selbst
ist immer noch stattlich und opulent, wie eh und je. Und das Restaurant
De la Place, in welches unser künstlerischer Zeichnungslehrer immer gleich
auf dem Heimweg von der Schule einbog, um sich für den Rest des Tages
eine gute Laune anzutrinken, ist noch immer geöffnet. Nach dem grossen
und altehrwürdigen Wegenerplatz kommt ein kleines Plätzchen, fast ein Hof,
wo man den Polizeiposten erreichen kann. Er ist noch haargenau wie vor 50
Jahren. Und auch die Vespasienne, das kleine Pissoir, das ich noch nie unter
Benutzung gesehen hatte. Ich glaube nicht, dass irgend jemand im Ernst je
angenommen hat, man könne dieses komische Ding überhaupt benutzen.
Vielleicht von ein paar Trunkebolden mit Überdruck zu fortgeschrittener,
nächtlicher Stunde mal abgesehen. Dann kommt rechts das
Stockalperschloss, die grosse Sehenswürdigkeit der Stadt. Der Hof hat
mich wieder beeindruckt. Er stellt sich dar wie jene Karawanserei in Persien,
die heute ein Erstklasshotel beherbergt. Doch das Briger Schloss ist höher
gebaut und etwas enger in seinen Ausmassen. Aber es ist ein wunderschöner
und imposanter Bau aus der Barockzeit.
Und schliesslich ging ich die letzte Strecke hinauf, vorbei am Marienheim,
welches heute restauriert dasteht, vorbei an der Antoniuskapelle, in deren
Vorplatz früher eine stattliche Trauerweide gestanden hat. Und dann
verzweigt sich der Weg. Geradeaus gingen damals die Mädchen des
Pensionates, um in der Klosterkirche der Morgenmesse beizuwohnen.
Wir Burschen stiegen links hinauf die letzten Meter zum Kollegium.
Heute wird dort oben viel gebaut. Es sieht alles sehr provisorisch und
unordentlich aus. Diese Situation habe ich mirnicht allzu genau angeschaut.
Das war nichts besonders Schönes. Ich bin dann nach links zur Kirche
gegangen, von wo man einen schönen Ausblick auf die Stadt hinunter hat.
Man sieht von dort auch das Tal hinunter, zwischen den Türmen des
Stockalperschlosses hindurch und direkt auf Visp und die Schlüsselacker,
also jenes Rebgelände, welches auf dem Bild, das Du mir gezeigt hast,
im Vordergrund liegt.
Ach, es war wirklich ein ganz gewöhnlicher, trüber Wochentag und man
sieht dabei, wieviel sich verändert, wenn man selbst nicht ständig zum
Rechten sieht.
Ich war auch noch in Visp und in Sion. Aber das waren eher kurze Ausflüge.
Vier gute Stunden verbrachte ich in Brig. Und es gab einige Personen, die
ich gekannt habe, mindestens vom Sehen her.
In der langen Fahrt hin und zurück habe ich mit schönster Regelmässigkeit
gewechselt zwischen einem angenehmen, leicht vibrierten Schlummer und
der Biografie von Peter Ustinov (eigentlich Peter Alexander, wenn man es
genau nimmt). Ich mag ihn sehr und ich finde ihn einen klugen, sehr
generalistischen Mann mit vielen Begabungen und einer fantastischen
humanistischen Substanz, ganz abgesehen, dass er auch noch in der Schweiz
wohnt und unter seinen Ururgrossvätern auch ein Schweizer figurierte.
Aber er war etwas pummelig in seiner Jugend - ach was, ist er heute noch -
und war sehr unsportlich, was dann natürlich in einem englischen Internat
gewissermassen zum Handicap ausartete. Man sieht es seinem Gesicht heute
noch an, dass er irgendwie früher gelitten hatte. Aber er hat sich blendend
entwickelt, und heute, mit 80 Jahren, ist er ein echter Lebenskünstler
geworden. Er hat einen gewissen englischen Touch, obwohl er originally
Russe war, allerdings mit einer wirklich weitverzweigten und quer über
Europa zersprenkelten Familie. Wenn man seinen Angaben glauben will,
hat er seine Substanz von Mutter, einer Enkelin eines russischen Offiziers
aus St. Petersburg. Er hat sie sehr bewundert in ihrem Grossmut und ihrer
Lebensübersicht. Der arme Kerl war - nota bene - Einzelkind.
Ustinov also hat mich die ungefähren 6 Stunden beschäftigt, und ich bin
ganz begeistert von seiner Lebensklugheit und seiner Schreibweise. Er
macht manchmal etwas lange Sätze, was - wenn der Eisenbahnwagen über
Weichen rollt - sehr hinderlich sein kann, weil man dann ständig aus den
Buchstabengeleisen des Büchleins springt und drei- oder viermal
dieselben Formulierungen liest.
Ich wünsche Dir und Euch allen einen schönen Sonntag.
Mit Liebe
...