Freitag, 25. Dezember 2020

Eine Kopie von meinen Bemühungen

Lieber ... ,

Heute Morgen habe ich mich mit der Englischen Sprache herumgeplagt. Die Grammatik beherrsche ich so eingermassen aber diese Sprache ist ja viel mehr als so. Es war mein Lieblingsfach im Gymnasium und eigentlich hätte ich es dann an der Uni studieren wollen.. aber Frankreich kam dazwischen. :-)

Ich schicke dir eine Kopie von meinen Bemühungen, damit dir nichts von meinem "inhaltreichen"  Alltag  entgeht. ;-))

 ***


Dear Lou,
I have read your letter again, this time carefully using my wordbook and I realize that your operation must have been a very tough experience. I once had a little operation made with only  local anaesthesia and the worst thing about it was that I could hear the comments of the physicians, when they discovered that the case was not as easy as they had assumed. The feeling that they were insecure was frightening.

Yesterday you went to a control again and I hope that now everything is as it should be. Have you been able to take care of the girls lately, or have you been forced to stay home all this time? And Aki? Are you allowed to "lo prendere in braccio" again. Poor little fellow.

Aki

Sometimes I waken at five o'clock in the morning, and then my first thought always is: "Now Lou gets up". I myself realize that I have to change my diurnal rhythm. I go to bed much too late, often after midnight, and then of course I sleep until 9 o'clock in the morning (sometimes later).  But you see, very often the most interesting TV-programs are late in the evening. Sometimes I just see the beginning of them and then I record the rest on video.

This week I have recorded 3 documentaries. One about Gorbatjov (a man I always have admired) one about Botswana guided by Alexander Mc Call Smith who is showing places and people who have inspired him to his "Ladies' Detective Agency" and the third one was about Doris Lessing (Nobel price winner in literature) and her life. Today there will be a new episode of "Solens mat" which I have told you about, and I look forward to see it.
"Bo Hagström, a Swedish journalist,  is travelling through unknown Italian villages, from Campania in the south to Piemonte in the North, looking for the "unknown heroines of the kitchen", women of different ages and with different social backgrounds - but all with a burning passion for good food".

But still more interesting than the food are the people who live in that beautiful landscape. And all is accompanied by beautiful Italiansongs which remind me of my youth when Italy was the country of my dreams.
Of course I can understand that you are suffering from all the changes. Especially in a city like Rome life must have changed strikingly (con forza). But the old buildings remain and still give fuel to our imagination.

Sweden really is a very Americanized country. (The most Americanized country in the world. On the second place comes the USA ;-) We always know what is going on "over there", but we seldom hear things about Europe. But now there is a little program called "Zapp Europa", unfortunately only 30 minutes, which brings us reports from different TV-stations on our own continent. And last week I could see what happened in Rome after the murder recently.

If you still believe that we have a beautiful winter landscape here, I must disappoint you. When I look out of the window now, I almost get the impression that spring has come.
Today we have +8° . The only difference is that the days are very short now. You can take a look at our web cam to see it.


Well, I've written enough for this time.. maybe even too much. Also for me it is a useful exercise of the English language.

I wish you a wonderful time and please give my kind regards also to N.

Love
Marlena

Mittwoch, 23. Dezember 2020

God Jul




 

God Jul




Weihnachtsgeschichte

.....

Stell Dir vor, Marlena, da kommt mir eine barbarische Weihnachts-Geschichte in den Sinn. Es war in der 4. Primarklasse, würde ich sagen.Ich hatte eben die Rolle als Joseph im Weihnachtsspiel erhalten und wusste noch nicht recht, ob das eine Auszeichnung oder eine Strafe sein sollte. So nebenbei hatte ich mitbekommen, dass ein dünnes und langes blondes Mädchen Maria spielen sollte. Aber ich habe nicht erkannt, was das wirklich bedeuten sollte. Erst um 12 Uhr, als wir über den Schulhof nach Hause zum Mittagessen schlenderten, versuchten andere Schüler mich (oder vielleicht uns) zu necken, weil wir doch nun Maria und Joseph, also ein Paar wären. Das war mir nun aber absolut peinlich, gegen meinen Willen verheiratet zu sein. Und demonstrativ stiess ich die arme Maria von mir, so dass sie gegen einen Zaun taumelte. Sie war sehr betrübt, weinte, wenn ich mich recht erinnere. Doch ich erinnere mich ebenso, dass sie nicht aus körperlichem Schmerz weinte,sondern wegen des Unrechts, das ihr geschehen war. Ich glaube, sie war sehr verwirrt, dass ich so reagiert hatte. In meinem Kopf wollte ich keine Maria an meiner Seite und ich hatte sie nicht gewählt. Aber ebenso war es auch nicht sie gewesen, die diese Konstellation geschaffen hatte. Das empfand sie wohl als brutale Ungerechtigkeit. Und recht hatte sie damit.
Wir haben dann, so muss ich annehmen, unseren Part im Weihnachtsspiel sehr unterkühlt und distanziert gespielt. Ich weiss noch, wie ich in der Kirche mit dem langen Bart in der Gegend herumgestanden habe, und wie der Lehrer der Oberstufenschüler mir deswegen zugezwinkert hatte. Aber ich war mir dessen kaum bewusst, dass ich einen solchen langen weissen Bart trug, und ich hatte wohl auch keinen Gedanken an meine Maria verschwendet. Ich glaube, sie musste eine Gummipuppe im Arm wiegen, eine Puppe, wie sie auch meine Schwester besass, mit einem kleinen Mundloch, so dass man ihr erst die Flasche geben konnte, um ihr nachher die nassen Windeln zu wechseln zu können. Mädchen fanden das damals herrlich. Mit einem solchen kleinen Ding und einem blauen Überwurf musste Maria mitten in der Kirche sitzen und mit langsamen Bewegungen zeigen, dass diese Guppipuppe sozusagen heilig war. Nicht alles, aber diese kleine Drink- und Piss-Puppe fand ich echt dämlich. Ich konnte mir schlichtweg nicht vorstellen, dass das Jesuskind das Getrunkene ohne irgend eine Zutat in die Hosen laufen liess. Ich meine, wie kann man sich bei einem heiligen Menschen so was Tierisches vorstellen? Das war doch irgendwie widerlich. Auch bei einem Jesus.
Aber ich glaube, wir haben die Szene dann irgendwie hinter uns gebracht. Ich hatte nicht viel zu sagen, ein oder zwei Sätze, entäuschend wenig, angesichts des langen Bartes, der mir beinahe bis zu den Schuhen reichte. So kam es, dass die Gruppe mit den Blockflöten anfing, Stille Nacht zu pipsen. Und so konnte ich wenigstens diesen pissenden Jesus etwas vergessen.
Soweit meine Joseph-Rolle. Überigens hatte ich immer gewusst, dass dieses Jesus- Puppen- Kind nicht von mir stammen konnte. Damit hatte ich einfach nichts gemein. Und dass der liebe Gott seine Hand im Spiel gehabt hatte, das wollte mir weder die Maria noch meine Lehrerin sagen. Sie haben mir das Wichtigste einfach verschwiegen, Malou! Ich bin praktisch hintergangen worden! Man hat mir ein pissendes Kind untergeschoben. Wenn Du weißt, was ich meine.
*
Nun bin ich etwas vom Thema abgekommen. Das Thema war
Gewalt unter Jugendlichen. ...
...


Montag, 21. Dezember 2020

Meinst du wirklich ...?

Lieber Mausfreund,
Meinst du wirklich, dass ich dir nicht genügend schreibe? Zwar kommt es vor, dass ich dir manchmal etwas aus der Konserve serviere, aber dann immer nur Dinge, die ich auch jetzt noch sagen könnte. Und die Zeilen, die von dir stammen sind doch jederzeit lesenswert. Auch für dich. Ich kann garnicht  deine Mails von damals lesen ohne sofort harroinsüchtig zu werden.

Interessant von deinen Aktivitäten in der Küche zu lesen. Du könntest ein richtig guter Koch werden, falls du es nicht schon bist.
Leber schmeckt mir am besten so:
Du brätst Zwiebeln in Butter und legst dann in kleine Stücke geschnittene Leber hinein und lässt sie schnell anbraten bis du nichts Rohes mehr siehst (also ab und zu umrühren). Erst dann salzen etwas Wasser dazu geben mit ein wenig Essig und dünsten lassen. Schließlich  etwas Sahne hineinrühren und aufkochen. Mit Reis servieren und einem frischen Salat dazu. Einfacher geht es nicht und mit dem Essig drin schmeckt es fabelhaft.

Ja, das finde ich schön. Einen Stammtisch musst du haben, mit deinem eigenen Platz, wenn du mal in Pension gehst. Onkel Einar in Uppsala hatte das und man hat ihn behandelt wie einen König. Auf diese Weise kam er auch täglich unter die Leute. Ich glaube viele alte Menschen vernachlässigen ihre Mahlzeiten. Ist ja auch langweilig nur für sich selbst zu kochen. Sag mir nur dann in welchem Restaurant ich dich finden kann, wenn ich nach Basel fahre. Ach, ich glaube ich würde dich sofort erkennen.. du mich wahrscheinlich kaum. :-)

Den Film, den du genannt hast, habe ich neulich gesehen. Warum muss Nicholson immer verrückte Männer spielen? Nein, ..., so wie er darfst du es nicht treiben. Aber der Film war lustig.

In einer Stunde hole ich Anna von der Uni ab und nach dem Abendessen geht's dann heimwärts. Morgen werde ich wieder backen. Ich hatte zwar schon damit begonnen, aber das ist schon alles aufgegessen.. nein, nicht von mir. Vielleicht haben wir Mäuse im Haus. ;-) 

 


Ich denke auch du wirst nun ein paar freie Tage haben über Weihnachten. Hast du schon Geschenke für deine Töchter gekauft? Wirst du auch mit ihnen feiern? Bestimmt hast du in den kommenden Tagen doppelte Sorgen. Du Armer!
Jedenfalls wünsche ich dir alles Gute für diese Zeit, mein lieber Mausfreund.

Sende dir Gs und Ks in Qs
Malou


 

Was ist denn los?

 Date: 21 December

Liebe Malou
Wahrscheinlich denkst du immer noch, ich würde deine Mails nicht lesen. So schickst du mir Kopien und Kopien von Kopien. Was ist denn los Malou? Das ist doch kein Mauserei mehr. Ja, das ist eher eine Überlebensübung mit Notproviant !!! 
 
Und dabei esse ich gar nichts aus der Büchse. Ich habe - seit ich allein wohne - Tiefgefrorenes entdeckt. Stell dir vor! Früher, als Student, war mein Lieblingsmenue Leber mit grünen Erbsen aus der Büchse. Einfach so, sonst nichts. Und jetzt, in meinen alten Jahren, bin ich wieder auf diese Urmahlzeit zurückgekommen. Natürlich sagen alle, man solle nicht zuviel Leber essen. Mach ich eigentlich auch nicht. Nur so ab und zu. Und die grünen Erbsen dabei. Allerdings, muss ich zugeben, sind diejenigen aus der Gefriertruhe nicht so trocken und mehlig wie jene aus der Büchse. Und ich liebe eigentlich die mehling-trockenen. Ist das nicht merkwürdig?  Auch die Leber, wenn man sie durchbratet, wird irgendwie trocken. Ich scheine sehr am Trockenen zu hängen. Daher vielleicht mein trockener Humor! ;-)
In nächster Zeit werde ich mal versuchen, eine Pizza zu backen. Du weisst, es gibt diese vorbereiteten grossen Bretter im Laden zu kaufen. Und genau sowas will ich versuchen, Margherita oder Quatro Stagioni oder was weiss ich, Bologna oder Napoli.... Ich liebe Pizza, ich meine die trockene Pizza. So werde ich mal meinen Backofen austesten. Und wenn das gelingt, kann ich vielleicht später eigene Gemüsekuchen backen. Die liebe ich besonders, solche mit Spinat, Broccoli, auch mit Kohl zum Beispiel, mit Käse oder Schinken, vielleicht ein gequirltes Ei darüber?  Wichtig ist bloss, dass der Teig gut gebacken ist. Er sollte knusprig und kann sogar etwas schwarz angebraten sein. So liebe ich ihn besonders. Und dazu einen Salat.
Ja, ich kriege gleich Hunger, wenn ich davon erzähle. Dabei lebe ich eigentlich sehr bescheiden. Meine Mahlzeiten sind frugal, wie du zu sagen pflegst. Wenn ich einmal in Pension sein werde, will ich mir ein Lokal aussuchen, wo ich als Stammgast essen kann. Dabei erinnere ich mich an diesen Film mit Nickolson, den man kürzlich sehen konnte. 
 
 
 Spielte er nicht diesen paranoiden Schriftsteller, der im Restaurant zu essen pflegte und dabei alle Leute gegen sich aufbrachte? Das wäre doch auch eine Rolle. Du machst die halbe Welt verrückt und ziehst dich dann zurück in deine Schreibstube und schreibst einen schönen, honigsüssen, romantischen, sähmigflüssigen Roman.  Na ja, ich weiss noch nicht, was kommen wird!  ...
 
Ich wünsche dir einen schönen Tag. Und ich habe eine kleine Bitte: schreib mir wieder mal ein Mail!
Liebe Gs und Ks
 
 
 ***
 
 
Aus der Konserve:
 
Der Film

 
Liebe Malou
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Ich habe gestern einen Film gesehen mit Nichelson (oder schreibt man Nicholson, vielleicht Nikolson, oder ähnlich?), und habe dabei oft an Dich gedacht. Es ist - weiss Gott - lange her, seit ich einen Film von Anfang bis Ende angeschaut habe. Nikolson spielte einen zwangsneurotischen Schriftsteller, der sich ein bisschen - eben soweit ein Zwangsneurotiker das überhaupt kann - ein bisschen in eine Serviererin verliebt. Und daneben lebt sein Nachbar, eine Tunte (homo) und Maler mit seinem Hündchen und seinem schwarzen Lover und Bodyguard.

Es war in der Tat eine extravagante Geschichte, ein psychologisches Meisterstück. Die Schauspieler, darunter eben Dein geschätzter Nikolson, haben ausgezeichnet gespielt, wirklich ausgezeichnet. Und auch die Kombination von Homosexualität und Zwangsneurose fand ich gut gewählt, denn die beiden Typen ergänzen sich bestens: während der eine seine Gefühle zuinnerst versteckt und gefangen hält, trägt sie der andere offen zur Schau. Der eine ist in jeder Hinsicht und immer wieder verletzend, weil er in seiner egomanen Manier keinen Zugang zu einem Sensorium für das Zwischenmenschliche findet, während der andere wie ein Seiltänzer jederzeit Harmonie und Balance sucht. Man konnte den Eindruck haben, Freud hätte das Stück gleich selbst geschrieben. Und bei aller Komik war der Film doch rundum traurig, zuzusehen, wie diese Personen an sich selbst und gegenseitig aneinander litten.

***






 

 

Sonntag, 13. Dezember 2020

Freitag, 11. Dezember 2020

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"Once we were happy, we had no memories"

 

  Louise Glück

 

 

 

 


Dienstag, 8. Dezember 2020

Glaubst du nicht ...?

 


"Wir bauen an dir mit zitternden Händen
und wir türmen Atom auf Atom.
Aber wer kann dich vollenden,
du Dom."

Lieber ...

Ja, wir bauen ihn wieder, den Turm. Es ist schön etwas zu bauen. All die Gefühle und Gedanken die man dabei hegt ..die Träume von der Vollendung ... was macht es wenn der Turm nie fertig wird. Der Weg ist die Reise wert. Und warum sollten wir nicht wieder heil herunterkommen? Glaubst du nicht auch dass wir immer wieder eine neue Sprache finden werden in der wir uns verständigen können ;-)

Aber du, mit ein paar Jahren Architektstudien hinter dir, wirst mir schon ein wenig dabei helfen müssen damit ich nicht unnötig das Gebäude in Gefahr bringe.

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Sonntag, 6. Dezember 2020

Ernst zu nehmende Konkurrenz

 

 

Liebe Marlena

Ich hoffe, Du lachst mich nicht aus, wenn ich Dir beichte, dass ich ein bisschen Sehnsucht nach NY habe. Natürlich ist es nicht nur die Stadt, sondern auch die freie Zeit, die Möglichkeit des Vagabundierens, jeden Moment tun Könnens, was man will. Aber es ist auch die Stadt. Ich habe den Eindruck, NY sei eine sympathische Stadt. Und – Du erinnerst Dich – das hatte ich vorher nie im Leben geglaubt. Ich habe mich wohl ein bisschen verliebt. Nicht, dass ich jetzt Paris oder Rom gering schätzen würde. Das nun sicher nicht. Aber NY ist eine ernst zu nehmende Konkurrenz zu diesen bejahrten, eleganten Damen des alten Europa. Ist das nicht merkwürdig. Ich habe mich schon lange nicht mehr so sehr überraschen lassen. Meine Sympathie geht sogar so weit, dass ich denke, man müsste den armen Amis wirklich im Irak etwas unter die Arme greifen. Stell Dir vor!

 

(R) 

Samstag, 5. Dezember 2020

Ein Tea Room im alten Visp

 

Re: Blütenfrische :-)


Liebe Marlena
Die Blütenfrische hält an. Sie hält schon deshalb an, weil ich, ohne ein kleines Mail zu schreiben, gar nicht richtig in den Tag hineinkomme. Es ist wie ein dicker Vorhang, der da hängt. Und er ist schwer und träge und gibt kein Zeichen, was sich dahinter alles verbergen könnte. Es braucht in der Tat ein kleines Ritual, um um diesen schweren Vorhang herumzukommen.


Das erinnert mich an ein Tea Room im alten Visp. Tea Rooms waren zu meiner Jugendzeit im Wallis nocht nicht entdeckt. Es gab jede Menge Wirtschaften, die Wein und Bier ausschenkten. Und es war üblich, dass jeder mündige Bürger mindestens einmal im Tag dort vorbeiging. Besser nocht mehrere Male. Aber das war nichts für Frauen, vor allem nicht für Frauen, die allein ein Lokal aufsuchen wollten.
Aber in Visp gab es ein Tea Room. Es hiess Jäger, was ein häufiger Name war. Ursprünglich eigentlich aus Turtmann. An das Tea Room Jäger kam man geradewegs heran, wenn man vom Bahnhof an der Post vorbei herunterkam. Es lag an prominenter Stelle. Aber es war nur eine Fensterreihe. Man konnte nichts sehen. Und hinter der Eingangstüre hing ein schwerer Vorhang, so dass man nicht einfach hineinschauen konnte.
Für mich als Junge war das ein sehr geheimnisvolles Lokal, und wohl auch etwas anrüchig. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer dort drinnen sass. Etwa zwei oder drei mal stand ich an diesem Vorhang, aber ich konnte nichts sehen und wagte nicht, den dicken schweren Stoff - es muss ein lederartiger Filz gewesen sein - zurückzuschieben. Ich machte mir einfach bloss hocherotische Vorstellungen. Ich wusste, das hat etwas mit Erotik zu tun, etwas, wo sich die Frauen eher verstecken als zeigen, und wo die Männer unerkannt bleiben wollen. Das war bestimmt sehr übertrieben. Aber das Café Jäger sah ich als so eine Art Venus-Falle.

Erst viele Jahre später wurden zwei oder drei andere Tea Rooms eröffnet. Sie kamen richtig in Mode, nicht nur in Visp, überall. Und sie sahen alle ziemlich ähnlich aus und waren abends soviel wie leer, denn die Männer gingen weiterhin in die Wirtschaften. Und nur ab und zu sassen zwei oder drei Frauen, die nach dem Vereinsabend noch einen Schwatz wollten, nur dnn gingen sie in solch ein Tea Room.

*
Immer noch geht mir das Treffen mit Th. vom letzten Samstag durch den Kopf. Er ist wirklich eine Persönlichkeit und kennt sich in überaus vielen Dingen aus. Für etliche Jahre war er auch hier im Kantonsparlament und im Gemeinderat seiner Wohngemeinde. Und zwar war er das als Mitglied einer katholischen Partei.. Und dazu hat er eine menschliche Denkweise, die schön ist. Immer war er auch sehr international orientiert und leitete in den letzten Jahren zahlreiche Reise-Führungen nach China, Zentralasien, daneben auch durch den Iran. Er schafft es dabei , aus den Gruppen echte Bekanntenkreise zu machen, die sich auch später immer wieder treffen, die Fotos austauschen und gegenseitig in Kontakt bleiben. Darunter sind viele interessante Leute, von denen auch Th. profitieren kann.
Und jetzt habe ich mich bei seinem Sohn in N.Y.C. angemeldet. Er reserviert mir, gegen eine kleine Bezahlung, ein Zimmer. Das ist gut, denn er wohnt nicht weit von dem NLP Center, wo ich den Kurs besuchen werde. ...
Und so nebenbei versuche ich, mich mental auf diese Grossstadt vorzubereiten, von der ich selten gedacht hatte, dass ich sie je einmal besuchen würde.

...

 

 

 

 

*
Immer noch

Mittwoch, 2. Dezember 2020

Impfen - ein Akt der Solidarität

 


 

 

Liebe Malou

(...)

Gestern Abend spät, nachdem ich noch rasch meine Einkäufe beim Bahnhof gemacht hatte, schaute ich mir die Gesprächssendung am Schweizer Fernsehen an. Es ging um die Frage, ob man sich und unsere Kinder vor allem gegen Masern impfen sollte. Eine solch hitzige Diskussion habe ich lange nicht mehr gesehen. Man kann es sich kaum vorstellen. Und einer der hitzigsten war ein Professor der Immunologie, der notabene in Visp aufgewachsen war. Ich habe ihn damals zwar nicht persönlich gekannt. Aber ich weiss genau, wo er wohnte und seine jüngere Schwester war eine zeitlang ein ziemlich beachtetes Wesen. Er hat die Skeptiker der Impfung (Homöopathen und Antroposophen) schwer abgekanzelt. Ich würde sagen, er war absolut unhöflich. Das würde er vielleicht sogar bestätigen, weil, wie er begründen würde, die Sache so wichtig sei. Im Wesentlichen meint er, eine Impfung sei ein Akt der Solidarität. Man impft sich, um nicht andere Menschen anzustecken. Man impft, um nicht die Erreger in Südamerikanische Länder einzuschleppen, die die Krankheit mittlerweile im Griff hätten. Nichtimpfer sei eine elitäre kleine Gruppe von Selbstauserwählten, die sich das leisten können, weil alle andern die Imfpung auf sich nehmen.
Die Septiker sehen in der Krankheit mehr als bloss ein Übel. Sie haben aus eigenen Erfahrungen festgestellt, dass sich bei jungen Menschen mit den Masern ein echter Entwicklungsschub ergebe, dass sich eine solide Immunität erst mit Überwindung der Krankheit einstelle. Kurz und gut, die zwei Lager waren unversöhnlich. Aber es ist nicht so, dass ich jetzt anfange mich zu sorgen, ob ich mich impfen lassen soll oder nicht.
 
(---)
 
Ich wünsche dir einen schönen Tag
Liebe Gs und Ks

 

(080305)

Sonntag, 22. November 2020

Ach nein ...

Lieber ...,
---
Ach nein, du langweilst mich doch nicht. Im Gegenteil. Ich finde es interessant, was du mir von Petrarca erzählst. Ich bin dann auch zu unserem alten Lexikon gegangen und habe nachgesehen, was sie über P schreiben. Und wenn ich dieses alte Buch konsultiere dann glaube ich zu verstehen was du meinst. Denn obwohl das Buch so spät wie 1915 geschrieben ist, so überrascht es mich immer, wie anders man damals mit den Worten umging. Alles scheint so ganz konkret und ohne Verstellung geschrieben. Man nennt Dinge bei ihrem richtigen Namen. Heutzutage muss man den geheimen Code kennen um die wirkliche Bedeutung eines Textes verstehen zu können.
Ich lese u.a. ”Nach dem Vorbild von Cicero und Seneca hob er das Briefschreiben zu einer wirklichen Kunst; man schätzte sich glücklich Briefe von ihm zu erhalten ...” Ich glaube du bist ein moderner Petrarca. Weisst du übrigens, dass P. und sein Bruder beide geistliche waren. Aber das war zu einer Zeit, wo man als Geistlicher keineswegs auf weltlichen Genuss verzichten musste.
Nein, mein lieber Maufreund, ich habe nichts dagegen, dass du mich ins späte Mittelalter zurückführst und mit P bekannt machst. Ich verstehe deine Begeisterung.

(---)

Es gibt übrigens eine deutsche Übersetzung von Petrarcas Gedichten an Laura. Aber sie soll nicht besonders gelungen sein. Ich wäre bereit Italienisch zu lernen nur um sie im Orginal lesen zu können. So sage ich auch manchmal meinen Schülern: der äusserste Sinn des Sprachenlernens ist, dass man Poesi in der Originalsprache lesen kann. Andere Dinge kann man meistens gut in Übersetzungen lesen.


Ich grüsse dich lieb und wünsche dir einen schönen Wochenanfang.
Marlena 

Petrarca

 


Liebe Marlena
Ja, diese Biographie über Petrarca ist interessant. Ich hatte wirklich nicht allzu viel über ihn gehört bisher. Ps Bruder war Geistlicher. Petrarca selbst war eigentlich Jurist, hat aber sein Studium, das er in Monpellier angefangen und in Bologna fortgesetzt hat, nicht beendet. Durch den frühen Tod seines Vaters sind die beiden Brüder dann reich geworden. Und so konnte Petrarca sich dieser Briefschreiberei widmen. Er war oft Berater von hohen geistlichen Würdenträgern und hatte freundschaftliche Beziehungen zu vielen grossen Leuten in Europa. Und Cicero ist wirklich eines seiner grossen Vorbilder.

Am interessantesten finde ich die Änderungen seines Weltbildes vor dem Hintergrund jenes Dantes, wie er es in der Divina Commedia dargestellt hat. Beide, Petrarca und Dante, waren von ihrer Abstammung her Florentiner. Und beide lebten im Exil sozusagen. P hat immer wieder gegen dieses Avignon gewettert und alle seine Bemühungen in den Versuch gesteckt, einflussreiche Männer zu gewinnen, damit die Kurie der katholischen Kirche zurück nach Rom gehe.In seinem Herzen lebte er für Rom. Gegenüber Dantes vertikalem Weltbild, das durch die Perspektive der göttlichen Allmacht gesehen ist, gibt sich Petrarcas Weltbild horizontal. Es ist wie eine Landschaft, in der man dahinpilgert, und immer neue und verschiedene Erfahrungen macht. Das Wesentliche ist in Petrarcas Welt die Vielheit, gegenüber jener der Einheit bei Dante. Die vielen neuen Erfahrungen, die neuen Dinge, die im Horizont auftauchen, zeigen eine Art Unübersichtlichkeit, wie wir sie heute wieder konstatieren. Individuelle Perspektivität ist das neue Charakteristikum der Weltsicht. Und das ist nun wirklich sehr modern.


 

Donnerstag, 19. November 2020

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ..

 


 

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen—:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.


(Rilke)

 

Dienstag, 17. November 2020

Sonntagabend

(R)

 


 

Lieber ...,
Es ist ein kühler Morgen. Ein dichter Nebel gibt mir den Eindruck auf einer Insel zu sein. Es wird ein schöner Tag werden. Das Licht deutet es an. 

(---)

Nun ist K wieder abgereist und ich werde mich eine Weile mit Vorbereitungen für Morgen beschäftigen. Ich muss lachen, wenn du von einem ”alten General” sprichst. Wenn er wenigstens alt wäre. Aber er ist jünger als ich und wie du sagst, sehr unerfahren in der Pädagogik was ihn auch zu einer leichten Beute aller Bluffer macht. Mehrere Kollegen haben schon diese Befürchtungen geäussert wenn sie sehen von welchen Leuten er sich beeinflussen lässt. Aber man weiss ja nicht was er im Inneren denkt, obwohl er schon ein paar Mal Ideen hervorgebracht hat, die uns den Atem stocken liessen. Du brauchst mich also nicht um meinen Chef zu beneiden. Dagegen würde ich Dir so liebe Kollegen wünschen wie ich sie in meiner Nähe habe. Wir verstehen uns und leiden zusammen. Vielleicht ist deshalb unser Umgang so fröhlich und lustvoll.. weil wir ganz einfach dem Schweren etwas entgegensetzen müssen.

Jetzt beginne ich langsam eine Erleichterung zu spüren in meiner Arbeit. Die kommende Woche sind 2 von meinen Klassen auf ”Pryo” (Berufsorientierung) und ich werde die freie Zeit benutzen um ein wenig Ordnung in unserer Institution zu schaffen und natürlich auch hier zu Hause.. à la Feng Shui.. ;-)))
Ach, chéri, ich muss lachen über deine wilden Vermutungen. Wenn ich eine Leidenschaft finde dann werde ich Dir gern darüber berichten. Erzählst du mir von deiner???
Nein, weisst du, ich suche nichts Aufregendes mehr im Leben.. ich wünsche mir Stille und Harmonie.. aber...

als ich gestern nach ein paar Gedichten von Paul Celan suchte (er ist im Moment auf der Tapete, wie wir sagen) fand ich ein anderes kleines Gedicht von einer mir unbekannten Dichterin.

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O sag es meinen Augen nicht,
Dass du sie suchst - sonst könnt es sein,
Indes der Herbst schon Kränze flicht,
Bräch’ einmal noch der Lenz herein!

O sag es meinen Träumen nicht,
Dass du sie kennst - sonst könnt es sein,
Nach allem lächelnden Verzicht
Käm einmal noch des Wunsches Pein!

O sag es meinem Herzen nicht,
Dass du mich liebst - sonst könnt es sein,
Ich liess noch spät im Abendlicht
Des Glückes ganze Torheit ein!


Gisela von Berger


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Freitag, 13. November 2020

Manganelli - Menschen?

 Liebe Marlena

Lass mich dir noch eine kleine Geschichte zitieren. Sie hat mit dem Vorhergehenden nichts zu tun. Sie stammt von einem Italiener. Ich gebe dir hier die biographischen Daten: Giorgio Manganelli, der zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren der italienischen Literatur zählt, wurde 1922 in Mailand geboren. Er studierte englische Litertur und lebte in Rom, wo er 1990 starb. Die "Irrläufe" sind das heiterste und charakteristischste Buch Manganellis. Hundert höchst unterhaltsame Mini-Romane erzählen von Mord und Totschlag, Liebe und Eifersucht, Lug und Trug - so wie es sich für Romane gehört.

In einer Art künstlerischem Zirkus wird mit hunderterlei Darstellungsweisen jongliert, und selbstverständlich ist das auftretende Personal recht unterschiedlich: Damen und Herren, Drachen und Dinosaurier, Himmelskörper und Astrologen, schwarze Schwäne und Architekten, Gespenster, Schatten und Schreie. Manganelli hat ein unbegrenztes Reich möglicher Kombinationen geschaffen. Schon eine "Pille" genügt, den Leser in den Rausch der fortspinnenden Phantasie zu versetzen.

Geschichte 53: Es handelt sich nicht um einen eigentlich menschlichen Ort - in dem Sinne, dass seine Bewohner keine menschlichen Wesen sind und von Menschenwesen nur unbestimmte, durch alte Fabulisten überlieferte oder von Kaufleuten, Geographen und Fotografienfälschern erfundene Kenntnisse besitzen. Viele, die einen relativ hohen Bildungsgrad erreicht haben, glauben nicht mehr an die Existenz menschlicher Wesen. Sie sagen, dass es sich um einen alten und ziemlich törichten Aberglauben handle und dass die Überzeugung, sie seien existent, in Wirklichkeit hauptsächlich in den unteren Schichten verbreitet sei. Auch die Kinder glauben an die Existenz menschlicher Wesen, was zu einer reichen Märchendichtung geführt hat, deren Hauptfiguren die Menschen sind. In diesen Märchen tun die Menschen lustige und doch auf ihre Weise unheimliche Dinge; sie spinnen unsinnige und sinnvolle Ränke. Aber die eigenartigste und regste Industrie, die sich rings um die Tradition der Menschenwesen herum entfaltet hat, ist die der Masken und Marionetten. Das sie wertvolle Objekte darstellen, werden sie nicht nur zum Vergnügen der Kinder hersgestellt und verkauft, sondern gleichzeitig als Schmuckgegenstände in Wohnungen und Häusern verwendet, auch von solchen, die studiert haben, und deshalb nicht an die Existenz von Menschen glauben.. Natürlich können diese Masken und Marionetten nicht die Gesichtszüge menschlicher Wesen tragen, die ja niemand je gesehen hat und die es womöglich gar nicht gibt. Man stützt sich deshalb auf die Traditionen, auf alte und absurde illustrierte Bücher und schliesslich auf die eigene Fantasie. So haben die Gesichter der menschlichen Wesen stets Löcher zum Sehen, im allgemeinen zwei, aber an irgendeiner Stelle, eins ganz oben und eins an den Füssen oder auch in der Mitte, sozusagen im Bauch. Die Menschen haben ein rundes oder quadratisches Oberteil, an dem bisweilen noch ein weiteres Teil hängt, und unten haben sie Glieder, die zum Greifen und Gehen dienen. Von irgendeinem Teil her stossen sie Laute aus - und hier lassen die Künstler ihrer Phantasie meist freien lauf; so zeichnen sie etwa Trompeten, die ganz oben in Büscheln emporwachsen, oder kleine Löcher wie bei Flöten und Okarinen. Zum Hören haben sie eine Art von Knorpeltrichter, der irgendwo eingesetzt wird. Besonders beliebt sind Marionetten, die "kranke" Menschenwesen darstellen - obwohl es schwierig ist, sich eingebildete Krankheiten auszudenken. Manche werden über und über mit Pusteln oder Wunden versehen und sondern Lebenssäfte ab. Sie haben Öffnungen, aus denen sie nicht sehen; Flöten, die abgebrochen sind und nicht klingen; Glieder, die nicht tasten, nicht greifen und nicht gehen. Trotzdem halten manche die Menschenwesen für unsterblich; sie bringen jenen Masken Ehrerbietung entgegen; und jene, welche sie für unvollkommen und unehrerbietig erachten, werden von ihnen barmherzig verbrannt.

Soweit Manganelli, er ist modern in seiner virtuellen Welt, noch fast virtueller als unsere Mails.
 

Donnerstag, 12. November 2020

Gedanken über das Beten

 

 


Lieber ...,

Du sprichst von Beten in deinem Mail und ich bin nicht sicher ob du das ernstlich meinst 

oder ob du nur Spass machst. Betest du wirklich?


Re:

Liebe Marlena
Ja, es hilft auch bei jenen, die nicht daran glauben. Wir haben die Resultate zwar noch nicht bekommen, aber wir beten immer noch. Und wenn ich sage "beten", dann meine ich irgendwie eine wohlwollende Gedankenflut in die richtige Richtung. Ich glaube auch nicht, dass der liebe Gott durch unsere Gebete wie mit einer Feder im Nacken gekitzelt wird und dann aufmerkt. Und bei Allah glaube ich es noch weniger. Na ja, vielleicht würde, von der feinen Feder gekitzelt, der liebe Gott aufschrecken und auch Allah wecken, der im Nebenzimmer vor sich hindösen scheint, und gemeinsam würden sie sozusagen den Wind in die richtige Richtung lenken. Das wäre natürlich schon möglich. Doch sooooo glaube ich nicht dran. Aber natürlich weiss ich auf eine Art, dass meine Gedanken irgend etwas in der Welt verändern, wenigstens doch an mir selbst. Es gibt diesen englischen Forscher Sheldrake, der sich mit Phänomenen dieser Art auseinandersetzt. Ich habe mal ein Buch über ihn gelesen. Muss ein lustig-komischer Kerl sein. Wenn ich also "beten" sage, so meine ich eine Art Fürbitte, wie die Katholiken das doch stark haben. Und auf irgend eine geheimnisvolle Weise nehme ich an, dass meine Gedanken ein bisschen etwas erleichtern können. Oder vielleicht können sie es auch nicht. Das spielt eigentlich keine Rolle. Vielleicht könnte ich sagen, ich wünsche es mir einfach. Es ist ein Wunsch in die frische Luft hinaus. So etwa! Ein Wunsch wie ein Ruf in die Berge hinein, in der Hoffnung, es kommt ein Echo zurück. Manchmal kommt auch keines. Ob die Götter wegen meiner Wünsche auch noch Wolken verschieben und an den langen Fäden des Schicksals herumzerren, das überlasse ich ihnen. Das weiss ich nicht, denn sie haben es mir ja nie verraten. Aber wenn sie es denn nicht tun, so ist es doch für viele Menschen eine tröstliche Vorstellung.
Gerade gestern habe ich gehört, dass in Spanisch Schutzengel Angelo della guardia oder so heisst. Eigentlich also Wachengel. Über diese Idee haben wir doch sicherlich auch schon diskutiert. Es ist eine schöne Vorstellung, einen Schutzengel zu haben. Und ich erinnere mich an die kleine Anekdote, die meine Mutter erzählt hat. Als die kleinste Schwester noch sehr klein war, wurde sie im Kinderbett und angesichts der Engelchen ermahnt, ruhig zu bleiben und zu schlafen. Sie hat sich beschwert und ihrer Ungeduld heftig Ausdruck gegeben und gesagt, sie könne dieses nächtliche Geflatter der Engel rund um ihr Bett ohnehin nicht ertragen.

Liebe Marlena, ich muss kurz bleiben. In einigen Minuten fahre ich ab zu einem Termin an der örtlichen Schule hier. Und da darf ich nicht zu spät sein. Ich wünsche Dir einen schönen Tag.
Mit einem lieben Gruss
...
 

Sonntag, 1. November 2020

Romantisches Programm - Novalis

 

 

Liebe Marlena
...

Gerade habe ich einen Artikel über Novalis gelesen. Ich würde wetten, dass Du ihn kennst. Der Exponent der Romantik und der Taufpate Deines eigenen Denkens. Es gibt ja auch dieses berühmte Abbild, wo er aussieht wie ein Mädchen, mit einem feinen Gesicht und süssen Lippen. Novalis, der in seinen "Hymnen an die Nacht" und dem unvollendeten Roman "Heinrich von Ofterdingen" die Romantik inkarniert hat. Romantik, das ist die erste Avantgardebewegung. Novalis ist der Dichter der Romantik schlechthin.
In seinen "Blütenstaub"-Fragmenten schreibt er, und da spricht er Marlena aus dem Herzen:

"Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft".

Ja ich finde in diesem ausgezeichneten Artikel von Bohrer sogar ein romantisches Programm, was ich in den letzten paar Jahren immer gesucht habe.

 "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Anschein gebe so romantisiere ich es".

Das ist, kurz gesagt, Werbung. In den letzten Jahren hatte ich immer stärker den Eindruck, die Romantik sei eine besonders starke Bewegung der Moderne. Vor allem auch in der Psychologie spielt sie eine wichtige Rolle. Aber ich hatte darüber nur ein diffuses Gefühl, keine wirklichen Informationen. Nur da und dort, da ich etwas gelesen habe, hat sich mir die These erhärtet.

Bohrer ist Professor für deutsche Literatur und Spezialist für Romantik, soviel ich weiss. Ich habe zwei Bücher von ihm, aber ich habe etwas Mühe, sie zu lesen, denn sie sind ziemlich komplex.

 





Mittwoch, 28. Oktober 2020

Dienstag, 27. Oktober 2020

"on realism and escapism"


Subject: :on realism and escapism
Date: Thu, 27 Apr  14:00:29 


Liebe Marlena

(---)
Du fragst mich, was ich meine, wenn ich sage, du könnest rasch auf Realismus umschalten. Und du weist darauf hin, dass doch unser Chat und unsere Mails auch Realität seien. Ich kann dir natürlich nicht die "Wahrheit" sagen, meine liebe Mauscopine. Ich kann dir nur schildern, wie ich es anschaue. Wahrheit gibt es ja sozusagen nicht. Ich sage immer: "Keiner hat die Wahrheit. Aber jeder hat das Recht, sich auf seine eigene Art zu irren". Ist doch gut gesagt, nicht wahr?

Also: Deine Realität ist dein Leben in Stockholm. Du hast deine Familie, du sorgst für Anna, du machst den Haushalt, deine Einkäufe, spähst auf dem Weg zur Arbeit nach den Geschwindigkeitskontrollen, bereitest deine Lektionen vor, arbeitest in deinem Arbeitszimmer, von wo man auf die Eisbahn sehen kann, wartest auf das Wochenende und auf K. und sein feines Sonntagsessen und so weiter und so fort. Das ist deine Realität.

Unsere Maladi ist natürlich auch Realität, aber eine andere Ebene irgendwie, in sich abgeschlossen, im Gefängnis sozusagen, in den Mauern des Internet. Das gibt ihr schon den Charakter des Spiels (allerdings "Spiel" nach meiner Definition). Aber auch Spiele sind Realitäten. Sie sind irgendwie in sich abgeschlossene soziale Interaktionsformen. Wenn ich Donnerstag abend mit Walter zusammenkomme, ist das auch ein Spiel, das ich mit ihm habe. Es gibt da gewisse Spielregeln und Grenzen, die wir beide einhalten. Man kann nicht sagen, Spiele seien weniger real als das übrige Leben. Schau mal, wie Menschen in Spielen aggressiv werden können, oder gefangen und eifrig sein können, wie sie sich enttäuschen lassen von Spielen. Oft sind Spiele sehr emotionale Realitäten. Spiele haben einen eigenen Ernst. Spiele sind genauso real wie das übrige Leben. Sie sind einfach gekennzeichnet durch einen Spielrahmen und durch eigene Spielregeln. Die Ehe ist eine Spielform des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau. Französisch Conversation ist eine Spielform, Französisch zu lernen. Gemeinsam im Cyber-Room mit der Kusine zu essen und zu plaudern, wie du es mir beschrieben hast, wäre eine Spielform des Zusammeseins via Internet. Chatten ist eine Spielform des Dialogs, des rudimentären Dialogs muss man sagen. Telefonieren ist eine Spielform des Kontaktes. Du siehst, so verstehe ich das Wort Spiel. Das ist vielleicht nicht gerade so, wie es hier jedermann verstehen würde.

Wenn ich meiner Sehnsuche nach dir freien Lauf lasse, dann befinde ich mich im Gefängnis. Und das ist nicht real-life. Ach, jetzt haben wir es: Realität ist real-life. Und unsere Sehnsucht ist eben virtual-life. Du spürst zwar die Sehnsucht in deinem Körper, aber sie ist von deinem übrigen Leben getrennt. Sie ist sozusagen durch Spielgrenzen abgetrennt. Wenn das nicht so wäre, würden wir uns - sagen wir - morgen um 1600h in Paris Orly treffen und zusammen nach Ronda fahren, wie das der gute alte Hemingway - der ja sicherlich in Liebesfragen einige Erfahrung hatte - empfohlen hat. Na ja, vielleicht wäre es noch nicht richtig sommerlich warm für Liebesnächte in Ronda, aber immerhin wäre es besser als im ST, diesem harzigen System, das unsere Nerven auf die Probe stellt.

Und jetzt zum Punkt. Ich habe bei dir den Eindruck gehabt, dass du mit tiefen Gefühlen sprechen kannst, wie sehr du mich vermisst, aber kurz nachher auf unseren §5 (never fall in love again) hinweist. Das meine ich, wenn ich sage, du kannst rasch umschalten auf Realismus. §5 ist quasi eine realistische Anweisung. Wenn ich - im Gegensatz zu dir - ich mich der Sehnsucht hingebe, dann denke ich nicht an §5, dann interessiert mich dieser § sowenig wie am Morgen die hungerigen kleinen Vögelchen, die piepsen. Wenn ich mich der Sehnsucht hingebe, dann möchte ich dich sehen, mit dir plaudern und deine Person erleben, sehen wie du bist und wie du das Leben anpackst und die Kaffeetasse zum Mund führst. Das meine ich mit lyrischem Ich. Das sind Gefühle und Stimmungen und Hoffnungen, aber man kann damit nicht unbedingt ein real-life bestreiten. Sie sind einfach zuwenig realistisch. Sie sind zwar real, aber nicht realistisch. Das ist die Unterscheidung, die man machen muss: real sind die Gefühle, aber sie sind nicht immer realistisch. Real meint eine Seinsweise, realistisch meine eine Erkenntnisweise.

Ach, damit stecken wir schon tief im Sumpf der Philosophie. Mit ihr möchte ich dich nicht behelligen, meine Liebe. Das ist nicht nötig. Den Begriff des "lyrischen Ich" habe ich überigens von Kundera. Er spricht davon. Gemeint ist dieser Zustand der Verliebtheit, den wir doch auch von Rilke kennen, der seine Wahrnehmungen mit Sentimentalität durchtränkt und in sich verinnerlicht, um sie dann in schönen Elegien wieder der Welt zu präsentieren. Er ist ein absolut lyrischer Mensch, aber ziemlich lebensuntüchtig, wie man weiss, und auch früh gestorben, und hat oft geklagt über seine Mattigkeit (longueur bei Verlaine, habe ich im Dictionnaire nachgeschaut, zugegeben), seine Ängste und Phobien, seine Isolation, seine Hypochondrie und seine Verlassenheitsgefühle. Rilke war kein besonders gesunder Mensch. Er hat am Leben sehr gelitten. Lyrisches Ich ist also dieser Zustand der Verschmelzung mit den sentimentalisierten Aspekten der Welt, mit der geliebten Person, mit den Dingen, an die einen Begeisterung binden. Das ist dieser jugendliche Höhenflug, den wir kennen, wenn sich junge Menschen verlieben. L'amour est aveugle. Ils vivent d'amour et d'eau fraîche.

*

Du kannst meine Aussage einfach so verstehen: ich finde, du bist ein vielseitiger Mensch, du bist nicht eindimensional, sondern mindestens vierblätterig, wie wir doch schon festgestellt haben. Du bist eine tüchtige Berufsfrau, eine zuverlässige und liebe Mutter und Hausfrau, eine loyale Ehefrau. Und daneben hast du noch diese Maladi, das ist doch wirklich abgehoben von deinem Leben, ein schönes Spiel, sozusagen ein mentales Abenteuer. Andere Leute besuchen romantische Kinofilme um zu weinen, gehen ins Casino ihr Geld verspielen oder vertreiben sich die Zeit mit den 18 Löchern auf dem Golfplatz. Jeder hat seine spielerischen Vorlieben. Und wir haben unsere Maladi.

Du darfst nicht denken, ich nehme das nicht Ernst, weil ich es Spiel nenne. Das habe ich aus meiner Dissertation gelernt. Spiele sind genauso Realität wie das Alltagsleben. In der Tat könnte man sagen, das Alltagsleben sei nur eine Spielform, eben das Alltagsspiel, dem wir im Leben eine gewisse Priorität einräumen. Es ist sozusagen das Metaspiel, die grösste der russischen Puppen, die man so ineinander stecken kann. Unsere maladi bedeutet mir viel und ich möchte nicht darauf verzichten. Und du bist mir wichtig, meine amie souris, fast ein bisschen zu wichtig. Aber es ist ein abgegrenztes Spiel. Es ist eine der kleineren russischen Puppen. Je mehr ich an meine Fantasie des Gefängnisses zurückdenke, desto besser gefällt es mir. Ich finde, es ist gut erfunden: ein bisschen sentimental, ein bisschen lustig, ein bisschen ironisch, ein bisschen mit Bezügen zum Alltag (1. April), ein bisschen erotisch und hat einen gelungenen Schluss: die Pritsche, die reklamieren will, obwohl es nichts zu reklamieren gibt. Das ist sozusagen noch ein moralisches Element eingebaut. Es ist wirklich eine sehr komplexe, kleine Geschichte. Sie sieht harmlos aus, aber es ist fast alles drin, was man sich in unserer maladi denken kann. Wenn wir uns jetzt das Gefängnis noch im Turm vorstellen, dann haben wir Dein Bild auch noch mitverwendet. Wir bauen zusammen den Turm, aber wir sind IM Turm eingeschlossen. Ist das nicht eine wundervolle und geheimnisvolle Fantasie? Wir zwei Turmbauer, wir bauen am Turm, sind aber im selben Turm eingeschlossen und kommen nicht ins real-life hinaus. Wir bauen unser wunderschönes Turmgefängnis von innwendig, ohne auch nur eine Türe zu lassen.

*

Ach, gerade höre ich die CDs mit Barbara, und bei jedem Stück überlege ich, wie es dir gefallen könnte. Manchmal sind die Chansons sehr melancholisch, eben lyrisch auf eine Art. Sie sind voller timbre. Ich muss sie dir wirklich so schnell wie möglich schicken. Jeder Tag ohne sie ist ein verlorener Tag (etwas dramatisch gesagt!). Hast du deine Adresse schon geschickt?

So lass ich dich nun, mein liebes Turmfräulein, meine amie souris, meine Mausbraut, meine Muse, die mit ihren Küssen so geizt.

IM
...



Sonntag, 25. Oktober 2020

Dienstag, 20. Oktober 2020

Herbsttag

 (R)


Liebe Marlena 

 ...
 
Du kennst das schöne Herbstlied oder Herbstgebet von Rilke.


Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Es ist so schön und bekannt, dass man es kaum mehr zitieren darf. Ich habe mir dazu immer die Landschft Rarons vorgestellt, obwohl das Gedicht eigentlich 1902 in Paris entstanden ist. Aber es gibt in Raron und Umgebung alles, was hier beschrieben wird: die Fluren mit dem Wind, die Rebberge mit dem Wein (der zwar im Wallis nicht allzu schwer ist) und vor allem die Allee. Die Alleen sind eine kleine Spezialität im Wallis. Es gibt sie sonst nicht mehr oft in der Schweiz. Hier stammen sie noch aus der Zeit Napoleons, als das Tal als Département Simplon für kurze Zeit zu Frankreich gehörte.
Und wenn Du Marlena einmal einen Herbst im Wallis erleben wirst, dann weißt Du schnell, was es ist, das mich sosehr an diese Landschaft bindet. Man kann es nicht mit Worten beschreiben, aber ich habe all diese Sensationen noch in meinem Körper, zusammen mit der Erinnerung an jene Sehnsüchte, unter denen man als junger Mensch zu schmachten pflegt. Das Wallis ist die Provence der Schweiz. Und eigentlich müsste ich Dir dieses Goldgelb der Lärchen beschreiben, das um diese Zeit unter der warmen Herbstsonne langsam an den Berghängen heranreift. Es ist die Zeit, da man an den Wochenenden unter blauem Himmel an irgend ein hübsches Plätzchen fährt, um eine Raclette zu geniessen. Hat Dir der Visper erklärt, was eine Raclette ist? Du würdest sein Heimweh enorm schüren, wenn Du ihm davon erzählst. Raclette ist eine Käsespeise. Man lässt einen halben Käse am Stück an der Glut eines Holzfeuers schmelzen und streicht nach und nach mit einem grossen Messer die Portionen direkt auf den Teller. Dazu gibt es Pellkartoffeln, Cornichons und natürlich jede Menge weissen Weines. Weil man immer wieder warten muss, bis man die nächste Portion Käse bekommt, gibt es genug Zeit zu plaudern oder die Ameisen, die einen in den Hintern beissen, zu vertreiben.
*
Du schreibst so schön und Deine Übersetzung des poetischen Textes ist gekonnt. Sowas ist wirklich sehr schwer zu übersetzen. Und es gefällt mir sehr, wie Du Deine Ferien und Deine Erinnerungen auskostet, indem Du dieses Buch noch- und nochmal liest und anschaust. Ich würde das ganz ähnlich machen. Nein, dass Kaiser Tiberius von dort aus regiert hat, das wusste ich nicht, vielleicht nicht mehr. Es ist mir wirklich sehr sympathisch, wie Du das machst. Es ist das Bemühen, sozusagen eine Art Zärtlichkeit zum Ferienort zu gewinnen. Das ist schön. Ich finde die moderne Art, Ferien zu machen, absolut barbarisch, wenn man einen Ort überfällt und besetzt und dann wieder geht, ohne ihn wirklich kennengelernt zu haben. Die Deutschen sind ein bisschen so, denn sie wollen überall ihre Würstchen essen und fühlen sich dann sehr deutsch. Ich meine nicht, dass man unbedingt Bücher lesen muss. Das tun ja die wenigsten. Aber dass man das Andere und das Eigene des Ortes, seinen fremden Reiz wirklich erkundet. Und wenn Du mir davon erzählst, kommt bei mir auch die Lust, mich damit zu beschäftigen. Aber ich kann mich nicht mit allem beschäftigen. Ich geniesse es, von Dir zu hören und Deine Begeisterung herauszuspüren.
*
Und dann das schöne Bild von Pissarro ...

...

Blick durchs Fenster

heute
 

Samstag, 17. Oktober 2020

Brig heute und damals

 

                                                    Brig heute...      Foto: Chris


Liebe Marlena
...
Aber das Bänklein auf dem Bahnhof in Brig habe ich gestern besucht. Ich habe mir wirklich einen Tag frei genommen und bin ins Wallis gefahren. Das war erfrischend und eine gute Abwechslung. Ich habe schon um 6h das Haus verlassen und bin um ca. 9h aus dem Bahnhof von Brig getreten und habe mit kritischem Blick den trüben und fürs Wallis untypisch regnerischen Himmel gemustert. Das Glishorn gegenüber lag bis zur Hälfte im Nebel. Vielleicht weißt Du das als Flachländerin nicht so genau. Berge sind wunderbar und fantasietreibend. Sie gestalten als Panoramas wunderbare Helle, aber auch blaudunkle Schatten. Doch bei Regen und Nebel verwandelt sich die Gebirgslandschaft in eine enge Kartonschachtel. Links eine Wand, rechts eine Wand, vorne eine Wand, hinten eine Wand und oben eben ein nebliger, tropfnasser Deckel über den Schädel. Dann ist es ein wenig wie Kaninchenhaltung im Wallis und die Leute kommen sich noch näher, als sie es bei himmelblauem Wetter schon sind.

Kurz und gut: es war ein trüber, durchschnittlicher Freitag und die Menschen eilten in ihren Angelegenheiten dahin, als ob nichts wäre. Ich hatte meine Kamera mitgenommen, aber bei trübem Wetter ist es wirklich nicht leicht, ansprechende Sujets zu finden. Ich bummelte die Bahnhofstrasse hinauf. Vor einigen Jahren gab es ja in Brig eine riesige Überschwemmung, so dass der halbe Fluss die Bahnhofstrasse herunter- gewalzt ist. Nun haben sie viel neu gemacht, die Strasse gepflästert, vom Verkehr mehr oder weniger befreit, die Geschäfte erneuert. Die Katastrophe war ein einziges Wirtschaftsimpulsprogramm für die Oberwalliser Metropole. Und, ich muss sagen, es hat sich zu Brigs Vorteil gewandelt. Ich kann Dir jetzt nicht erzählen, was alles ich vermisst habe, weil es in meiner Erinnerung immer noch vorhanden ist. Es würde kein Ende nehmen. Und es ist immer ein wenig schmerzhaft und auch verletzend festzustellen, dass sie soviel geändert und verändert haben, ohne mich, den Besitzer der Erinnerungen, vorher zu fragen. Sie setzen mich damit ins Unrecht. Das finde ich einfach rüchsichtslos.

... und damals
Ich bin den ganzen Weg hinaufgegangen bis zur Kirche. Die Bahnhofstrasse endet heute im Stadtplatz, was früher eine blosse Kreuzung war. Dort hat das Hotel Couronne heute eine grosse Gartenwirtschaft. Links ist das Café Ganter, dass damls neu eröffnet hatte. Auf der anderen Seite das Londres, mit der etwas düsteren Bar. Das kleine Gärtchen, wo früher im Sommer Tische standen, fehlt. Sogar den Brunnen vor der Sebastianskapelle zur Erinnerung an Chavez, den ersten Überflieger des Simplons, haben sie verschoben. Er steht heute vor dem neuen Geschäft "Zur Stadt Paris", was es damals noch nicht gegeben hatte.

Überigens ist mir dabei in den Sinn gekommen, wie Christoph, ein anderer Schulkollege, beinahe seine Schulmappe verloren und damit seine Schulkarriere riskiert hatte. Es war wohl einer der Abende, da wir kurzentschlossen ein Käsefondue essen wollten. Christoph dachte, er sei sehr erfinderisch, als er seine Mappe - deren physische Belastung er für ein paar Stunden abschütteln wollte - einfach in der Kapelle deponierte. Nun ja, man hätte doch davon ausgehen können, dass sich der heilige Sebastian ein Stündchen Zeit nimmt und ein Auge auf das Ding hält. Aber er tat es nicht. Am nächsten Morgen, als wir übrigen die Sache längst vergessen hatten, meldete Christoph uns den Verlust seiner Mappe. Wenn ich mich richtig erinnere, machte er sich während einiger Tage erhebliche Sorgen, bis das mittlerweile ausserordentlich wertvolle Ding wieder hervorkam. Wahrscheinlich gab ihm dieses glückliche Ereignis soviel Mut und Zuversicht, dass er später in kürzester Zeit Zahnmedizin studiert und abgeschlossen und geheiratet hat und in die Unsichtbarkeit seiner Praxis verschwunden ist.
Und dann bin ich die steilere Burgschaft hinaufgestiegen, eine enge altmodisch gepflästerte Strasse, die einstmals die alte Simplonstrasse war. Der Wegenerplatz, der bei der Katastrophe nicht tangiert war, sieht heute immer noch ziemlich alt und da und dort etwas ungefplegt aus. Ich meine damit natürlich die Häuser rundum, etwa, das Restaurant, wo mein Kollege Werner das Mittagessen einzunehmen pflegte. Doch das Wegenerhaus selbst ist immer noch stattlich und opulent, wie eh und je. Und das Restaurant De la Place, in welches unser künstlerischer Zeichnungslehrer immer gleich auf dem Heimweg von der Schule einbog, um sich für den Rest des Tages eine gute Laune anzutrinken, ist noch immer geöffnet. Nach dem grossen und altehrwürdigen Wegenerplatz kommt ein kleines Plätzchen, fast ein Hof, wo man den Polizeiposten erreichen kann. Er ist noch haargenau wie vor 50 Jahren. Und auch die Vespasienne, das kleine Pissoir, das ich noch nie unter Benutzung gesehen hatte. Ich glaube nicht, dass irgend jemand im Ernst je angenommen hat, man könne dieses komische Ding überhaupt benutzen. Vielleicht von ein paar Trunkebolden mit Überdruck zu fortgeschrittener, nächtlicher Stunde mal abgesehen. Dann kommt rechts das Stockalperschloss, die grosse Sehenswürdigkeit der Stadt. Der Hof hat mich wieder beeindruckt. Er stellt sich dar wie jene Karawanserei in Persien, die heute ein Erstklasshotel beherbergt. Doch das Briger Schloss ist höher gebaut und etwas enger in seinen Ausmassen. Aber es ist ein wunderschöner und imposanter Bau aus der Barockzeit.

Und schliesslich ging ich die letzte Strecke hinauf, vorbei am Marienheim, welches heute restauriert dasteht, vorbei an der Antoniuskapelle, in deren Vorplatz früher eine stattliche Trauerweide gestanden hat. Und dann verzweigt sich der Weg. Geradeaus gingen damals die Mädchen des Pensionates, um in der Klosterkirche der Morgenmesse beizuwohnen. Wir Burschen stiegen links hinauf die letzten Meter zum Kollegium. Heute wird dort oben viel gebaut. Es sieht alles sehr provisorisch und unordentlich aus. Diese Situation habe ich mirnicht allzu genau angeschaut. Das war nichts besonders Schönes. Ich bin dann nach links zur Kirche gegangen, von wo man einen schönen Ausblick auf die Stadt hinunter hat. Man sieht von dort auch das Tal hinunter, zwischen den Türmen des Stockalperschlosses hindurch und direkt auf Visp und die Schlüsselacker, also jenes Rebgelände, welches auf dem Bild, das Du mir gezeigt hast, im Vordergrund liegt.
Ach, es war wirklich ein ganz gewöhnlicher, trüber Wochentag und man sieht dabei, wieviel sich verändert, wenn man selbst nicht ständig zum Rechten sieht.
Ich war auch noch in Visp und in Sion. Aber das waren eher kurze Ausflüge. Vier gute Stunden verbrachte ich in Brig. Und es gab einige Personen, die ich gekannt habe, mindestens vom Sehen her.

In der langen Fahrt hin und zurück habe ich mit schönster Regelmässigkeit gewechselt zwischen einem angenehmen, leicht vibrierten Schlummer und der Biografie von Peter Ustinov (eigentlich Peter Alexander, wenn man es genau nimmt). Ich mag ihn sehr und ich finde ihn einen klugen, sehr generalistischen Mann mit vielen Begabungen und einer fantastischen humanistischen Substanz, ganz abgesehen, dass er auch noch in der Schweiz wohnt und unter seinen Ururgrossvätern auch ein Schweizer figurierte. Aber er war etwas pummelig in seiner Jugend - ach was, ist er heute noch - und war sehr unsportlich, was dann natürlich in einem englischen Internat gewissermassen zum Handicap ausartete. Man sieht es seinem Gesicht heute noch an, dass er irgendwie früher gelitten hatte. Aber er hat sich blendend entwickelt, und heute, mit 80 Jahren, ist er ein echter Lebenskünstler geworden. Er hat einen gewissen englischen Touch, obwohl er originally Russe war, allerdings mit einer wirklich weitverzweigten und quer über Europa zersprenkelten Familie. Wenn man seinen Angaben glauben will, hat er seine Substanz von Mutter, einer Enkelin eines russischen Offiziers aus St. Petersburg. Er hat sie sehr bewundert in ihrem Grossmut und ihrer Lebensübersicht. Der arme Kerl war - nota bene - Einzelkind.
Ustinov also hat mich die ungefähren 6 Stunden beschäftigt, und ich bin ganz begeistert von seiner Lebensklugheit und seiner Schreibweise. Er macht manchmal etwas lange Sätze, was - wenn der Eisenbahnwagen über Weichen rollt - sehr hinderlich sein kann, weil man dann ständig aus den Buchstabengeleisen des Büchleins springt und drei- oder viermal dieselben Formulierungen liest.

Ich wünsche Dir und Euch allen einen schönen Sonntag.
Mit Liebe
...

 

Sonntag, 11. Oktober 2020

Was ist los hier?

 

Foto: Chris

Nie was Neues? 







Samstag, 3. Oktober 2020

Bruegel

 


Liebe Marlena
...
Letzte Woche habe ich einen Bildband über Pieter Bruegel erstanden, du erinnerst dich, den Bauern Bruegel, oder der Drollige Bruegel, wie man ihn heisst, Pieter Bruegel der Ältere. Es gibt ja dann noch den Jüngeren und es gibt noch Jan, den Blumen Bruegel, der etwas feiner gemalt hat und zB auch mit Rubens zusammengearbeitet hat. Ich erinnere mich an ein Bild, das sie zusammen gestaltet haben, ich meine, soweit Rubens seine Bilder überhaupt selbst gemalt hat. Er hatte ja eine wahre Fabrik, sagen wir Manufaktur, das klingt etwas höflicher. Er war ein guter Geschäftsmann gewesen, dieser Rubens. Heute wäre er wahrscheinlich ein grosser Video-Produzent, der mit seiner Arbeit steinreich geworden ist. Er hatte eine Nase für die Moden und Vorlieben seiner Zeit, und er hat sie voll genutzt. Aber zurück zum alten Bruegel. Er hat dieses wunderschöne Bild des Turmes zu Babel gemacht, dieses zugleich schöne wie bedrohliche und unheilversprechende Bild. Wie wäre es jetzt schön, dieses Buch zusammen anzuschauen? Hättest du überhaupt Zeit für solchen Luxus? Bruegel ist wohl mit Bosch der originellste Maler des 15. Jahrhunderts, köstlich und flandrisch und witzig, verspielt und mit einer Bauernschläue, wie nur noch der alte Cato bei den Römern. Nein, Cato war nicht verspielt, der war eher tierisch ernst und stockkonservativ. Bruegels Turm ist ja zur Ikone geworden. Und das ist eine grosse Leistung für eine einzige kleine Existenz im 15. Jahrhundert Flanderns.

 


 

Ich habe immer geliebt, wie die Holländer ihre Maler lieben und mit ihnen leben. Jedes Kind kennt sie. Und es gibt diesen schönen Begriff eines „Jan Steen Haushaltes". Kennst du die Bilder Steens? Er hat viele Interieurs gemalt und immer sehen sie zwar sehr malerisch, aber eigentlich äusserst unordentlich bis chaotisch aus. Mein Büro ist gelegentlich ein Jan Steen Haushalt, echt, es fehlen nur noch ein paar Hühner und in der Ecke eine Stoffdrapierung. Dann wäre ich ein Jan Steen Hausherr (es ärgert mich, mein Computer macht aus Steen immer Stehen. Er ist wirklich dumm und unverbesserlich starrköpfig, sofern er überhaupt einen Kopf hat!).




Dienstag, 29. September 2020

Es ist Zeit ...

 ... das schöne Gedicht wieder zu zitieren


Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los. 

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein. 

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 

Rainer Maria Rilke
 
 
 

Montag, 28. September 2020

Vorfall auf der Lenzburger Krone

 

Schloss Lenzburg

Liebe Marlena
 (---)
Vielleicht muss ich dir erklären, dass das Hotel Krone, das beste Haus in Lenzburg, gerade unterhalb unseres ehemaligen Wohnhauses steht. Als Junge habe ich aus dem Fenster oder dem Garten immer auf diese Krone heruntergesehen. Ich war im Kindergartenalter, als sie die Gartenwirtschaft hinter dem Haus zu einem grossen Fest- und Theatersaal umgebaut haben. Ich habe stundenlang den Arbeitern zugeschaut, wie sie den Beton in diesem zweiräderigen Karren in die Höhe gefahren haben. Ich glaube damals gab es noch nicht diese grossen Kranen. Nein, sie haben überall aus Holzbrettern Fahrbahnen auf Gerüsten gebaut, um mit diesen Karren den Beton zuführen zu können. Das fand ich faszinierend. Und ich glaube, diese Erlebnisse von meinem Kinderfenster aus haben auch ein wenig mitgewirkt, dass ich dann später erst einmal Architekt werden wollte.

 


Gleich zwischen unserem Garten, der am Schlossberg oben erhöhht lag, und der Krone führte in einer tiefen Schlucht die Hauptstrasse von Zürich nach Bern. Und die Krone war bekannt, weil hier die Strasse eine Ecke von 90 Grad schlug. Man kann nicht sagen, eine Kurve, damals war es wirklich eine Ecke. Und an Sonntagen wälzte sich eine Kolonne von Fahrzeugen um diese Kronenecke. Und wir Kinder standen mit den Nachbarn, Herr Senn, oben am Geländer und schauten hinunter. Er rauchte seine Zigarre und wir zählten die Autos oder merkten uns die Kantonswappen auf den Nummerschildern. Damals hatte man den motorisierten Verkehr noch nicht mit so viel Misstrauen betrachtet.
Und gelengentlich, wirklich nur ab und zu – aber es waren für einen Jungen die Höhepunkte – gelegentlich also kam ein Lastwagen mit einer langen Ladung Baumstämmen. Und die hatten immer ihre liebe Not, die Kurve um die Kronenecke zu krigen. Manchmal mussten sie vor- und rückwärts „sägen“, um nicht die Hauswand zu demolieren. Das war immer eine interessante Angelegnheit.
Und einmal, ich bin immer noch bei der berühmten Lenzburger Krone, einmal turnte auf dem Dach der Krone ein verrückter Mann herum. Das Dach lag etwa auf gleicher Höhe unseres Gartens. Ich war damals wohl in der ersten Schulklasse. Und so sah in vis à vis diesen Mann, und aus dem Dachfnester stieg ein zweiter, der notdürftig mit einem Seil befestigt war und sprach dem anderen zu. Ich verstand eigentlich nicht, was da los war. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, das wäre jetzt ein Kriminalfall. Die Polizei verfolgt einen Täter, der auf das Dach geflüchtet war. Aber später sagte man mir, dass der Mann verrückt sei.
Onkelchen erinnert sich auch noch an diesen Vorfall. Er war lange Jahre Kommandant der Lenzburger Feuerwehr und damals mussten sie mit einem Falltuch (nennt man das so?) ausrücken und das ganze Spektakel absichern. Immerhin ist die Krone drei Stöcke hoch. Ich kann mich bloss noch erinnern, dass ich sehr aufgewühlt war nach diesem Schauspiel. Nun ja, dass Menschen auf Dächern herumklettern und sich von anderen Menschen wieder herunterholen lassen, das war nun wirklich eine Neuigkeit. Und vielleicht hat das ja mitgespielt, dass ich später dann doch das Fach Psychologie gewählt habe. Denn neuerdings sind es die Psychologen, die andere Menschen von den Dächern herunterreden.