am frühen Morgen
9 November 2007 07:48
Liebe Malou
Weisst du, wie merkwürdig es ist, wenn man früh morgens um sieben
durch die dunkeln windigen Strassen geht und von allen Seiten durch
irgendwelche Feuchtigkeiten eingeweicht wird? Puh, es ist ein
unangenehmes Gefühl. Aber in der Eisenbahn ist es dann schon ein
bisschen angenehmer. Man kann noch 10 Minuten einnicken bis L.
Aber eigentlich sollte man doch erst um 8 Uhr zur Arbeit gehen. Vor 7
Uhr sind es die Arbeiter, hat man früher gesagt. Und um 7 Uhr hat -
auf die Sekunde genau - in Visp das Horn der Lonza geheult.
Sekundengenau um 7, um 12, um 13 und um 17 Uhr. Das gehörte einfach
zum Dorf. Und man brauchte den Kindern auch keine Uhr mitzugeben. Sie
haben selbst bemerkt, wann sie abends um 17 zuhause sein sollten. Und
dann, um 17.10h ungefähr, kamen die Personalbusse. Sie kamen alle
ziemlich laut und einer hinter dem andern durch die
Eisenbahnunterführung herauf, fuhren geradeaus bis zur Hauptstrasse,
die Kantonsstrasse heisst, und bogen dann nach rechts Richtung Raron
Gampel Steg. Das spielte sich täglich ab und gehörte sozusagen zum
Dorfbild. Wenn der Alarm zwischendurch mal ging, dann konnte man
sicher sein, dass im Werk irgendwas Ungewöhnliches passiert war, eine
Explosion, ein Brand. Das kam gelegentlich vor. Und ich stellte mir
vor, dass all die Chemikerfrauen im Dorf, deren Männer dort drüben in
den Labors arbeiteten, den Atem anhalten würden, bis sie wussten, was
wirklich passiert war. Manchmal gab es Unfälle, meist mit
Verbrennungen oder Vergiftungen.
Aber ich selbst fühlte mich dieser Fabrik und ihrem Alltag nicht sehr
verbunden, denn mein Vater arbeitete nicht dort, sondern mitten im
Dorf, in einem alten schweren Steinhaus, das früher mal vielleicht ein
Hotel gewesen sein mochte. Die Walliser Kraftwerke waren eine eigene
Einheit der Lonza und hatten kaum etwas mit der Chemie zu tun. Ein-
oder zweimal im Jahr hatte mein Vater eine Sitzung in Basel, wo der
Hauptsitz der Lonza ist. Er war dann jeweils ein bisschen gespannt,
musste früher aufstehen, um in Brig den Morgenzug zu erwischen. Und
abends kam er heim und brachte den Nebelspalter mit, den er auf der
Fahrt gelesen hatte. Das war dasVergnügen von uns Kindern. Der
Nebelspalter war eine Zeitschrift voller Cartoons und Scherze, damals
noch von sehr guter Qualität. Man konnte diese Zeitschrift in den
Wartezimmern der Zahnärzte finden. Dort aber machte sie weniger Spass,
weil man ja doch den Schmerz und die Unannehmlichkeiten der Behandlung
vor sich hatte.
Ja, immer, wenn ich so zurückdenke, kommen auch diese Lebensgefühle
auf, die ich damals hatte. Ich war wirklich zufrieden und fühlte mich
zuhause. In Visp oder Brig kannte ich viele junge Leute, viele nicht
näher, eher so vom Sehen her. Jede Person, die man sah oder traf,
konnte man orten. Man wusste, aus welcher Familie sie kam, wo sie
wohnte und wie die privaten Umstände waren. Alles war irgendwie
übersichtlich. Die Schule lief gut. Die Lehrer wussten, was sie von
mir erwarten konnten. Und wenn die Leistung mal kriselte, drückten sie
ein Auge zu. Der Alltag ging regelmässig voran. Ab und zu hatten wir
Jungen ein Fest, eine Einladung, ein Musikfest vielleicht, was etwas
Aufregung in die katholische Kontemplation brachte. Das Oberwallis -
man sieht das, wenn man von den Bergen herunterschaut - ist wie ein
grosses Zimmer, geschützt und abgeschlossen gegenüber dem Rest der
Welt. Und in jenem Alter, so gegen das Abitur hin, fühlten wir Jungen
uns alle auch sehr gescheit und hatten den Eindruck, wir hätten den
Durchblick wo immer er nötig sein sollte. Die Schule schürte dieses
Gefühl, sprach von uns als von der kommenden geistigen Elite. Ja, es
war alles ziemlich kleinkariert und heimelig.
Lustig, da kommt mir ein merkwürdiges Ereignis in den Sinn. Ich war
frisch am Kollegium, vielleicht 14 Tage oder so. Ich fühlte mich dort
noch sehr fremd in diesen alten Gebäuden mit den Lehrern in Soutanen.
Da gab es an einem Mittwochnachmittag für die ganze Schule eine
Kinovorstellung im Stadtkino Brig. Es waren eine Unmenge Schüler,
grosse und kleine, die dort vor dem Eingang warteten. Und die paar
wenigen Lehrer hatten Mühe, die Übersicht zu behalten und ihre
Schäflein zu dirigieren. Jedenfalls sassen wir schliesslich in diesem
alten, etwas unterkühlten Kino und starrten auf eine flimmerne
Riesenleinwand. Der Film hiess 'Moses', oder 'die 10 Gebote' oder so
ähnlich. Ich verstand das alles kaum. Wie konnte man an einem
gewöhnlichen Wochentag einfach so in ein dunkles, leicht vergammeltes
Kino sitzen? Ich konnte mich auch nicht wirklich auf den Film
konzentrieren, denn rundum war soviel Unruhe und Getue. Und alles war
ein bisschen ärmlich und schmutzig und improvisiert. Ja, ich hatte
wirklich den Eindruck, ich wäre in dieser Schule in einen falschen
Film geraten.
Ich glaube nicht, dass meine Töchter je solche oder ähnliche Gefühle
in der Mittelschule hatten. Hier in L. gab es ein modernes helles
Schulgebäude. Und die Lehrer, Männer und ebensoviele Frauen, sind
moderne aufgeschlossene Leute ungefähr von dieser Welt.
Ja, lustig, diese Erinnerungen. Man könnte darüber Filme drehen. Und
sie würden pittoresk und romantisch wirken ungefähr so wie alte
italienische Heimatfilme.
Ich wünsche dir ein gutes Wochenende. Hast du eine Einladung? Lässt du
dich einladen? Du musst doch auch ein bisschen tun, was deine Seele
braucht. Das wünsche ich dir wenigstens.
Liebe Gs und Ks