Ämne: Warnung vor dem Hund
Datum: den 17 januari 2001 13:57
Liebe Marlena
Manchmal findet man an der Gartentüre von Villen und schönen Einfamilienhäusern die Anschrift "Warnung vor dem Hunde". Und davor möchte ich Dich wirklich nun auch warnen. Wenn Du in Aussicht stellst, dass Du Heideggers "Sein und Zeit" lesen willst, so kann ich Dich nur warnen. Bist Du denn lebensmüde? Willst Du Dich für den Rest Deiner Tage unglücklich machen? Hast Du zuviel Zeit? Willst Du Rilke verlassen? Oder vielleicht sogar Verlaine untreu werden?
Ach, Marlena, Heidegger ist eine Nummer für sich. Und wenn Du noch nie etwas von ihm gehört hast, dann behüte Dich Gott.
Heidegger ist wohl der einflussreichste Philosoph des 20. Jahrhunderts. Und er war Deutscher. Er war auch etwas von den Nationalsozialisten eingenommen. Auf jeden Fall war er während jener schicksalsschweren Zeit Rektor der Universität Freiburg. Und man hat ihm später vorgeworfen, nationalsozialistisch gefühlt und wohl auch agiert zu haben. Seine Philosophie hat, wie auch die Nietzsches, irgendwie eine Nähe zum unheilvollen Denken der Nazis.
Heidegger gilt als Neubegründer der Existentialphilosophie, die er mit Hilfe der Methode Husserls, der Phänomenologie, entwickelt hat. Sartre ist schwer beeinflusst von Heidegger, der Existentialismus als ganzes. Staiger, der grosse Kenner Rilkes, jener Literaturprofessor in Zürich, den ich noch erlebt habe, ist ein Heidegger Schüler. Es gibt sie auch in der Psychologie und Psychiatrie die Nachfahren Heideggers. Binswanger beispielsweise war durchdrungen vom Denken Heideggers. Mein Psychiatrieprofessor Condrau war es. Mein Psychologieprofessor und Doktorvater von Uslar war ein dezidierter Nachfahre Heideggers. Und er hat alle die geistigen Brüder und Schwestern Heideggers sehr geschätzt, Gadamer und Löwith und sich selbst vor allem. Die gescheite Hanna Arendt war eine zeitlang die Geliebte Heideggers.
Und Heidegger war wirklich irgendwie ein bisschen ein Blut und Boden Typ und hat im Schwarzwald seine Klause gehabt, wo er sich zurückziehen konnte. Er schrieb manchmal in sehr archaisierenden Formulierungen und die letzten Schriften erinnern eher an Hölderlin denn an etwas anderes.
Heidegger war für uns junge Studenten ein gefundenes Fressen. Etwas dunkel, aber mit einem neuen und umfassenden Ansatz, also irgendwie radikal die menschliche Existenz denkend, das hat uns wirklich eingewickelt. Stundenlang haben wir über seine Gedanken und die charakteristische Sprache diskutiert und dabei Gauloises geraucht, wie die Besenbinder.
Ach Marlena, überlege es Dir, ob Du Heidegger lesen willst. Es ist nicht leicht. Es ist vielleicht schwieriger als Rilke. Überigens hat man bei Rilke oft den Eindruck, er sei ein Vorfahre Heideggers. Wenn man die Bedeutung des Todes für die Existenz nimmt, wie sie Rilke in seinen Gedichten anklingen lässt, so denkt man, das sei früher Heidegger.
Wenn Du also in die Buchhandlung gehen solltest, um dort - vor aller Leute Augen und Ohren - "Sein und Zeit" von Heidegger zu verlangen, dann werden sich alle umdrehen nach dem Fossil, welches solch einen Schwarten kauft. Oder falls Du das Buch in der Bibliothek zu bekommen versuchen solltest, sieh zu, dass die Frau am Schalter nicht in Ohnmacht fällt.
Ich zitiere Dir, um die Warnung voll zu machen, ein paar Zeilen aus Sein und Zeit, Seite 175:
§ 38. Das Verfallen und die Geworfenheit
Gerede, Neugier und Zweideutigkeit charakterisieren die Weise, in der das Dasein alltäglich sein "Da", die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins ist. Diese Charaktere sind als existenziale Bestimmtheiten am Dasein nicht vorhanden, sie machen dessen Sein mit aus. In ihnen und in ihrem seinsmässigen Zusammenhang enthüllt sich eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit, die wir das Verfallen des Daseins nennen. Der Titel, der keine negative Bewertung ausdrückt, soll bedeuten: das Dasein ist zunächst und zumeist bei der beorgten "Welt". Dieses Aufgehen bei ... hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Oeffentlichkeit des Man. Das Dasein ist von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die "Welt" verfallen. Die Verfallenheit an die "Welt" meint das Aufgehen im Miteinandersein, sofern dieses durch Gerdede, Neugier und Zweideutigkeit geführt wird. Und so weiter und so fort ...
Diese langen Wortkombinationen wie "In-der-Welt-sein" sind typisch für Heideggers Sprache. Sie haben dann grosse Mode gemacht und mein guter Professor von Uslar hat sie geliebt wie Zuckerwatte. Ich habe mich diesem Stil ja auch ein wenig angeglichen, und ich glaube, die Tatsache, dass Uslar mir mein Doktorat so leicht gegeben hat, hing nicht unwesentlich mit dem Sprachstil zusammen. Er hat gedacht, wer so reden und schreiben kann wie er und Heidegger, der ist ein gescheiter Kopf. Na ja, war ich ja auch, aber vielleicht doch nicht ganz so, wie er gedacht hat.
Habe ich Dir das mal erzählt? Ich habe ja meine Lizentiatsarbeit mit einer Zeichnung geschmückt. Thema war: Spiel und Geschichten als Konzepte der psychologischen Diagnostik. Natürlich verrät die Themenwahl schon irgendwie die Nähe zum existenzialphilosophischen Denken. Schon das hat Uslar gefallen. Und die Zeichnung stellte einen Psychologen dar, der mit einem schweren Aktenkoffer ins Spielcasino geht. Und das Spielcasino habe ich - meiner Vorliebe entsprechend - etwas barock gestaltet. Von Uslar aber, der offenbar in Dresden aufgewachsen war, war ganz angetan von dieser Zeichnung und vom Gebäude, von dem er sagte, es erinnere ihn an den Dresdner Zwinger. Als ich später in Büchern nachprüfte, musste ich zugeben, dass meine Zeichnung mit dem Zwinger in Dresden wirklich viel gemeinsam hatte. Uslar hatte unendlich viele Studenten und immer, wenn ich mit ihm einen Termin hatte, erinnerte er sich sofort an mich als denjenigen mit der Zeichnung. Ich glaube, das hat mir viel geholfen in meinem Studienabschluss.
Übrigens, auch das ist lustig, hat mich Uslar damals an einem Wochenende plötzlich sorgenvoll angerufen. Wir lebten damals schon in O., also 80km von Zürich entfernt. Und so hatte ich von der Universität mittlerweile auch eine physische Distanz. Ich war schockiert, dass der Herr Professor solcherart in mein Privatleben hereinstürzt und dachte, etwas wäre nun wirklich absolut schief gelaufen. Ich fürchtete, er würde mich durchfallen lassen oder er könnte meine Arbeit, nachdem er sie endlich gelesen hatte, nicht annehmen oder was weiss Gott. Aber der gute Herr Professor war nur besorgt, weil er dachte, ich hätte meine Zeichnung in alle Exemplare meiner Lizentiatsarbeit abgedruckt. Das wäre ihm dann vielleicht doch etwas unwissenschaftlich und boulevard-haft erschienen. Aber ich konnte ihn beruhigen, dass ich das nur in seinem Exemplar getan hatte. Und er war ganz zufrieden und hatte wohl das Gefühl, dass wir uns blendend verstehen würden.
*
Ach, es ist ein kleines Vergnügen, wie die Erinnerungen an jene Zeit wieder hochkommen. Es war...