... das schöne Gedicht wieder zu zitieren
Dienstag, 29. September 2020
Es ist Zeit ...
Montag, 28. September 2020
Vorfall auf der Lenzburger Krone
Liebe Marlena
(---)
Vielleicht muss ich dir erklären, dass das Hotel Krone, das beste Haus in Lenzburg, gerade unterhalb unseres ehemaligen Wohnhauses steht. Als Junge habe ich aus dem Fenster oder dem Garten immer auf diese Krone heruntergesehen. Ich war im Kindergartenalter, als sie die Gartenwirtschaft hinter dem Haus zu einem grossen Fest- und Theatersaal umgebaut haben. Ich habe stundenlang den Arbeitern zugeschaut, wie sie den Beton in diesem zweiräderigen Karren in die Höhe gefahren haben. Ich glaube damals gab es noch nicht diese grossen Kranen. Nein, sie haben überall aus Holzbrettern Fahrbahnen auf Gerüsten gebaut, um mit diesen Karren den Beton zuführen zu können. Das fand ich faszinierend. Und ich glaube, diese Erlebnisse von meinem Kinderfenster aus haben auch ein wenig mitgewirkt, dass ich dann später erst einmal Architekt werden wollte.
Gleich zwischen unserem Garten, der am Schlossberg oben erhöhht lag, und der Krone führte in einer tiefen Schlucht die Hauptstrasse von Zürich nach Bern. Und die Krone war bekannt, weil hier die Strasse eine Ecke von 90 Grad schlug. Man kann nicht sagen, eine Kurve, damals war es wirklich eine Ecke. Und an Sonntagen wälzte sich eine Kolonne von Fahrzeugen um diese Kronenecke. Und wir Kinder standen mit den Nachbarn, Herr Senn, oben am Geländer und schauten hinunter. Er rauchte seine Zigarre und wir zählten die Autos oder merkten uns die Kantonswappen auf den Nummerschildern. Damals hatte man den motorisierten Verkehr noch nicht mit so viel Misstrauen betrachtet.
Und gelengentlich, wirklich nur ab und zu – aber es waren für einen Jungen die Höhepunkte – gelegentlich also kam ein Lastwagen mit einer langen Ladung Baumstämmen. Und die hatten immer ihre liebe Not, die Kurve um die Kronenecke zu krigen. Manchmal mussten sie vor- und rückwärts „sägen“, um nicht die Hauswand zu demolieren. Das war immer eine interessante Angelegnheit.
Und einmal, ich bin immer noch bei der berühmten Lenzburger Krone, einmal turnte auf dem Dach der Krone ein verrückter Mann herum. Das Dach lag etwa auf gleicher Höhe unseres Gartens. Ich war damals wohl in der ersten Schulklasse. Und so sah in vis à vis diesen Mann, und aus dem Dachfnester stieg ein zweiter, der notdürftig mit einem Seil befestigt war und sprach dem anderen zu. Ich verstand eigentlich nicht, was da los war. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, das wäre jetzt ein Kriminalfall. Die Polizei verfolgt einen Täter, der auf das Dach geflüchtet war. Aber später sagte man mir, dass der Mann verrückt sei.
Onkelchen erinnert sich auch noch an diesen Vorfall. Er war lange Jahre Kommandant der Lenzburger Feuerwehr und damals mussten sie mit einem Falltuch (nennt man das so?) ausrücken und das ganze Spektakel absichern. Immerhin ist die Krone drei Stöcke hoch. Ich kann mich bloss noch erinnern, dass ich sehr aufgewühlt war nach diesem Schauspiel. Nun ja, dass Menschen auf Dächern herumklettern und sich von anderen Menschen wieder herunterholen lassen, das war nun wirklich eine Neuigkeit. Und vielleicht hat das ja mitgespielt, dass ich später dann doch das Fach Psychologie gewählt habe. Denn neuerdings sind es die Psychologen, die andere Menschen von den Dächern herunterreden.
Sonntag, 27. September 2020
Re: Uppsala ... und Zürich
ups uppsala
Liebe Marlena
"Uppsala zum zweiten" ist ein höchst interessanter Brief und ich habe bloss bedauert, dass er so unvermittelt endete. Das klingt ja alles wie aus einem Familienroman des 19. Jahrhunderts, meine Liebe. Diese geheimnisvollen Begegnungen, diese schicksalshaften Wendungen. Diese Art von Lieben, die alles in den Himmel heben oder offenbar die halbe Existenz zerstören können. Es macht alles den Eindruck des Bedeutungsschweren. Natürlich ist es auch Deine Erzählweise, die diesen Eindruck hinterlässt. Und man denkt, solche Erlebnisse sollte man nicht in kurzen Briefen oder leichtlebigen Essays darstellen, sondern es müssten - wie gesagt - dicke Wälzer von Romanen sein. Na ja, meine Liebe, das ist vielleicht ein wenig ironisch gesagt, denn ich selbst liebe es, wenn Du so schreibst, und ich bedaure immer das rasche Ende des Briefes. Ist es denn nicht auch für Dich ein interessantes Erlebnis, diesen Erinnerungen nachzugehen? Noch einmal in sie hineinzugehen, ist doch irgendwie, sie nochmals zu leben, nicht erleben, nicht ganz passiv, sondern aktiv zu leben und sie in der Tiefe auszukosten, oder vielleicht auch auszuleiden. Ist das nicht Proust in Aktion? Ach nein, Proust ist es wohl nicht, denn er ästhetisiert die Erfahrung total. (...)
Ich kann mich gut an die Anfangsjahre meines Studiums in Zürich erinnern. Zürich war ja 4 Stunden damals mit der Eisenbahn vom Wallis entfernt. Und ich wollte nicht jedes Wochenende heim, um etwas sparsam zu sein. Und all meine Kollegen studierten als gute Katholiken in Freiburg, und bloss einige Fortschrittliche vielleicht noch in Bern. Aber wirklich nur die Verwegensten. Ich sass also ziemlich allein hier in Zürich fest. Und ich erinnere mich, wie ich dort anfangs einsam war in meinen Studentenzimmerchen. Ich hatte so einen Tauchsieder, um mir ein Teelein zu kochen. Und sonst war das Zimmer so unpersönlich und fremd in diesem Studentenhaus des Rotary Club. Anfangs teilte ich ein Doppelzimmer mit einem Auslandschweizer aus Spanien. Aber der (ich erinnere mich nicht einmal mehr seines Namens), er war nie zuhause und viel älter als ich. Ich glaube, er studierte Physik und kam aus Madrid. Und er schaute aus wie ein Spanier, nur ohne den spanischen Charme. So fristete ich dort anfangs ein eher unglückliches Leben und fühlte mich fremd in dieser grossen Stadt. Und unter diesen Architekturstudenten war ich auch nicht echt zuhause, weshalb ich ja auch regelmässig in die Universität hinüber ging, um Vorlesungen zu hören. Ich pendelte sozusagen zwischen Hammer und Amboss. Damals habe ich all jene Studenten aufs Tiefste benieden, die zuhause leben konnten. Es gab viele, die wohnten vielleicht nicht direkt in Zürich, aber doch in der Region und abends eilten sie zum Hauptbahnhof. Und zuhause wartete ein gedeckter Tisch auf sie und eine Familie, und die alten Bekannten der Gymnasialzeit. Gar nicht zu reden von den öden Sonntagen, die ich anfangs in Zürich verlebte! Damals ging ich noch in die Mensa der ETH essen. Dort traf ich ein paar Kollegen, die ich kannte. Meist waren sie viel älter, als ich es war. Und sie diskutierten über Dinge, die mich nicht interessierten. Es war nicht das, was ich mir von einem echten Sonntag wünschte. Ich glaube, dieses soziale Leben anfangs meiner Zeit in Zürich hat mir meinen Studienanfang sehr erschwert. Und ich habe immer gedacht, es wäre ein Glück, dass meine Töchter, wenn sie denn studieren würden, weiter zuhause leben könnten. Vielleicht die ersten paar Semester, bis sie sich etwas in die neue Lebensart eingewöhnt hätten. Später, da bin ich mir sicher, ist es wichtig, dass man auch mal ein richtiges Studentenleben führen soll und einen eigenen Haushalt führt, oder doch so in einer Wohngemeinschaft lebt. Das ist etwas sehr Schönes, wenn man sich voller Leidenschaften dem Leben und der Liebe - will sagen den Studien - hingeben kann, ohne auf die eigene Familie Rücksicht nehmen zu müssen.
*
Ich hatte heute mein
persönliches Gespräch mit meinem Chef. Er ist etwas dicker geworden,
seit ich ihn letztmals so nah gesehen habe. Er ist ein wacher Geist und
es ist interessant, mit ihm zu diskutieren. Doch er denkt natürlich viel
weniger psychologisch als ich. Er denkt echt politisch. Und wenn etwas
gut ist, hat er es gemacht, und wenn es schlecht ist, haben es seine
Mitarbeiter gemacht. So ist er, wie alle Politiker. Wir sind nur dazu
da, ihnen die Lorbeeren zu liefern. Doch was soll es? Die Politiker
kommen und gehen. Und wir bleiben und überleben sie und machen die
Politik. So ungefähr könnte man sagen, wenn es auch nicht allzu sehr
stimmt.
Im Mai bin ich 20 Jahre an dieser Stelle. Das ist eine
Ewigkeit. Und ich denke, dass es in der Wirtschaft unmöglich wäre, so
lange auf ein und demselben Stuhl zu sitzen. Es ist auch nicht gut.
Manchmal merke ich, wie ich bequem geworden bin. Manchmal finde ich
alles ziemlich langweilig. Manchmal ärgert man sich über all die dummen
Neuerungen, die bloss mehr Papierkrieg und sonst gar nicht viel bringen.
Aber immerhin.
Ich war damals der jüngste. Und jetzt bin ich
ungefähr der dritt- oder viert-älteste. Einer wird im Mai in Pension
gehen. Der nächste folgt bald. Und dann komme schon bald ich. Allerdings
dauert es bei mir etwas länger.
*
Ich habe eine Kusine, die in der
Chemie arbeitet. Sie ist etwa 2 Jahre älter als ich. Und seit ein paar
Monaten ist sie in Pension mit voller Rente. Wenn Du dir das Paradies
vorstellen willst, so musst Du Dir so etwas Ähnliches ausdenken. Sie
reist in der Welt herum, geht gut essen, nimmt Kilo um Kilo zu und
pflegt ihr fröhliches Gemüt. Ja, sie hat wirklich das grosse Los
erwischt. Vielleicht bedauert sie es in ein paar Jahren, doch heute
geniest sie es in vollen Zügen. Immer wieder bekommen wir Postkarten von
ihr aus irgend welchen exotischen Ferienregionen. Man kann wirklich nur
neidisch werden.
*
Ist es nicht schlimm, wenn man an die
Pensionierung denkt. Das ist wirklich sehr schlimm. Lass uns das Leben
nehmen, wie es ist. Seien wir froh, dass wir noch ein paar Jahre
arbeiten können. Alles andere macht alt.
Ich küsse und grüsse Dich
...
Samstag, 26. September 2020
Uppsala - zum zweiten
Ämne: :-)))
...
Dadurch dass ich zu Hause wohnen konnte, habe ich eigentlich kein
typisches Studentenleben gelebt. Du weisst, wenn man mit so 10 anderen
Personen in einem Studentenkorridor wohnt und die Küche und den Alltag
teilt. Ich wohnte zu Hause und wurde nach wie vor eifersüchtig von
meinem Onkel behütet. Irgendwie hatte ich später den Eindruck, dass sie
mich brauchten, um überhaupt zusammen leben zu können.
Ich sass also meist an meinem Schreibtisch zu Hause und vertiefte mich
in die Bücher. Vor mir an der Wand sehe ich das Foto wo ich als
21-jährige gerade an meinem Schreibtisch eine Arbeit vorbereite.
Wir kamen spät im Herbst nach Uppsala, d.h. das erste Semester, an dem
ich teilnehmen wollte, war fast zu Ende. Ich hatte mich angemeldet für
Germanistik und mich mit Kursplänen versehen. Literatur,
Sprachgeschichte und natürlich die Sprache selbst, Wortschatz,
Aussprache und Grammatik das schwierigste Kapitel für die meisten Studenten. Uppsala hatte damals den Ruf sehr viel zu verlangen und man
sagte sogar, dass die Schüler, die dort bei ihrer Übersetzung schon zum
dritten Mal durchgefallen waren, an der Hochschule in Stockholm kein
Problem damit hatten.
Nun ja, es besteht wohl immer eine gewisse Rivalität zwischen
Lehranstalten, aber ich glaube die Uni von Uppsala ist schon immer als
Nr 1 betrachtet worden. (Nr 2 Lund). :-)
Ich hatte eine lange Literaturliste, von der ich wählen konnte, eine
gewisse Anzahl Seiten zu lesen und ich muss lachen, wenn ich daran denke, was mein erstes Buch war: Buddenbrooks von Thomas Mann. Ich glaube ich
wollte so schnell wie möglich die Anzahl Seiten hinter mich bringen.
;-) Es war wirklich kein leichtes Buch. So unendlich Wortreich.. aber
doch ziemlich interessant. Dann erinnere ich mich noch an mein erstes
”Ausspracheseminar”. Es wurde von einem jungen deutschen Dozenten
geleitet. Ich glaube, ich habe ihn so wie Herrn Grünlich in meinem Buch
aufgefasst. Die Gruppe hatte bereits 8 von den 10 Stunden gemacht und
er begann also diese meine erste Stunde damit, mir eine Moralpredigt zu
halten, wie ich mir das vorstelle, erst nun zu kommen u.s.w. was ich
dann ruhig beantwortete mit ”es wird schon gehen”. Ausserdem war seine
eigene Aussprache etwas von einem Dialekt gefärbt, wobei seine ”i” zu
sehr wie ein ”e” klangen. Das habe ich ihm aber nicht gesagt. ;-)
Ich will jedoch nichts Schlechtes über ihn sagen, denn es war er, der
mich Rilke entdecken liess. Er hatte also auch Literaturvorlesungen.
Und ganz anders als später bei einem Dozenten in Französisch, der immer
am Ende seiner Vorlesungen herzlich lachte so als wollte er sagen:
”Wie viel Dummes Zeug sich ein Mensch ausdenken kann”, endeten seine
Vorlesungen immer damit, dass man glaubte er würde nun anfangen zu
weinen. Man hatte oft den Eindruck er trüge die ganze ”Schuld des
Deutschen Volkes” auf seinen Schultern.
Er sprach also über Rilke, er schenkte uns ein Kompendium mit Rilkes
allerschönsten Gedichten (die ich Dir bereits alle geschickt habe) und
so kam es, dass ich das Stundenbuch zu lesen begann. Ich war überwältigt
davon. So tiefe und schöne Gedanken in einer solch wunderschönen
Sprache hatte ich noch nie gesehen. Irgendwie passte es auch zu meinem
Leben oder vielleicht besser gesagt zu meiner Gedankenwelt zu dem
Zeitpunkt.
*
Eines Tages kam ein Brief von einem Bekannten unserer Familie. Er war an mich gerichtet. (...)
*
Ach, ich finde nicht richtig den Faden zurück. Möchte diese Erinnerung von mir abschütteln, bevor ich weiterschreibe.
Hoffentlich sehe ich ein kleines rotes Dreieck vor deinem Namen, wenn ich nun ins Internet gehe..
Alles Liebe
Marlena
Donnerstag, 24. September 2020
Gedanken über das alt werden ...
Ämne: Re: und jetzt Samstag, sieh Dich vor !
Lieber ...,
Ja,
du hast Recht. Sie ist "in die Jahre gekommen"die Gréco, wie du sagst.
Und zuerst denkt man, man könne sie nur bedauern. Und natürlich muss man
das auch tun, denn das Altern ist eine hässliche Sache. Jedenfalls muss
es so sein für Frauen, die mit ihrem Gesicht in der Öffentlichkeit
posieren müssen.
Doch weisst du, an Erfahrungen und Erlebnissen
möchte ich nicht ein Jahr jünger sein. Während unser Körper
zusammenschrumpft wird unsere Seele immer weiter und reicher. Alles was
wir erlebt haben lebt weiter in uns und schenkt jedem neuen Augenlbick
einen Glanz, der einem "jüngeren" Betrachter verborgen bleibt. Ich denke
manchmal daran, wenn ich mir mit Anna etwas ansehe. Z.B die
Midsommar-feier. Dann versuche ich für einen Moment alle meine schönen
Erinnerungen an frühere Feiern wegzudenken um zu verstehen, was sie
sieht. Und ich sehe ein wie reich ich bin, denn ich kann fast jedem
Moment noch etwas Schöneres abringen. OBS! Schöneres, gross geschrieben.
;-)
(---)
Weisst du, es ist
lustig mit diesen Buchstaben am Ende des Mails. Ich habe natürlich
versucht auszudenken wofür sie stehen. Und als ich gestern mein Mail
beendete, wollte ich dich ein wenig necken und selbst sowas
hinschreiben. Und dann war ich ganz erstaunt, als ich entdeckte, dass
ich genau dasselbe geschrieben hatte, wie du in einem Mail neulich.
Du willst mir also wirklich schicken awiw??? Oh, sieh dich vor! Du ahnst nicht wiw..
Mit einem lieben raschen Gruss und Kuss,
deine Malou
Mittwoch, 23. September 2020
Liebe Malou
„…awiw“ sollst Du haben.
Ja, die Gréco ist ein
Grossmütterchen geworden. Aber in dieser Sendung auf einem französischen
Sender hat sie auch gesungen. Und ihre Stimme ist immer noch sehr fest
und rhythmisch aufregend und jung. Die Juliette hat in ihren Erzählungen
viel Luft genommen. Sie hat erzählt, dass sie sozusagen wie ein Mann
gelebt habe. Das heisst, sie konnte bei den Männern mit den Fingern
schnippen, und sie sind ihr gefolgt (bis ins Bett, so muss man wohl
annehmen). Sie hat sehr positiv geredet über ihr Alter und geschildert,
wie sie ihren Ruhm immer noch geniesst.
Was Du über die
Erlebnistiefe des Alters sagst, das kann ich sehr gut nachvollziehen.
Aber ich ertappe mich bei solchen Gelegenheiten oft, wie ich mich frage,
dass ich in meiner Jugend gewisse Dinge viel grösser und viel schöner
erleben konnte. Ich glaube, damals gab es einen weiten Horizont der
Erwartungen. Alle diese Ereignisse hatten eine Bedeutungsdimension in
die Zukunft. Und die war gross und weit und wichtig. Heute denke ich
oft: und das war alles? Die Menschen sind doch - alles in allem - sehr
menschlich! Na ja, sie sind alle sehr mittelmässig, mich selbst
eingeschlossen! Du siehst, ich habe das Gefühl, am Ende der Fahnenstange
angelangt zu sein. Na ja, nicht ganz, aber immerhin. Wenn man das Leben
als einen Tag nimmt, ist es ungefähr 18.00h heute. Was Wunder, wenn man
sich vornimmt, an diesem milden Abend bis 22.00h noch ein bisschen auf
die Pauke zu schlagen?
....
So, ich schicke dieses Ding ab. Sonst hängt es hier bloss herum.
MlGukuawdw
...
Sonntag, 20. September 2020
" attention, very - very hot"
---
Gestern
hat mir Th ein kleines Geschenk aus NY mitgebracht. Habe ich das schon
erzählt. Sein Sohn und Schwiegertochter, eine aparte Japanerin, haben
mir zwei Gläser scharfe indische Saucen geschickt. Ach ja, jetzt
erinnere ich mich, alles schon erzählt. Nun ja, aber gestern abend habe
ich die eine, die den neckischen Namen Calypso trägt, versucht. Und es
hat mir beinahe die Schleimhäute in Mund und Nase verbrannt. Ich meine,
ich war nahe daran, den Feuerwehr-Notruf zu wählen. Die Sauce sieht zwar
harmlos aus wie eine Früchte-Konfiture. Und sie schmeckt auf Anhieb
auch fruchtig. Aber dann, hinter dem Fruchtbaum hervor schiesst diese
Schärfe wie die Schlange im Paradies. Und dann --- behüte Gott.
Die
zweite Sauce habe ich noch stehen lassen. Die New Yorker haben sie
sogar von Hand zusätzlich angeschrieben und warnen: attention, very -
very hot. Sie wollen damit signalisieren, dass diese Flasche, die rote,
die aller-hotteste sei. Vielleicht sollte ich daneben wirklich so ein
Warnsignal für Feuer- und Explosionsgefahr aufstellen. Na ja, wenn man
das so betrachtet, denkt man, sie wollten mir richtig einheizen. Glauben
sie, dass ich so was nötig hätte. Vielleicht war ich damals noch sehr
begeistert von diesen scharfen Dingen. Heute, so glaube ich, esse ich
etwas milder.
Donnerstag, 17. September 2020
In zwei Welten zugleich
...
"Als ich dann um 6 p.m.
ungefaehr wieder bei der Central Station war, war ich totmuede. So bin
ich in die Empfangshalle des grossen Hyatt Hotells und habe mich in
einen dieser weichen Plueschsessel fallen lassen. Man muss einfach etwas
cool und gelangweilt in die Welt schauen, dann kann man sowas tun. Ich
habe sogar die Fuesse auf das kleine Tischchen gelegt, um echt
amerikanisch und etwas ungehalten auszuschauen, eben wie jemand, den man
viel zu lange warten laesst. ..."
---
Lieber ...,
Es ist Sonntagabend und ich bin wieder allein. Habe gerade nochmals deine beiden letzten Mails durchgelesen und genossen. Du bist im Moment ganz unwiderstehlich. Nie habe ich dich so frei und unbeschwert erlebt. Und natürlich musste ich auch lachen. Sehe dich vor mir "cool und gelangweilt" in einem dieser riesigen Fauteuils eines Hotel-Lobbys, wo du dann noch dazu einschläfst..
Aber du musst ziemlich gepflegt ausgesehen haben denke ich, sonst hätte man vielleicht doch reagiert.
Du schilderst Dinge, wie sonst niemand das tun kann und somit lässt du mich doppelt leben. Das habe ich heute wieder gemerkt, als ich im Wald Preiselbeeren pflücken war. Ich liebe es im Wald zu sein. Es riecht so herrlich und die Luft ist erfrischend. Man spürt fast wie wohltuend sie ist. Und dort, umgeben von Preiselbeerkraut mit herrlich rot leuchtenden Beeren (man möchte fast glauben jemand hätte sie auf Hochglanz poliert) dachte ich plötzlich wie komisch es ist so ganz in der Natur zu sein und sich gleichzeitig in einer grossen Weltstadt zu befinden. Du machst mir das möglich, mein Liebling, und ich bin dir unendlich dankbar dafür.
Ach, ich habe doch nichts dagegen, dass du dir ein wenig Gesellschaft leistest dort in der Fremde. Aber ich bin eben ein bisschen eifersüchtig auf diese Person, die das Vergnügen hatte von dir in einem Museum unterhalten zu werden. Deine Definition von Impressionismus und Expressionismus finde ich übirgens sehr gut. Es ist wirklich so, wie du sagst. Ich werde nie meinen ersten Kontakt mit den Impressionisten vergessen. Es war im Jeu de Paume in Paris. Ich war 19 Jahre alt und hatte nicht allzugrosse Erfahrung von Kunst. Und dann stand ich da plötzlich vor einem Bild von Monet und war wie verhext davon. Wie du so richtig sagst: das Bild "zieht dich in sich hinein" und ich musste mich mit Gewalt losreissen. So war es damals. Auch dieses "der Expressionismus springt dich an" finde ich gut formuliert. Wir könnten uns lange darüber unterhalten.
Schau mal hier, was Monet einmal gesagt hat:
"Everyone discusses (my work) and pretends to understand, as if it were necessary to understand, when it is simply necessary to love."
*
Dienstag, 8. September 2020
"Man gewinnt Klarheit und Distanz"
Du siehst, meine liebe Marlena, ich schreibe einfach so vor mich hin. Es ist wie ein Tagebuch, der „freie Bewusstseinsstrom" wie in einem modernen Roman. Alles mögliche geht mir durch den Kopf und ich kann ziemlich schnell schreiben. Allerdings passieren mir auch etliche Fehler, die Du mir hoffentlich entschuldigst. Die meisten kommen aus reiner Unachtsamkeit und infolge des Tempos zusammen.
Du weißt, dass Tagebuch-Schreiben eine gute Therapie ist? Man hat festgestellt, dass Leute, die regelmässig Tagebuch schreiben, seelisch gesünder sind. Und so was kann ich mir gut vorstellen. Man schreibt sich frei von Sorgen, man überlegt sich diese oder jene Absicht, man versucht, etwas für eine andere Person darzustellen und gewinnt Klarheit und Distanz. Das ist es doch, was man braucht im Leben. Manchmal ist es fast einfacher zu schreiben als zu reden.
Montag, 7. September 2020
Donnerstag, 3. September 2020
Fotos und Todsünden
Liebe Marlena
Das alte Foto, nach dem ich gefragt habe, ist natürlich jenes, das Du mir gleich am Anfang einmal geschickt hattest. Mit diesem jungen und frischen 36 jährigen (oder war es bloss 20??) Mädchen, das so keck in die Welt schaut, hast Du mich damals etwas geneckt, obwohl rasch einmal klar geworden war, dass die Schreiberin der Mails nicht mehr so jung und beschwingt und unwissend sein konnte. Nun ja, ich habe das Bild vielleicht gelöscht, weiss nicht wann und weshalb, ich finde es einfach nirgendwo mehr. Es war schwarz-weiss und offenbar ein kleines Passfoto. Man konnte einen leichten Abdruck eines Stempels sehen, wenn ich mich nicht sehr irre. Schicke mir beide, ich sage Dir, welches das echte ist.
Auch meine Familie beschwert sich immer wieder, dass es keine Fotos von mir gäbe. Das ist nun mal eine Tatsache. Sie hängt damit zusammen, dass ich oft hinter der Kamera stehe und nicht vor ihr. Ebenso hängt sie damit zusammen, dass ich es nicht mag, in einem Fest umständlich zu posieren, um ein Bild zu aller Leute Freude zu machen. Die Perser haben diese Foto-Time geradezu zum Ritual entwickelt. Plötzlich, mitten in einer netten Party bei vollen Gläsern und Lachen und Spassen rundum, wenn alle fröhlich und guter Dinge sind, plötzlich scheinen sie alle elektrisiert und haben die Idee, mit einer dieser kleinen Kameras, die einer von ihnen wie ein Zauberer aus der Vestentasche zu ziehen pflegt, mit einer solch einfachen kleinen Kamera ein Bild zu machen. In all den Jahren habe ich die Überzeugung gewonnen, dass sie dieses Ritual im Grunde um seiner selbst spielen, und dass das Foto, das letzten Endes herauskommt, ganz und gar nebensächlich ist. Meist sind so entstandene Fotos überaus langweilig und fast nichtssagend. Die Leute stehen in einer Reihe, lassen ihre Arme hängen und lächeln in die Kamera. Für unsere europäischen Augen ist das einfach fade. Aber für Perser ist das Bild ein Beweis, dass man zusammengehört. Beziehungen sind im Iran immer noch die Lebens-Ressource Nummer 1. Wen du kennst, bei wem du ein und ausgehst, mit wem du gegessen hast und in welchen Schichten diese Leute wiederum verkehren, das ist ganz wichtig. Das alles zeigt Dir den Wert deiner sozialen Stellung. Ein solches Foto vermag natürlich die soziale Beziehung, auf die man Wert legt, bestens zu zementieren. Das Bild muss nicht unterhalten, muss nicht schön sein, muss nicht in erster Linie die Dynamik des Augenblicks darstellen, eine Seite der Persönlichkeit hervorstreichen, eine äshtetische Qualität haben, nein, das Bild muss bloss dokumentieren, dass die und die und die Personen dort und dort zusammengewesen sind. Offenbar hat es vor allem dokumentarischen Charakter. Das Bild ist nicht so sehr Ausdruck eines aussergewöhnlichen Erlebnismomentes, wie vielleicht bei uns, sondern es ist eine spröde Aktennotiz, mit der du jemandem noch Jahre später nachweisen kannst, dass er dich eigentlich kennt, kennen müsste. Natürlich habe ich jetzt die ganze Sache ein bisschen überzeichnet. Aber dennoch glaube ich, dass Iraner solche Party-Fotos anders anschauen und anders verstehen. Dass Du von mir noch kein deutliches und aktuelles und vor allem schönes Bild hast, hängt natürlich mit der Tatsache zusammen, dass mein linkes Ohr deutlich höher hängt als das rechte, dass die Augen hervorstehen wie bei einem Laubfrosch mit Heuschnupfen, und dass der Mund einem Reissverschluss gleich quer und schief über das Gesicht zieht, so dass man auf den merkwürdigen Vergleich einer nördlichen und einer südlichen Hemisphäre gerät. Willst Du wirklich sowas?
*
Da habe ich etwas Lustiges in der Zeitung gelesen. Es ist eine Meldung aus Frankreich. Sie läuft ungefähr so: "Prominente Franzosen wollen sich beim Papst dafür einsetzen, eine der sieben Todsünden zu streichen. 'Völlerei' muss nach Ansicht der Gruppe aus Köchen, Schriftstellern und Politikern aus der katholischen Liste der Tabus gestrichen werden. Ende Jnuar werde die Tochter des Initiators, des kürzlich verstorbenen Bäckerei-Unternehmers Lionel Poilâne, ein entsprechendes Schreiben bei Papst Johannes Paul II. vorlegen, berichtete die Zeitung 'Journal du Dimanche'. Rückendeckung für die Initiative kommt unter anderem von Kochstar Paul Bocuse. Nicht die Völlerei (französisch: gourmandise), sondern eher die Gefrässigkeit (gloutonnerie) könnte als Sünde angesehen werden, sagte er. Dieses Wort könne in einem Kompromiss als fünfte Todsünde akzeptiert werden. Die anderen sechs Todsünden sind Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz und Wolllust."
Na also.
*
Ja klar, das war auch nicht gleich als Gesprächsthema gemeint, es steht ja bloss im Assoziationsnetz mit der Coriolis-Kraft. Und das wäre, zumindest für eine echte Stag-Party bei guten Portionen von starksprit, ein echt komischer Gedanke. Dabei hast Du wahrlich recht: wenn es kalt ist, dann hat alles gut in der Mitte der Hose Platz. Und das Herz, wenn es denn sein muss, gerade auch noch. Ich frage mich bloss, woher Du das alles so genau weißt???
Aber lassen wir das Thema. Es ist ein bisschen unter unserem Niveau, nicht wahr?
*
Hier hat sich gerade der Himmel geöffnet und er ist blau und schön, und die weisse Landschaft leuchtet hell eine Szenerie aus Leintüchern. Ich glaube, ich werde über die Mittagszeit rasch nach Basel gehen. Dann habe ich ein bisschn Licht, was - wie Du weißt - gegen die SAD gut wirken soll.
*
Ich wünsche Dir einen wunderschönen Tag.
Mit lieben Grüssen
...
Wieder hier
Ämne: Etwas in Eile
Lieber ...,
Ich danke dir für dein Mail. Kam gestern nicht dazu dir gleich zu antworten. Anna und ich hatten beschlossen eine Shoppingtour zu machen. Und wir haben Glück gehabt. Wenn man findet was man sucht und noch dazu zum halben Ausverkaufspreis muss man zufrieden sein.
Vorher hatte auch K angerufen, dass er nach der Arbeit nach Hause kommen würde. Er hat die Zeit in London gut ausgenützt und hatte viel zu erzählen. Man kann jetzt mit einer neuen Fluggesellschaft unglaublich billig nach London fliegen. London hin und zurück ist billiger als eine Zugreise von hier nach Stockholm. Es ist unglaublich.
Ich habe heute meinen strengen Tag und bin nicht besonders gut vorbereitet. Aber oft geht es dann noch besser.
Es freut mich dass du mir ein Bild senden willst. Habe lange gewartet.
Ich weiss nicht welches Bild du sehen willst. Auf einem war ich etwas über 20 und auf dem anderen 36 Jahre alt. Warum möchtest du es nochmals? Ja, ich sehe vielleicht etwas streng aus. Anna hat so lange gewartet mit dem Abdrücken. Gut dass du es schön findest aber ich sehe in wirklichkeit viel lieber aus. ;-)
Ich glaube nicht dass ich dein neues Gesprächsthema vorbringen werde. Kann mir garnicht vorstellen wie schrecklich geniert alle Herren am Tisch wären, ganz zu schweigen davon, was die Frauen von mir denken würden. Musst mir was anständigeres bringen. Übrigens ist mein eigener Kommentar: Das Ding ist nicht grösser als dass es in der Mitte Platz hat vorausgesetzt dass die Fantasie nicht mit ihm durchgeht.
Jetzt muss ich mich beeilen. Wünsche dir einen schönen Tag. Ich komme sicher nochmals am Nachmittag zu dir.
Mit einem lieben Gruss
Marlena