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Dank der Fussballmeisterschaften habe ich mein de Botton schon zu Ende gelesen. Und nun, was kann ich zum Schluss sagen. Ich glaube, Marlena, alles in allem, könnte ich dir dieses Büchlein empfehlen. Sicherlich weißt du natürlich mehr über Proust als ich es gewusst habe. Doch ich finde, de Botton führt auf geschickte und leicht lesbare Art und Weise in das Denken und die Literatur Prousts ein, und erwähnt daneben biographische Aspekte, die ja zum Verständnis der Literatur nicht absolut notwendig sind, aber oft eben doch erhellend. Er hat sein Projekt einfach und gut angepackt. Er baut es wirklich fast wie ein Ratgeber auf und gibt dann Proust das Wort. Und die Kapitel hören sich auch an wie zentralen Fragen des Lebensberaters: Wie man das Leben liebt? Wie man richtig liest? Wie man sich Zeit nimmt? Wie man erfolgreich leidet? Wie man Gefühlen Ausdruck verleiht? Wie man Freundschaften pflegt? Wie man in der Liebe glücklich wird? Er hat nichts ausgelassen, dieser gute Proust. Und offenbar war er nicht nur der Unglücksrabe, als den ich ihn anfangs angesehen habe. Die Theorie sozusagen, die sich aus seinen Ausführungen ergibt, finde ich ziemlich intelligent und sie hat was an sich. Vielleicht könnte man sie so zusammenfassen: der Wert des Lebens entsteht durch die Art der Erinnerung. In der Erinnerung entsteht dieses vergoldete Lebenskunstwerk. Und nicht etwas das reale Leben wäre schon so ein Kunstwerk. Das reale Leben ist voller Kompromisse und Unvollkommenheiten und Grautöne und auch Leiden. Aber die Erinnerung kann dann alles ins rechte Licht rücken und das Leben als einzigartig und schön und ideal erstrahlen lassen. Und davon, Marlena, das muss ich zugeben, bin ich selbst nicht so weit entfernt. Ich könnte ja direkt Proustianer werden. Doch es gibt auch Aspekte an diesem Typen, die mir unsympathisch sind. Seine neurotische Lebensweise etwa, seine vielen Leiden, die er hatte. Es wimmelt offenbar in der Recherche von Leiden und Leidensgründen: seine Mutter, die Homosexualität, verhinderte Liebschaften, gescheiterte Theaterkarriere, Unverständnis der Freunde, Asthma, Nahrungsunverträglichkeiten, Verdauensprobleme, irgendwelche Komplikationen mit den Unterhosen, überempfindliche Haut, Angst vor Mäusen, Kälteempfindlichkeit, Höhenangst, Hustenanfälle, Angst vor Reisen, Flucht ins Bett, Lautempfindlichkeit. Es will gar nicht enden. Und Proust muss in dieser Hinsicht wirklich ein sehr eingeschränkter Mensch gewesen sein. Er erzählt offenbar in diesem Zusammenhang von Noah, der für ihn ein symbolisches Vorbild ist. Noah hat die Welt aus seiner Arche, also einem geschlossenen Raum wahrgenommen. Er hat sie in der Erinnerung wahrgenommen. Und Proust tut dasselbe von seinem Bett aus. Er hat offenbar meist im Bett gearbeitet. Das muss ziemlich unbequem gewesen sein.
Er war also absolut neurotisch und krankhaft. Und doch hat er seine Situation irgendwie intelligent genutzt und einige bemerkenswerte Erkenntnisse daraus gemacht. Virginia Woolf muss offenbar eine grosse Verehrerin Prousts gewesen sein. Sie habe ihn mit grossem Interesse gelesen, und sei ob dem Eindruck, den er auf sie gemacht habe, geradezu verstummt. Er muss ihr grosses Vorbild gewesen sein, und eigentlich wünschte sie zu schreiben wie Proust schreibt. Und offenbar treffen sie sich auch in der homosexuellen Ausrichtung, wenn ich bei Woolfe richtig orientiert bin.
Ich war froh, bei de Botton auch die Szene mit der Madeleine zu finden, denn darüber habe ich schon mehrmals gelesen, und ich wollte immer gerne wissen, was es damit auf sich hat. Ich kann dir die ganze Passage nochmals zitieren, dann kann ich sie gleich auch nochmals lesen:
"Was das Backwerk anbetrifft, so schildert Proust, wie sein erkälteter Erzähler an einem Winternachmittag zu Hause sitzt, als seine Mutter in sein Zimmer kommt und ihm vorschlägt, er solle, entgegen seiner Gewohnheit, eine Tasse Lindenblütentee zu sich nehmen. Er lehnt erst ab, besinnt sich aber aus unerfindlichen Gründen eines Besseren. Zum Tee lässt seine Mutter ihm eine Madeleine servieren, ein dickes, ovales kleines Sandtörtchen, das aussieht, als habe man es in der gefächerten Schale einer Jakobsmusschel gebacken (schön gesagt!!). Der verschnupfte Erzähler bricht, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, ein Stückchen ab, tunkt es in den Tee und trinkt einen Schluck, als etwas Seltsames geschieht:
,,In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack vermischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein Unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmolsen Missgeschicken, seine Kürze zu einem blossen Trug unserer Sinne geworden...Endlich fühlte ich mich nicht mehr mittelmässig, hilflos, sterblich. ,,
Um wleche Sorte Madeleine handelte es sich? Um dieselbe, die seine Tante Léoinie jeden Sonntag in ihren Tee tunkte und dem Erzähler anbot, wenn er das Schlafzimmer in ihrem Haus in dem Provinzstädtchen Combray betrat, wo er als kleiner Junge mit seiner Familie die Ferien zu verbringen pflegte, und ihr einen guten Morgen wünschte. Der Erzähler kann sich, wie an so vieles aus seinem Leben, nur undeutlich an seine Kindheit erinnern, und das, woran er sich entsinnt, erscheint ihm reizlos und uninteressant. Was nicht heisst, dass seine Kindheit tatsächlich trist und öde war, sondern dass er sie einfach nur vergessen hat - und diese Erinnerungslücke schliesst jetzt die Madeleine. Durch eine Laune der Natur versetzt ein Stück Gebäck, das er seit seinen Kindertagen nicht mehr gegessen hat und mit dem sich daher auch keine späteren Assoziationen verbinden, ihn in seine Zeit in Combray zurück und erschliesst ihm eine Fülle köstlicher und ganz persönlicher Erinnerungen. Mit einem Mal erscheint ihm seine Kindheit weitaus schöner als zuvor, und mit neu gefundenem Staunen erinnert er sich an das alte graue Haus von Tante Léonie und mit dem Haus an ganz Combray und seine Umgebung, den Platz, auf den man ihn vor dem Mittagessen schickte, die Kirche, die Strassen, die Blumen in Léonies Garten und die Seerosen auf der Vivonne. Und dabei erkennt er den Wert dieser Erinnerungen, die ihm zu dem Roman inspirieren, den er schliesslich erzählen wird und der in gewissem Sinne einen einzigen langen kontrollierten "Proustschen Moment" darstellt, weil er über dieselbe Sensibilität und dieselbe sinnliche Direktheit verfügt.
Das Erlebnis mit der Madeleine heitrt den Erzähler auf, weil es ihm zu der Erkenntnis verhilft, dass nicht sein Leben mittelmässig war, sondern das Bild, das er sich in der Erinnerung davon gemacht hat. Dies ist eine der zentralen Proustschen Unterscheidungen und für ihn von ebenso grosser therapeutischer Bedeutung wie für den jungen Chardin-Betrachter (hier referiert do Botton auf eine frühere Episode eines jungen Mannes, der durch die Betrachtung von Chardins Bilder seine bescheidene Situation seines Elternhauses zu schätzen gelernt hat).
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Soweit Proust. Ich glaube, ich bin diesem monumentalen Werk jetzt ein bisschen näher gekommen. Ich denke zwar nicht, dass ich es wirklich lesen werde - wann sollte ich auch - aber ich weiss jetzt besser, was es damit auf sich hat. Insofern war de Botton doch ziemlich informativ für mich. Wie ich vermutet habe. Der Anfang ist einnehmend, aber es hält sich einigermassen durch bis zum Schluss. Offenbar hat er sich eingehend mit Proust beschäftigt. Und er kann die zentralen Aspekte herausheben, das heisst klarer machen. Das ist ja nicht ganz einfach, angesichts der Tatsache, dass ich einer bin, der ich Proust noch nie gelesen habe. Das Büchlein de Bottons ist gehobene Unterhaltung. Walter hat schon sein Interesse angemeldet, und ich werde es ihm dann wohl ausleihen müssen. Oder soll ich es zuerst dir schicken, Marlena? Das würde ich so gerne, es dir geben, um dann mit dir darüber zu diskutieren und sehen, wie du es gelesen hast, was du daraus nehmen wirst. Das wäre doch echt schön. Und zur Diskussion würden wir einen Lindenblütentee trinken und eine Madeleine darin tunken, wie es sich für Proustianer gehört. Für einmal würden wir unseren Kaffee beiseite lassen, und in solch einen Lindenblütentee hineinbeissen wie in den sauren Apfel. ;--)
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Ich habe noch einen Monat bis zu meinem Abflug in den Iran. Gestern habe ich beschlossen, mich endlich ein bisschen darauf vorzubereiten. Ich will doch meinen Dumont Führer lesen, damit ich meinem Patenkind, dem Marc und seiner Freundin einiges erzählen kann. Wir werden auf jeden Fall ein paar Tage nach Isfahah gehen. Isfahan ist für mich die schönste Stadt, die ich in meinem Leben angetroffen habe. Es gibt so eine persische Redensweise die sagt, Isfahan sei die halbe Welt. Es reimt sich natürlich, aber ich kann dir nicht in Farsi zitieren. Aber sicherlich werde ich es im Dumont wiederfinden. Ich werde dir auch erzählen vom schönen orientalischen Isfahan, das einst die Hauptstadt Persiens gewesen war, mit den alten Königsanlagen und den Gärten und dem grossen Platz, der ja nun doch weltberühmt ist. Ich werde dir alles erzählen, so dass du meinst, du seist selbst dort gewesen, meine Liebe.
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© Princeton University
habit-forming {adj}
süchtig machend
med. suchterzeugend
to be habit-forming
zur Gewohnheit werden
habit-forming drugs
zur Abhängigkeit führende Drogen {pl}
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das 2te, nennt man dann Liebe :-)
Grüßle George
Warum entdecke ich diesen Kommentar erst heute???
Mysterium! :-)
Alles Liebe Dir.
Malou