Lieber ... !
Ich sitze im Augenblick in einem veritablen Chaos. Du weisst wie es ist, wenn man Bücherschränke ausräumt und die ganze Bodenfläche verdeckt ist, so dass man sich kaum bewegen kann. Es braucht starke Kräfte dass ich mich hinsetzte und alles liegenlasse. Meine Sehnsucht mit dir zu sprechen ist doch stärker als mein Drang hier so schnell wie möglich Ordnung zu schaffen.
(---)
Unser Gast ist ein hochinteressanter Mensch. Er ist ein alter Studienkamerad von K und sie wohnten damals in einem berühmten Studentenhotell für männliche Studierende im Zentrum von Uppsala. Sie hatten ihre Zimmer im selben Korridor. Alle lebten eng zusammen und kannten sich sehr gut, und niemand konnte eigentlich Geheimnisse vor den anderen haben. Es gab viele Originale, die später auch auf verschiedenen Gebieten Karriere machten und Folke (unser Gast) war schon damals einer der originellsten, und obwohl man ihn vielleicht nicht gerade bewunderte, so sah man doch sehr zu ihm auf.
...
Seit vielen Jahren ist er unser Gast während einer Woche (meistens sofort nach Schulschluss). Wenn ich die beiden so sehe und höre, dann denke ich an dich und W. Eigentlich könnte ich ihnen dauernd zuhören, denn wenn zwei so begabte und interessante Leute zusammenkommen dann werden viele Themen angeschnitten, und der eine versucht dem anderen mit neuen Erfahrungen zu imponieren. Vor einer Weile war die Rede von Stalingrad und grauenvollen Details aus dem Krieg, z.B. wie man sehen konnte, wenn jemand starb, dass sein Bart plötzlich lebendig wurde, und die Läuse in grossen Scharen schnell hinüberwanderten zu einem noch lebenden Körper. Folke hat wie K auch Geschichte studiert. Er war eine zeitlang Direktor aber die ”Papierarbeit” hat ihm nicht besonders gefallen und so ist er wieder Studienrat geworden. Er schreibt ausserdem Rezensionen für eine lokale Zeitung über Bücher, die er (wie ich behaupten möchte) nie gelesen hat ;-) Nun, so ist es wohl oft mit solchen Herren. Sie lesen ein paar Zeilen hier und ein paar Zeilen da und dann kopieren sie ganz einfach eine schon irgendwo veröffentlichte Rezension mit ein paar eigenen Zutaten. Und warum sollte es eigentlich dadurch an Wert verlieren? ;-)
Ich gehe ab und zu eine Weile zu ihnen hinunter und sehe nach, ob sie mich sehr vermissen ;-) Dann kehre ich beruhigt wieder zu meinem Ferngeliebten an den PC zurück.
Ja, du hast recht. Saint-Exupéry hat einen sehr schönen Namen. Aber er ist nicht einer meiner Favoriten. Nur eben das kleine Büchlein ”Le petit prince” hat mir sehr gefallen. Und eigentlich erst später, als ich entdeckte welche schöne Gedanken und Weisheiten sich darin verbergen. Übrigens, auf unserer Tour an der Amalfiküste entlang, bekamen wir jeder einen Kuss, nun du weisst diese kleinen Schokoladeküsse, die alle unter dem Staniol ein kleines Papier mit einem Spruch enthalten. Und weisst du was auf meinem stand? ”On ne voit bien qu’avec le coeur” :-)
*
Du möchtest dass wir Proust zusammen lesen? Aber chéri, wie kannst du mir das nur zumuten, wo ich doch ständig mit der Zeit kämpfe. Ich kenne die Frau (nur flüchtig) die "À la recherche ..." ins Schwedische übersetzt hat. Ich glaube sie hat 30 Jahre dazu gebraucht. Nun, beim Aufräumen in den Bücherschränken hier oben, habe ich so viele Bücher entdeckt, die ich noch nicht gelesen habe. Ich könnte mich gut ein paar Monate damit beschäftigen. Du sagst, dass du ein Buch über die Wikinger rezensiert hast. Wie heisst es denn? Ja, die guten alten Wikinger, das war so eine Sorte von rohen Burschen. Hast du übrigens schon ”Röde Orm” gelesen von Frans G. Bengtsson? Es gehört zu unserem Kulturschatz und ist sehr lesenswert. Ich glaube es würde dir gefallen. Der deutsche Titel ist : Die Abenteuer des Röde Orm , herausgegeben von: Deutscher Taschenbuchverlag, München.
*
Ich habe auch ein paar Gedichtsammlungen gefunden. Eins:”Französische Gedichte Von Baudelaire bis Saint-John Perse” und das andere ”Deutsche Gedichte von 1900 bis zur Gegenwart”. Aus Spass habe ich mir gesagt ich schlage irgendein Gedicht auf und sehe ob es etwas über uns sagt. Und schau mal was ich fand:
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, dass diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
und viel zu grauenvoll als dass man klage:
Dass alles gleitet und vorüberrinnt.
...
Es ist von Hugo von Hoffmansthal und heisst ”Über Vergänglichkeit”.
Nun, wir nehmen es mit einem Lächeln. Wenn auch unsere Liebe nicht ewig dauernd würde, so glaube ich doch dass wir eine Freundschaft haben, die bestehen wird.
Ich hatte dir versprochen noch heute zu schreiben (und das habe ich ja auch getan ;-) aber leider werde ich es nicht heute abschicken können. (---) Natürlich bin ich dabei wiederum etwas ängstlich, dass mein lieber Wolf in seinem grossen Hunger etwas ungünstiges frisst.. Wie du siehst bin ich überall von Gefahren umgeben und kreuze sozusagen zwischen Skylla und Karybdis.
...
KKK
Marlena