Subject: Perforationen...
Date: Mon, 28 Feb
Liebe Marlena
Heute
ist Montag Morgen. Ich bin – halte dich fest – um 0600h auf den Zug
gegangen. Es war noch stockdunkel. Die Fahrt nach L dauert
ungefähr 10 Minuten. Alle im Zug haben noch gedöst oder geschlafen. Es
waren vor allem Arbeiter, nehme ich an. Die Büroleute fahren erst um
0700 oder 0730h. Um diese frühe Zeit aber fahren die Arbeiter. Als
ich in L. ausgestiegen bin, war es immer noch dunkel und etwas
kühl. Neben dem Bahnhof liegt ein altes Haus mit Garten. Dort haben
Vögel gepfiffen, als ob Frühling wäre. Wahrscheinlich haben sie sich
gegenseitig Mut gemacht angesichts der kühlen Morgenluft. Das kann man
eben anthropomorph anschauen. In der Tat ist der biologische Sinn des
schönen Vogelgezwitschers die Rivalität, die Konkurrenz, das grosse
Prinzip der Evolution, kurz the struggle of life.
Aber zurück ins
stockfinstere L. Ich habe also diese Vögel in den muntersten
Tönen singen gehört und die goldene Morgendämmerung über den Bergen
gesehen. Dazu ergab sich das Gefühl, einer der ersten zu sein (The first
bird catches the worm, pflegte mein Englischlehrer zu sagen). Das ist
kein schlechtes Gefühl für den Montag Morgen. Ich hasse es, der letzte
zu sein. Das kann ich nicht ausstehen.
Wenn ich so früh um 0615h
ins Büro komme, dann mache ich mir als erstes einen dunkeln Kaffee.
Vorher geht gar nichts. Und als zweites habe ich dann deinen schönen
Brief aus dem PC gezaubert. Das war wirklich ein feiner und auch ein
lieber Brief, eine schöne Überraschung an einem verzwitscherten, mit
Morgenrot gesegneten Februarmorgen! Es ist absolut fantastisch, so früh
schon einen freundlichen Brief öffnen zu können! Ich danke dir dafür,
liebe Marlena, er hat mich sehr erhellt und positiv gestimmt. Er hat
geradezu gegen meine Erkältung gewirkt wie Alkazyl. Alkazyl ist mein
Standardmedikament bei Halsweh, Erkältung, Fieber, Kopfweh und so
weiter. Es wirkt fast gegen alles. Vielleicht nicht gegen Liebeskummer
(maladie d'amour, wie du so schön gesagt hast). Im Grunde habe ich zwei
Standardmedikamente: Alkazyl und Alkaseltzer. Zweiteres wirkt gegen
Magenverstimmung, wenn man zum Beispiel zuviel getrunken hat. Mit diesen
zwei Mitteln komme ich praktisch durch das Leben. Damit kann ich mich
meistens retten. Und langsam werde ich in Zukunft nun also Alkazyl durch
Marlenas Mails ersetzen. Die Apotheken werden protestieren, und die
Ärzte werden bedenklich ihre Stirn in Falten legen. Aber das ist gut so.
Du hast gesagt, mein Brief wäre eigentlich ein trauriger Brief. Ich
habe weder bemerkt noch gewollt. Ich glaube nicht, dass ich wirklich
traurig war. Dieser Vanitas-Gedanke ist eher intellektuell, nicht sehr
gefühlsmässig. Ich war einfach ein bisschen krank und reduziert. Dass du
mich angesteckt haben könntest, war ein Scherz. Und ein Glückspilz war
ich eigentlich auch nicht, denn am Wochenende krank zu sein ist eben so
schlimm, wie während der Sportferien krank zu sein. Wahre Glückspilze
aber sind während der Arbeitszeit krank. Aber es war ziemlich gut, einen
Moment in deinen Armen zu liegen. Ich habe den Brief eben nochmals
durchgelesen. Vielleicht weiss ich, was du meinst. Doch darin ist
vielleicht eher ein weltanschaulicher Pessimismus als eine wirkliche
Traurigkeit. Camus war ein philosophischer Pessimist, aber bestimmt kein
trauriger Mensch. Oder irre ich mich da? Nun, ich bin natürlich kein
Camus. Ich bin nicht in der mediterranen Sonne Algeriens aufgewachsen,
die dir Vitamine gegen die Traurigkeit einzuimpfen pflegt. Nein, das bin
ich wirklich nicht. Und sicherlich habe ich auch gelegentlich meine
kleinen Depressionen, die habe ich sicher. Aber bei diesem Schreiben
habe ich es kaum bemerkt. Doch das will ich gerne zugeben, dass andere
Menschen manchmal mehr sehen und mehr merken als der Betroffene selbst.
Das
Bild Bruegels hat es mir sehr angetan. Ist es nicht eines der schönsten
Bilder europäischer Kultur? Ich glaube, Bosch hat auch irgendwo so ein
Riesending gemalt. Und es ist ästhetisch in diesem Zweifel zwischen
Optimismus und Pessimismus. Ist es eine Ruine oder bloss eine Baustelle?
Wird noch gebaut oder wird schon abgebrochen? Geht's hinauf in den
Himmel oder geht's doch eher zur Hölle? -- Manchmal, wenn ich Zeit habe,
zeichne ich gelegentlich Cartoons. Und eine meiner Ideen war es vor
einiger Zeit, diesen Turm Bruegels zu zeichnen, den fast jeder kennt,
und dahinter ein riesiges Hochhaus, das noch um Einiges höher ist und
weit über die Wolken hinausragt, auf dem die Reklame leuchtet:
CONSULTING. Das finde ich einen guten Einfall, und du? Ich habe das Bild
damals einem Freund geschenkt. Er ist Professor an der Universität
Zürich und hat ein eigenes Institut zur Integration der Fakultäten und
fachlichen Perspektiven. Er war begeistert und hat meine Zeichnung auf
einen Regenschirm kopieren lassen, um sie jetzt den Leuten zu verteilen.
Ich muss zwar sagen, dass die Zeichnung auf dem Schirm wirklich nicht
mehr gut aussieht. Aber seine Begeisterung hat mich doch gefreut.
Der
Turm Bruegels ist schon ein Renaissance-Turm, gross und die Welt
sprengend. Eine wahre Attacke gegen Gott, gotteslästerlich, wie die
Aufklärung auch, in ihren letzten Konsequenzen. Die mittelalterlichen
Türme der Gotik sind dagegen bescheiden und brav, sehr menschlich und
subaltern, runde Türmchen meist, die den Anschein des endlosen
gottergebenen Zerfalls haben. Sie sehen in unseren modernen Augen
ziemlich romantisch aus. Die Türme der Renaissance dagegen sind wie
Capes Canaverals, hybride Installationen, die die Welt aus den Angeln zu
werfen gedenken. Eigentlich sind sie skandalös. Aber schön! Ich liebe
das Bild sehr, denn es gibt den Eindruck einer göttlichen Übersicht. Vom
Himmel schauen wir hinunter auf diese Welt (dieser Gesichtspunkt ist
vielleicht noch mittelalterlich und traditionell). So muss die Sache für
den lieben Gott ausgesehen haben, als der Montag morgens das Fenster
öffnete, um sein Bettzeug zu durchlüften und sein Nachthemd
auszuschütteln. Wahrscheinlich ist er ziemlich heftig erschrocken, eine
solchen Backsteinhaufen vor seinem Schlafzimmerfenster vorzufinden.
„Skandalös", muss er in den langen Bart gemurmelt haben, und irritiert
nach Petrus geleutet haben. Die babylonische Sprachverwirrung kann man
durchaus als Rache Gottes gegen die menschliche Hybris verstehen. Aus
Sicht des Allmächtigen ist wirklich nicht einzusehen, warum die kleinen
Dinger, die Menschen, jetzt plötzlich in den Himmel klettern sollten?
(---)
Habe ich dich wirklich mit Fragen
bombardiert? Ich weiss ich weiss, ich hätte noch viele mehr davon
gehabt. Anfangs dachte ich, du magst das nicht, wenn ich direkte Fragen
stelle. Aber dann hast du dich doch gewundert, warum ich zur Bemerkung,
deine Mutter wäre das „schwarze Schaf" gewesen, nicht gefragt hätte.
Also, abgemacht, ich frage, soviel ich Lust habe. Ich perforiere dich
wie in einem Western-Film, wenn ich Lust dazu habe. Und du antwortest,
soviel du Lust hast. Und das ganze umgekehrt. Ich habe viele Fragen,
weil mich das Leben interessiert. In den letzten Jahren habe ich viele
Biographien gelesen, um irgendwie ein Verständnis für das Leben, dh. das
biographische Leben zu bekommen. Ich habe mir vor allem Biographien von
Malern angeschaut. Denn bei den Malern kann man das Leben und ihre
Arbeit noch im Nachhinein vergleichen. Man hat die Biographie und man
hat die Werke. Und das ergibt doch irgendwie ein ziemlich umfassendes
Bild. Nicht wissenschaftlich habe ich das studiert, nur so, halb zum
Zeitvertreib. So habe ich natürlich auch zu deinem Leben viele Fragen.
Geschichten und Lebensgeschichten sind natürlicherweise interessant.
Geschichten sind das Leben. Die Perser können tagelang Geschichten
erzählen. Manchmal fragt man sich, warum sie es erzählen, denn viele
haben für unser Empfinden keine Pointe. Doch wenn es gute Geschichten
sind, wird allen klar, warum sie erzählt werden. Geschichten können
sogar heilen, haben wir von Scheherzade gelernt. Und wir beide – du und
ich - haben den Vorteil, dass wir uns nur per Mail kennen. Beim Mail
kann man sich die Fragen auswählen, die man beantworten will. Die
anderen übergeht man einfach. Im Gespräch wäre das nicht gar so einfach.
Dort wäre es geradezu ein Affront, aber im Mail ist es ok!
Im
Moment lese ich ein Büchlein von einem Landsmann von dir. Es ist für
Jugendliche geschrieben, und ich soll eine Rezension verfassen. Der
Originaltitel heisst „Meningen Med Livet", ist von Ragnar Ohlsson
geschrieben und bei Alfabeta Bokförlag AB Stockholm 1998 erschienen. Der
Autor ist offenbar Professor für politische Philosophie und normative
Ethik an der Universität Stockholm. Er beschäftigt sich unter anderem
mit Philosophie für Kinder, was ja auch dein Thema ist! Ich kann dir
noch nicht viel über dieses Büchlein sagen, denn ich habe mit der
Lektüre erst angefangen. Es scheint mir ziemlich gut kalkuliert und klar
aufgebaut. Es geht dabei um Willensfreiheit, also um menschliche
Verantwortung, um Ethik also, aber auch um den Sinn des Lebens. Aber ich
werde mich sicherlich hüten, über einen schwedischen Professor eine
schlechte Kritik in die Welt zu setzen. Dir zuliebe! Vielleicht kann
sich Herr Ohlsson dann einmal bei dir bedanken, vielleicht!
So
komme ich bei meinem Montags-Brief langsam zum Ende. Ich weiss noch
nicht, wie die Woche laufen wird. Ich fühle mich immer noch krank.
Vielleicht brauche ich noch ein oder zwei Alkazyl. Also sieh dich vor,
Marlena. Vielleicht bin ich bis Mittwoch wirklich im Bett und damit
endgültig ein Glückspilz. Vielleicht.
Ich wünsche dir eine gute Zeit und sende einen lieben Gruss
...