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Liebe Marlena
Ja, das Glück, wer es unbedingt haben will,
der hat es schon verloren. Und wer vielleicht gar nicht daran denkt,
dem fällt es zu. Ist Glück nicht einfach eine Konstruktion.
Glück ist
sozusagen eine Kategorie der Geschichtsschreibung, oder
Biographie-Schreibung, müsste ich hier sagen. Ich werde nicht müde, an
die alten Leute zu denken, die noch den Krieg erlebt haben, und die über
diese alten Zeiten so begeistert und mit Hingabe erzählen, als ob es
das grösste Glück gewesen sei. Sie erzählen strahlend, wie sie gehungert
haben, wie sie sich gegenseitig aufeinander verlassen mussten, welche
Mühen das Leben mit sich gebracht hatte und so weiter und so fort. Es
gibt für uns Jüngere nichts, woraus wir schliessen könnten, dass das
Leben damals besser oder positiver gewesen sein könnte. Es liegt alles
nur in der Erzählung jener älteren Leute.
So heisst das doch, das
Glück sei sozusagen die Sauce ihrer Erzählung, das Beigemischte, das
Bindemittel, das Dressing würde man vielleicht auf Englisch sagen.
Während das Leben gut oder schlecht, positiv oder negativ sein kann, so
ist es jeder Mensch, der das alles schliesslich in die Hand nimmt und zu
seinem Vorteile mit seinem selbst gewählten Farbfilter anschaut. Und
dann kommt es so heraus, dass Optimisten Glückskinder sind und
Pessimisten Pechvögel. Ist das nicht so? Ist es vielleicht zu sehr
psychologisch interpretiert?
Wenn es denn so wäre, müsste man
sagen, das Glück liege nicht im Leben, sondern im Blut. Und es ist doch
wirklich nicht ganz ohne, zu behaupten, man würde schon den Kindern bis
zu einem gewissen Grade ansehen können, ob sie glückliche oder
unglückliche Menschen würden. Klar, vielleicht ist das Blut noch nicht
ganz fertig. In der Pubertät gibt es noch starke Veränderungen. Die
kindliche Naivität und Fröhlichkeit verschwindet plötzlich und es kommen
Hemmungen zum Vorschein und Sorgen über irgendwelche Dinge.
Aber ich
halte daran fest, dass das Glück eine Sache des Dressing sei. Es gibt
französisches, italienisches und jenes mit Knoblauch. ;--) Und
vielleicht ist es ja auch etwas vermessen, gleich das grosse Glück zu
wollen. Vielleicht müssen wir uns damit begnügen, zufrieden zu sein. Wie
die Mrs Dalloway auf dem Bett liegend zu ihrer Tochter sagt: Glück ist
eine Sache von Momenten. Und in diesem Glücks- Moment durchdringt es die
ganze Zukunft. Aber wirklich dauert es nur einen kurzen Moment. Die
Mächtigkeit hat das Glück, indem es in diesem Moment die ganze
Vergangenheit und Zukunft überstrahlt. Es ist wie ein Infrarot-Strahler,
der im Moment angestellt ist. Aber sobald du den Schalter drehst, ist
alles wieder ganz normal und - von Weitem besehen - grau in grau.
Ich
habe einen Philosophen gefunden, der sich mit der Lebensphilosophie
auskennt und sich dort spezialisiert hat. Ich habe auch schon mit ihm
gemailt. Er lebt in Berlin und hat viel Michel Foucault studiert. Sein
Buch ist zwar nicht sehr lebendig und erlebnismässig, sondern eher eine
Systematik. Aber ich habe sie sehr gerne gelesen. Zumindest habe ich bei
ihm erkannt, wie sehr zum Glück das Unglück gehört.
Vor 5 Jahren habe ich nicht gewusst, dass Unglück, die negativen Seiten, das
Leiden
im Leben so wichtig sein kann. Wenn man es sich unvoreingenommen
anschaut, kann man sagen, das Leben sei eine Wellenbewegung. Mal fühlt
man sich oben im Glück, mal unten im Pech. Und die grosse Frage ist, wie
Du über diese Wellenfahrt erzählst. Erzählst Du von den Höhen und
Spitzen, oder kostest Du die Tiefen und Pechsträhnen aus? Aber die
Wellenberge sind nur möglich, weil es dazuwischen auch Wellentäler
gegeben hat. Wenn es eine steife Linie gewesen wäre, könntest Du weder
über Glück noch über Unglück reden. Du wüsstest nicht, was das ist. Aber
die Wellen sind es. Sie sind wie Sonnen- und Regentage. Jeden Tag
Sonne, das ist schon fast grauenhaft, auf jeden Fall ist es nicht einmal
ein Gesprächsthema. Perser können nicht über Sonnenwetter reden.
Höchstens im Winter, wenn sie etwas Schnee haben.
Unglück ist also,
wenn man es so anschaut, reculer pour mieux sauter, der Anlauf für das
Glück. Und je tiefer du durch musstest, desto höher wird später das
Glücksgefühl sein.
Wer das so zu betrachten vermag, und darin liegt
vielleicht das Paradox, der wechselt förmlich seine Perspektive und
meint schliesslich, das eigentlich Glück im Leben sei das Pech. Das Pech
erlaubt mir erst, Glück zu erleben, an vergangenem Glück zu freuen,
oder mich auf das neue Glück vorzubereiten.
Habe ich Dir nicht
kürzlich erzählt, dass man das Glück sogar empirisch erfragt hat bei
zwei Extremgruppen: bei durch irgend einen Unfall Körpergelähmten und
bei Lottogewinnern? Und das Resultat: beide sind nach einem halben Jahr
ungefähr gleich glücklich oder unglücklich. Lottogewinner mit ihrem Geld
haben nach der Gewöhnung mehr die Sorgen, die sie spüren. Und Gelähmte
können im Rollstuhl genauso glücklich sein wie wir alle.
Liebe
Marlena, Du siehst, Du hast mich an einem Thema erwischt, welches mich
brennend interessiert. Und wenn ich ein Schriftsteller wäre, ich würde
darüber einen Roman schreiben, nämlich den Menschen zu zeigen, dass
Glück eine ganz persönliche Konstruktion ist. Jeder ist für sein Glück
selbst verantwortlich. Glück gehört dem Tüchtigen, sagt man auch, und
meint dasselbe. Aber wir modernen Menschen, die wir vom teuren
Sozialstaat verwöhnt sind, erwarten das Glück oft von aussen, als ein
Geschenk. Und dagegen müsste man beten, dass uns die Vorsehung vor dem
Pech schützen möge, einen Hauptgewinn im Lotto zu machen.
Lotto ist
ja für viele Menschen die Glücksagentur. Wenn sie Glück erwarten, dann
von dort. Und dabei würde ein Mensch, wie er Anfang des letzten
Jahrhunderts gelebt hatte, bei einem Durchschnittseinkommen von heute
wie ein König leben.
Lustig, gerade gestern habe ich ein kleines
Büchlein aus meinen Büchern geholt: De vita beata von einem gewissen
Seneca, von dem Du bestimmt auch schon gehört hast. Er war der
Hausphilosoph und Erzieher Neros, hatte also jede Menge Gelegenheiten,
unglücklich zu sein, und hat sich auch selbst schliesslich umgebracht,
urrömisch und urmännlich im Bade, wenn ich richtig informiert bin.
Bestimmt würde er heute sagen, wenn er mitreden könnte, dass er sich
glücklich wähne, dass sein damaliger Suizid so gut geglückt sei.
"Über
das glückliche Leben". Es ist zwar ein wenig umständlich geschrieben,
und - verständlicherweise - nicht in jeder Beziehung so, wie wir heute
denken. Aber es sind ein paar interessante Überlegungen und
Gesichtspunkte in. Und natürlich mag ich es, wenn ich neben dem
deutschen Zitat noch das lateinische habe. Manchmal klingen die Lateiner
ja so kurz und so gut und prägnant, wie man es heute mit unseren
Sprachen nicht mehr sagen kann.
Kurz und gut: Marlena, soll ich
alles in allem sagen, Glück sei die erste und die wichtigste Lebenslüge?
So vielleicht würde es Nietzsche formulieren, mit seiner Neigung zur
Entlarvung. Aber eine solche Aussage verleitet schon wieder zum
Unglücklichsein. Wir brauchen eine Definition, die selbst mithilft,
glücklich zu sein. Deshalb finde ich den Begriff des Dressings, den ich
oben gefunden hatte, gar nicht schlecht. Er klingt pragmatisch und ein
bisschen kulinarisch. Das versteht jeder Mensch.
Das also war die Familiensparpackung über das Glück, seine Rezepte und
dessen vier Seiten. Ich hoffe ...