Donnerstag, 25. November 2021

Onkelchen erzählt ...

 Liebe Marlena

Lenzburger Schloss

Am Sonntag Abend fahren S und ich zu einem Onkel in L.. Jeden Sonntag tun wir das. Unser Onkel ist jetzt 92 Jahre alt. Vor 2 Jahren ist seine Frau gestorben. Und nun lebt er alleine in seinem schönen Haus direkt unterhalb des alten Schlosses, von dem du mir die Fotos geschickt hast. S bereitet eine schöne Mahlzeit vor, ich decke ordentlich den Tisch und öffne die Vorhänge, damit man zu fortgeschrittener Stunde frei aus dem grossen Fenster hinunter auf die Lichter der Stadt sehen kann. Man hat von hier oben eine wunderbare Aussicht auf die Ortschaft, weit hinten auf die Jurahügel und auf die untergehende Sonne. Und der alte Onkel geht mit kleinen schlurfenden Schrittchen in den Keller und holt eine schöne Flasche Yvorne. Und so essen wir zusammen am Sonntag Abend und wir plaudern ein bisschen. Am liebsten isst er gebratenen Lachs, ein bisschen Gemüse, voraus einen knackigen Salat und dazu den goldenen Yvorne, einen Weisswein aus dem Wadtland.
 ...

Mit Onkel K also sitzen wir sonntags zum Nachtessen zusammen, und er kommt ins Erzählen. Und er hat viel zu erzählen aus diesem Jahrhundert, das er fast ganz und von A bis Z miterlebt hat. Sein Gedächtnis ist noch wunderbar intakt. Und er war immer ein guter Plauderer und Erzähler gewesen. Mit ihm hatte ich mich stets bestens unterhalten, wie ich das mit meinem Vater nie gekonnt habe. Mein Vater ist ein technischer Mensch. Ihm fliessen die Gedanken nicht. Aber K. ist ein wunderbarer Erzähler mit einem fantastischen Erinnerungsvermögen für Geschichten und Episoden.

Beispielsweise erzählte er von seiner Zeit, da er als junger Mann im marokkanischen Fes, in Nordafrika gearbeitet hatte. Es muss kurz nach dem ersten Weltkrieg gewesen sein. Und Nordafrika war zu jener Zeit für Europäer, umso mehr für Schweizer ausserhalb der Grenzen der bekannten Welt, ausserhalb der Landkarte. Für ein Jahr hatte er in Fes eine Confiserie geführt und Erfahrungen mit Arbeitern aus dem Maghreb gesammelt. Und oft soll die Kinderfrau mit ihrem kleinen Zögling Hassan in das Geschäft gekommen sein, um einzukaufen. Hassan, der spätere König Hassan II. von Marokko, der damals ein kleiner Junge gewesen war, wollte in der Backstube das Feuer sehen. Kurt musste den Ofen öffnen und er warf eine handvoll (vielleicht heute Hand voll?) Salz in die Glut, so dass die Flammen aufwallten und emporschlugen. Der kleine Hassan soll jedes Mal wieder von neuem von diesem Spektakel begeistert gewesen sein.

Und er erzählt von seiner Elisabeth, mit der er ein Leben lang gemeinsam dieses Geschäft in L. geführt hatte und die immer eine etwas eigensinnige Frau gewesen war. Er sagt, und das fand ich rührend, er sagt, dass er sich heute besser mit ihr unterhalten könne, da sie gestorben sei. Früher seien sie immer wieder in Streit geraten, weil Elisabeth partout auf ihre Meinung zu beharren pflegte. Aber heute, da sie tot ist, sei das alles viel leichter und besser geworden. Sie sei jetzt umgänglicher.
Es ist schön zu hören, wie zwei Menschen zusammen in Loyalität und Liebe gelebt haben, und zu hören, wie relativ Liebe im praktischen Alltag ist. Wir jüngeren Generationen halten die Liebe für eine rein romantische, rein gefühlsmässige Angelegenheit. Doch früher war das primäre Ziel der Ehe die nackte materielle Existenz und das oekonomische Überleben. Gerade die höheren gesellschftlichen Kreise haben nicht aus Liebe geheiratet, sondern um die Interessen ihrer Familien zu wahren. Wenn sich daraus Liebe ergeben haben sollte, so war es ein Glücksfall.

Und dabei fällt mir bei K. und E. die schöne Geschichte von Philemon und Baucis ein, die man in Ovids Metamorphosen finden kann. Die alten und armen Eheleute Philemon und Baucis haben sich mit der gastlichen Aufnahme von Jupiter und Merkur (waren es diese beiden?) einen Wunsch verdient. Und sie wünschten sich, dass keiner den anderen überlebe, dass keiner das Schicksal zu ertragen habe, den Tod des andern betrauern zu müssen. Dieser Wunsch wurde ihnen gewährt und sie sind beide in je einen Baum verwandelt worden, die in naher Nachbarschaft noch heute beisammen stehen sollen.

Ich danke dir für die ...

Mittwoch, 24. November 2021

Pessoa Das Buch der Unruhe

 19 Juni


Liebe Marlena,
....
Ich bin wieder mal mit einem Buch beschäftigt. Es gibt eine Neuerscheinung des "Buches der Unruhe" von Fernando Pessoa. Du erinnerst Dich, ich habe den portugiesischen Autoren längst empfohlen. Das Buch stammt aus seinem Nachlass, aus einer riesigen Truhe voller Notizen. Man sagt, es wäre eine Biographie ohne Fakten und alles in allem in einer heiteren Melancholie geschrieben. Ich bin nahe dran, diesen dicken Schmöker zu kaufen, aber ich weiss, dass ich ein "Buch der Unruhe" in Taschenausgabe bereits habe. Es enthält eine Auswahl von denselben Notizen, vielleicht nicht so viele, aber immerhin. Ich wollte darin ein bisschen lesen. Aber ich finde das Büchlein zur Zeit nicht. Ich weiss einfach nicht, wo es zu suchen wäre. Ich habe schon Walter bedrängt, er solle mir das Ausgeleihte endlich wieder zurückgeben. Er schwört, er hätte es nicht. Ich knie Norma auf der Seele, weshalb sie mir das Buch nicht endlich zurückgibt. Sie wird hysterisch und weiss von keinem solchen Buch. Kurt lacht bloss und sagt, er lese seit zwei Jahren wieder in der Bibel. Corinne frage ich nicht, sie liest kaum. Aber Yasmin ist eine emsige Leserin. Aber ich könnte mich nicht erinnern, ihr mal ein Buch geliehen zu haben. Und wenn ich Maya eines gebe, dann schreibe ich es mir auf ein Kärtchen auf. Das habe ich mindestens bisher so gehalten. Natürlich mit Ausnahmen, Du weisst ja, wie inkonsequent ich sein kann. Auch Albert beteuert, von einem Pessoa nie etwas gehört zu haben. Kurz und gut, ich weiss nicht, wo ich mein Buch der Unruhe finden kann, und das macht mich unruhig. Es ist nämlich wirklich wundervoll geschrieben und voller Lebensphilosophie. Und dazu muss man sich immer dieses warme Lissabon vorstellen, diese Perle am Atlantik, wo die kühlen Bisen herblasen. Deshalb habe ich das Büchlein von Tabucchi sosehr genossen. Es hat mich an Pessoa erinnert. Man könnte Pessoa mit Kafka vergleichen. Es sind ähnlich kryptische, vielleicht ein bisschen lebensuntüchtige Persönlichkeiten, und sie schreiben mit ähnlichem Tiefsinn. Das Buch ist ein Fundamentstein im Ursumpf, das etwas Halt geben kann. Lies es, Marlena, wenn Du kannst.
*
Ich wünsche Dir einen schönen Tag.
Mit lieben Grüssen
...

 

Dienstag, 23. November 2021

Pessoa - "Oro"

 Ämne: Oro  

 2 juli

 Lieber ...,

Immer wieder suche ich nach dir... aber du bist nicht .. wo du sein sollst.... Vielleicht hast du dich einen Tag frei gemacht und bist irgendwohin verschwunden zu einem fremden Abenteuer.

Ich habe gestern, du wirst staunen, das Buch der Unruhe in unserer Bibliothek gefunden. Das hat mich überrascht, denn ich hatte nicht damit gerechnet. Und noch dazu ganz neu war es. Niemand hat es vor mir geliehen. Nun bin ich glücklicher "Besitzer" dieser Unruhe bis zum 26 August. Und ich werde die Lücken, die du in meinem Leben lässt, mit Unruhe ausfüllen... was ich ohnehin schon tue.. auch ohne Pessoa.

Grüsse dich lieb. Bleib mir treu ;-))
Marlena

*

Re: Oro

Liebe Marlena

Es freut mich, dass Du unseren Pessoa doch noch gefunden hast. Und es scheint, Du bist die Avangarde Schwedens. Du wirst Aufsehen erregen, wenn Du über ihn sprichst. Und wenn die Leute fragen, wer denn dieser Pessoa sei, dann sagst Du, ganz Europa spricht über ihn. Und dass sie alle über ihn sprechen, das wird Dir einleuchten, wenn Du ein Teil des Buches gelesen hast. Es hat was an sich, das schwer zu beschreiben ist. Man hat gesagt, es sei ein Tagebuch ohne Handlung. Eine Biographie ohne Bio. So irgendwie. Und die Tonart sei fröhlich-melancholisch irgendwie. Na, klingt das nicht verlockend?

Und dazu darf man sich wohl Lissabon vorstellen. Diesen Hintergrund habe ich immer präsent gehabt während der Lektüre. Und ich hatte ihn aus diesem Film Tabucchis "Erklärt Perreira". Jetzt, wo ich diese beiden Dinge im Mail zusammenbringe, fällt mir auf, dass Tabucchi wohl die Hauptrolle Pessoa auf den Leib geschrieben hat. Oder andersherum gesagt: er hat sie von Pessoa abgeschrieben. Sie wird hinreissend gespielt von Mastroiani, wie ich Dir schon erzählt hatte. Der ist zwar ein ältlicher Geniesser, und nicht ein asketischer Typ wie Pessoa. Trotzdem, ich glaube, Tabucchi hat sehr an Pessoa gedacht, als er dieses Buch geschrieben hat. Tabucchis Frau ist Portugisin und Professoressa. Sie haben zusammen Pessoa übersetzt.

Ich glaube, in den nächsten 14 Tagen bist Du beschäftigt mit Pessoa. Ich lass Dich wohl besser etwas in Ruhe. Schreib mir die schönsten Zitate, die Dir auffallen. Das wäre nett und würde mich sehr freuen. Hast Du das Buch in Schwedisch? Ist es übersetzt? Oder etwa Deutsch, was ich mir wünschte! Wie Du weisst, habe ich eine leicht kürzere Variante, als die, die jetzt herausgekommen ist, einmal irgendwo als Taschenbuch erstanden. Und das Büchlein, das ich vielleicht noch vor 4 oder 5 Monaten zuoberst auf meiner Beige hatte, finde ich nicht mehr. Es ist wie verhext. Oft, wenn ich ein Buch suche, dann ergibt es sich innert einer oder zwei Wochen, dass ich es da oder dort find,e, weil ich ständig ein Auge danach habe. Aber bei diesem Pessoa ist es anders. Er scheint sich echt zu verkriechen. Und ich versuche mich daran zu erinnern, an wen ich ihn ausgeliehen haben könnte. Walo hat schon seine Unschuld beteuert. Und jemand anderen kann ich mir kaum vorstellen, ausser vielleicht noch meine Töchter. Aber ihnen hätte ich Pessoa kaum gegeben. Dafür sind sie zu jung. Die wollen mehr Action in ihrer Lektüre. Deshalb giere ich momentan so nach Pessoa. Und ich bin nahe daran, diese neue, dicke und teure Ausgabe zu kaufen. Lange kann ich die Luft nicht mehr anhalten.
*
Abgemacht, Du schreibst mir, was Dich an Pessoa beschäftigt? Dann haben wir eine feine Diskussion und ich habe die Zweitlektüre, die ich mir schon lange sehnlichst wünsche. Noch dazu durch Marlenas Seele. Das wäre wirklich wunderbar.

Mit Gruss und Kuss
...

PS

Was eigentlich heisst Oro?  Klingt wie Latein (ich bete)?
Ora et labora = bete und arbeite.



Sonntag, 14. November 2021

Epistel von ...



Lieber  ...

(---)

Zu Goethes Faust möchte ich dir sagen dass ich die Gründgens-Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses ( Deutsche Grammophongesellschaft, Literarisches Archiv) besitze. Wenn du das einmal gehört hättest würde dir der Faust auch gefallen. Es ist mit Schauspielern wie Paul Hartman, Gustaf Gründgens und schliesslich Käthe Gold als Gretchen. Es ist ganz einfach einmalig. Ich habe übrigens die Universität mit dieser Vertönung bereichert (sicher zu grosser Freude aller Deutschstudierenden). Denn es nur zu lesen kann nie dasselbe sein.

Was könnte ich dir sonst noch erzählen? Mein Leben ist zeitweise ziemlich uninteressant und manchmal träume ich davon es radikal zu ändern. Möchte eine Zeit in die Welt hinaus, neue Milieus erleben... aber ich habe einen "husband" (dieses komische Wort :-), der mich ans Haus bindet und so werde ich wohl alle diese Träume weiterhin nur in meiner Fantasie ausleben können. Manchmal stelle ich mir einen Tag mit dir in Paris vor und was wir alles tun würden. Natürlich gehen wir auf derselben Strassenseite. Du legst sogar dabei deinen Arm um meine Schulter (vielleicht nur weil du von dem vielen Wandern müde geworden bist und mich als Stütze benutzen willst ;-) Aber es ist trotzdem schön und du erzählst mir so viel von dem ich noch nichts gewusst habe. Ich werde fast krank vor Sehnsucht wenn ich daran denke....
Ich liebe Paris. Es ist mit meiner Jugend verbunden genau wie das Wallis mit deiner.

---

Dienstag, 9. November 2021

Klar ...

 

...mein lieber Mausfreund,

Du hast ganz Recht. Mein Hunger nach anderen Menschen ist enorm. Doch du weisst von früher, dass K und ich sehr verschiedene Menschen sind. Ich will doch Leute einladen. Ich will Gesellschaft haben. Es hängt absolut nicht an der Frage was man anbieten sollte oder so. Ich bin doch nicht S. Weisst du das denn immer noch nicht? Ich weiss, dass sich jeder freuen würde und wenn ich nur eine Tasse Kaffee hätte. Das Zusammenkommen ist das Wichtige. Alles rundherum ist doch egal. Obwohl es mir natürlich auch grossen Spass macht Leute zu verwöhnen. Genau wie es deine S einst getan hat.

Was ist also das Problem? K.. !  Er will nicht. Er bevorzugt ein gutes Buch vor einem lebenden Menschen und verurteilt auch mich somit zu "Hausarrest" oder sollte ich sagen Isolierungshaft. War es nicht die, vor der du geflohen bist???? Wie wäre dein Leben gewesen, wenn du geblieben wärest???

Ich habe wieder angefangen zu lesen. Es gab eine Periode, wo ich das nicht konnte. Jetzt denke ich manchmal "dieses Buch gibt mir mehr als ein Gespräch mit irgendeiner Person aus meinem Bekanntenkreis". Vielleicht ist das Selbstbetrug.. oder auch die Wahrheit. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit von einem prominenten Mann gelesen, dass er sich nun von anderen Menschen ganz zurück gezogen hätte und nur mehr mit Büchern umgeht. Es wäre ihm zu Schade um die Zeit.

Es gibt viel zu beantworten in deinen Mails. Ich komme darauf zurück.
Bis dahin alles Liebe
mit Gs und Ks
Malou

 

Montag, 8. November 2021

Montag

 

Liebe Malou
Ach Malou, mein altes und mein neues Leben. Manchmal denke ich, ich bin in einem neuen Film gelandet und versuche, mich an den alten zu erinnern. Und eigentlich bist du, ja du Malou, du bist die Klammer zwischen den beiden. Das Heftpflaster auf der Wunde sozusagen, das die beiden Hautenden zusammenhält. 
 
(---)

Jetzt komme ich gerade vom Lunch im Club. Wir haben Wild gegessen, echt herbstlich, und dazu einen Vortrag gehört über Medi24, eine Möglichkeit, telefonisch ärztlichen Rat einzuholen. Walter, ein Clubfreund und ehemaliger Arzt findet das Angebot ungeeignet. Aber natürlich ist er Partei. Die Leute am Telefon sind nicht Aerzte, sondern Krankenhilfepersonal. Sie befragen stur nach einem Fragebogen. Und das ist natürlich so gekonnt und flexibel und sensibel und aufmerksam wie ein guter Arzt es tun würde. Wahrscheinlich holen viele Leute dort eine Zweitmeinung, um zu kontrollieren, ob ihr Arzt auch wirklich das Richtige tue. Das jedenfalls meint Walter.
 
Und jetzt sollte ich wirklich noch kurz an die Arbeit.
Ich wünsche dir eine gute Woche.
Liebe Ks u. Gs und so
...


 

Samstag, 6. November 2021

7. November

 

Liebe Malou
Ich danke dir ganz herzlich für die guten Geburtstagswünsche. Und auch für das sms, das gestern plötzlich hereingeflogen ist. Und dass sie am 6. November Schweden beflaggen, ist mehr als richtig. Natürlich tun sie das auch ein bisschen wegen dem reformierten König mit seiner katholischen Tochter, die ich doch im St. Peter in Rom gesehen habe. Wir beziehen uns auf solche Dinge in einem Satz oder zwei. Das ist merkwürdig, wenn man bedenkt, wieviel Freud und wieviel Leid in solchen Ereignissen für die Betroffenen gelegen haben mögen.
 
Ja, du bist mein Heftpflaster Malou. Du bist diejenige Person, die  noch in meine tiefere Vergangenheit gesehen hat. Ich merke langsam, wie es ist, solcherart von der Vergangenheit abgeschnitten zu sein. Es wird nie mer möglich sein, sich voll zurückzuerinnern. Ich meine in einer Art, wie es eine Familie tut, wenn alle gemütlich zusammen sitzen und einer fragt: weisst du noch?. Natürlich kann man sich zurückerinnern. Aber die Erinnerungen werden nicht mehr ergänzt von andern Familienmitgliedern um sie zu einem vollen Bild zu komplettieren, vielleicht um Irrtümer aus dem Weg zu räumen, um starke Gefühle der Gemeinsamkeit aufkommen zu lassen.
 
Aber weisst du Malou. Ich habe da eine sehr merkwürdige Vorstellung. Ich weiss, wie sehr mich solche Erinnerungen melancholisch machen. Und je älter man wird, desto weiter reichen solche Vorstellungen in die Vergangenheit. Man fühlt sich wie ein Balanceur auf dem hohen Seil, der tief hinunter sieht. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Trennung sei auch der Versuch, von diesem hohen Seil herunterzuikommen. Jetzt ist die Vergangenheit sozusagen gestutzt, und verliert sich nicht mehr in unendlich weiten Hallen des Dämmerlichts.  ...


:-)



Lieber ...

Immer wieder staune ich darüber wie schön und interessant dein Leben
ist. Ich kenne es doch so gut. Glaubst du irgendein Paar auf der Welt
kann mit uns wetteifern was die Länge unserer Korrespondenz betrifft?
Ja, gewiss, es gibt Korrespondenzen die Jahre hindurch angehalten
haben. Aber sie sind aus Zeiten, wo ein Brief ein paar Tage brauchte
um den Empfänger zu erreichen. Man denkt nach 6 Jahren von täglichem
Gedankenaustausch müsste man allmählich alles gesagt haben und in die
"Stille einer Ehe" eintauchen. Doch immer wieder warte ich eifrig und
gespannt auf deine Gedanken und Reflexionen über das Leben.
Heute kann ich nicht mehr schreiben.  ...

Morgen ausführlicher.
Bis dahin alles Liebe und Gute,
Malou

Donnerstag, 4. November 2021

Re: Glück?

 

 


 Lieber ..,
"Mit seinem selbstgewählten Farbfilter..." sagst du. Vielleicht ist es so, aber ich glaube nicht dass wir das Filter ganz frei wählen. Es ist eingebaut in unsere Genen. Und wie du so richtig sagst, schon bei kleinen Kindern kann man sehen ob sie eine glückliche oder traurige Veranlagung haben. Ich liebe das Leben wenn es ruhig fliesst. Wenn ich Zeit habe Schritt zu halten mit meiner Seele. Und das, was wir Glück, oder besser gesagt "Glücksgefühl" nennen, kommt ungerufen. Es braucht keine grossen Anlässe dazu. Plötzlich ist es nur da, das herrliche Gefühl zu leben, vielleicht ausgelöst durch etwas Schönes, was man betrachtet oder von einem Musikstück.. Vielleicht könnte man Glück besser definieren als "nicht unglücklich", oder zumindest nicht so unglücklich, dass die kleinen schönen Augenblicke keine Chance haben.
In Kriegszeiten kommen sich die Leute näher. Sie fühlen eine grosse Gemeinschaft in ihrem Kampf im Alltag. Der Kampf zu überleben lässt ihnen auch keine Zeit zum Grübeln. Auch gibt es kaum Langeweile. Für so was hat man ganz einfach keine Zeit. Ich verstehe die Leute, die sich gern an solche Zeiten erinnern. Sagt man nicht auch, dass viele psychisch kranke Leute in Kriegszeiten plötzlich gesund werden?
Ach, chéri, ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das versucht es dem Lehrer recht zu machen. Soll ich es besser wieder deleten?

Ich habe einen langen Tag hinter mir. Hatte noch eine Konfernz am Ende des Tages. Man hat nun so wenig Geld in den Kommunen, dass man die Arbeitspflicht der Lehrer um ca 4,5 % erhöhen will. Und neben den aktuellen Schlagwörtern wie z.B. Qualitätssicherung sagt man plötzlich, dass man eine Qualitätsverschlechterung (?) akzeptieren muss. Ich glaube, ich brauche nicht mehr zu sagen.
---

Über Glück und seine Rezepte

 


Foto: Chris

Liebe Marlena

Ja, das Glück, wer es unbedingt haben will, der hat es schon verloren. Und wer vielleicht gar nicht daran denkt, dem fällt es zu. Ist Glück nicht einfach eine Konstruktion.
Glück ist sozusagen eine Kategorie der Geschichtsschreibung, oder Biographie-Schreibung, müsste ich hier sagen. Ich werde nicht müde, an die alten Leute zu denken, die noch den Krieg erlebt haben, und die über diese alten Zeiten so begeistert und mit Hingabe erzählen, als ob es das grösste Glück gewesen sei. Sie erzählen strahlend, wie sie gehungert haben, wie sie sich gegenseitig aufeinander verlassen mussten, welche Mühen das Leben mit sich gebracht hatte und so weiter und so fort. Es gibt für uns Jüngere nichts, woraus wir schliessen könnten, dass das Leben damals besser oder positiver gewesen sein könnte. Es liegt alles nur in der Erzählung jener älteren Leute.
So heisst das doch, das Glück sei sozusagen die Sauce ihrer Erzählung, das Beigemischte, das Bindemittel, das Dressing würde man vielleicht auf Englisch sagen. Während das Leben gut oder schlecht, positiv oder negativ sein kann, so ist es jeder Mensch, der das alles schliesslich in die Hand nimmt und zu seinem Vorteile mit seinem selbst gewählten Farbfilter anschaut. Und dann kommt es so heraus, dass Optimisten Glückskinder sind und Pessimisten Pechvögel. Ist das nicht so? Ist es vielleicht zu sehr psychologisch interpretiert?

Wenn es denn so wäre, müsste man sagen, das Glück liege nicht im Leben, sondern im Blut. Und es ist doch wirklich nicht ganz ohne, zu behaupten, man würde schon den Kindern bis zu einem gewissen Grade ansehen können, ob sie glückliche oder unglückliche Menschen würden. Klar, vielleicht ist das Blut noch nicht ganz fertig. In der Pubertät gibt es noch starke Veränderungen. Die kindliche Naivität und Fröhlichkeit verschwindet plötzlich und es kommen Hemmungen zum Vorschein und Sorgen über irgendwelche Dinge.
Aber ich halte daran fest, dass das Glück eine Sache des Dressing sei. Es gibt französisches, italienisches und jenes mit Knoblauch. ;--) Und vielleicht ist es ja auch etwas vermessen, gleich das grosse Glück zu wollen. Vielleicht müssen wir uns damit begnügen, zufrieden zu sein. Wie die Mrs Dalloway auf dem Bett liegend zu ihrer Tochter sagt: Glück ist eine Sache von Momenten. Und in diesem Glücks- Moment durchdringt es die ganze Zukunft. Aber wirklich dauert es nur einen kurzen Moment. Die Mächtigkeit hat das Glück, indem es in diesem Moment die ganze Vergangenheit und Zukunft überstrahlt. Es ist wie ein Infrarot-Strahler, der im Moment angestellt ist. Aber sobald du den Schalter drehst, ist alles wieder ganz normal und - von Weitem besehen - grau in grau.
Ich habe einen Philosophen gefunden, der sich mit der Lebensphilosophie auskennt und sich dort spezialisiert hat. Ich habe auch schon mit ihm gemailt. Er lebt in Berlin und hat viel Michel Foucault studiert. Sein Buch ist zwar nicht sehr lebendig und erlebnismässig, sondern eher eine Systematik. Aber ich habe sie sehr gerne gelesen. Zumindest habe ich bei ihm erkannt, wie sehr zum Glück das Unglück gehört.

Vor 5 Jahren habe ich nicht gewusst, dass Unglück, die negativen Seiten, das
Leiden im Leben so wichtig sein kann. Wenn man es sich unvoreingenommen anschaut, kann man sagen, das Leben sei eine Wellenbewegung. Mal fühlt man sich oben im Glück, mal unten im Pech. Und die grosse Frage ist, wie Du über diese Wellenfahrt erzählst. Erzählst Du von den Höhen und Spitzen, oder kostest Du die Tiefen und Pechsträhnen aus? Aber die Wellenberge sind nur möglich, weil es dazuwischen auch Wellentäler gegeben hat. Wenn es eine steife Linie gewesen wäre, könntest Du weder über Glück noch über Unglück reden. Du wüsstest nicht, was das ist. Aber die Wellen sind es. Sie sind wie Sonnen- und Regentage. Jeden Tag Sonne, das ist schon fast grauenhaft, auf jeden Fall ist es nicht einmal ein Gesprächsthema. Perser können nicht über Sonnenwetter reden. Höchstens im Winter, wenn sie etwas Schnee haben.
Unglück ist also, wenn man es so anschaut, reculer pour mieux sauter, der Anlauf für das Glück. Und je tiefer du durch musstest, desto höher wird später das Glücksgefühl sein.
Wer das so zu betrachten vermag, und darin liegt vielleicht das Paradox, der wechselt förmlich seine Perspektive und meint schliesslich, das eigentlich Glück im Leben sei das Pech. Das Pech erlaubt mir erst, Glück zu erleben, an vergangenem Glück zu freuen, oder mich auf das neue Glück vorzubereiten.
Habe ich Dir nicht kürzlich erzählt, dass man das Glück sogar empirisch erfragt hat bei zwei Extremgruppen: bei durch irgend einen Unfall Körpergelähmten und bei Lottogewinnern? Und das Resultat: beide sind nach einem halben Jahr ungefähr gleich glücklich oder unglücklich. Lottogewinner mit ihrem Geld haben nach der Gewöhnung mehr die Sorgen, die sie spüren. Und Gelähmte können im Rollstuhl genauso glücklich sein wie wir alle.

Liebe Marlena, Du siehst, Du hast mich an einem Thema erwischt, welches mich brennend interessiert. Und wenn ich ein Schriftsteller wäre, ich würde darüber einen Roman schreiben, nämlich den Menschen zu zeigen, dass Glück eine ganz persönliche Konstruktion ist. Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich. Glück gehört dem Tüchtigen, sagt man auch, und meint dasselbe. Aber wir modernen Menschen, die wir vom teuren Sozialstaat verwöhnt sind, erwarten das Glück oft von aussen, als ein Geschenk. Und dagegen müsste man beten, dass uns die Vorsehung vor dem Pech schützen möge, einen Hauptgewinn im Lotto zu machen.
Lotto ist ja für viele Menschen die Glücksagentur. Wenn sie Glück erwarten, dann von dort. Und dabei würde ein Mensch, wie er Anfang des letzten Jahrhunderts gelebt hatte, bei einem Durchschnittseinkommen von heute wie ein König leben.

Lustig, gerade gestern habe ich ein kleines Büchlein aus meinen Büchern geholt: De vita beata von einem gewissen Seneca, von dem Du bestimmt auch schon gehört hast. Er war der Hausphilosoph und Erzieher Neros, hatte also jede Menge Gelegenheiten, unglücklich zu sein, und hat sich auch selbst schliesslich umgebracht, urrömisch und urmännlich im Bade, wenn ich richtig informiert bin. Bestimmt würde er heute sagen, wenn er mitreden könnte, dass er sich glücklich wähne, dass sein damaliger Suizid so gut geglückt sei.

"Über das glückliche Leben". Es ist zwar ein wenig umständlich geschrieben, und - verständlicherweise - nicht in jeder Beziehung so, wie wir heute denken. Aber es sind ein paar interessante Überlegungen und Gesichtspunkte in. Und natürlich mag ich es, wenn ich neben dem deutschen Zitat noch das lateinische habe. Manchmal klingen die Lateiner ja so kurz und so gut und prägnant, wie man es heute mit unseren Sprachen nicht mehr sagen kann.

Kurz und gut: Marlena, soll ich alles in allem sagen, Glück sei die erste und die wichtigste Lebenslüge? So vielleicht würde es Nietzsche formulieren, mit seiner Neigung zur Entlarvung. Aber eine solche Aussage verleitet schon wieder zum Unglücklichsein. Wir brauchen eine Definition, die selbst mithilft, glücklich zu sein. Deshalb finde ich den Begriff des Dressings, den ich oben gefunden hatte, gar nicht schlecht. Er klingt pragmatisch und ein bisschen kulinarisch. Das versteht jeder Mensch.

Das also war die Familiensparpackung über das Glück, seine Rezepte und
dessen vier Seiten. Ich hoffe ...

 

Dienstag, 2. November 2021

Beginn einer Freundschaft

 

Liebe Marlena

Es ist schön, dich zufällig im Chat zu treffen. So habe ich das Gefühl, du wohnst gleich um die Ecke. Und das ist doch ein bisschen näher als dieses Stockholm im hohen Norden. So denke ich, wir sind praktisch Nachbarn, und man sieht sich beim Einkaufen oder grüßt sich über den Gartenzaun hinweg. Und manchmal gibt es zufällig einen Sonntag-Morgen Schwatz, wenn die Sonne scheint und die Vögel pfeifen. Und manchesmal, in der Dämmerung, treffen wir uns hinter dem Haus auf der versteckten Bank. Und dort plaudern wir stundenlang, bis es langsam kühl wird unter dem Sternenhimmel und jeder von uns wieder heim zu den Seinen muss.

Ich wollte mir gestern in der Bibliothek ein Buch über Schweden besorgen, aber ich habe noch nichts Vernünftiges gefunden. Eines hat hauptsächlich Norwegen berücksichtigt, das andere war zu dick um so herumgetragen zu werden. Ich werde schon noch fündig werden. Ich wollte ein bisschen was lernen über Schweden, Landschaft, Kultur, Bräuche, irgendwas. Vielleicht wollte ich ganz einfach ein bisschen näher sein, im gleichen Wasser schwimmen. 

Dieses zufällige Zusammentreffen also war sehr schön. Und der Chat auch, war locker und vergnügt, eben wie ein Samstagmorgen Chat. Bei mir ist es allerdings so: wenn ich mit dir chatte, dann möchte ich noch mehr von dir. Ich möchte mehr wissen, schneller reden, dich sehen, dich näher haben, es ist mir alles zu wenig intensiv. Die Mails sind viel intensiver. Ein Chat mit dir ist wie bei großem Hunger chinesisch essen, verstehst du, mit den chinesischen Stäbchen essen. Du bekommst mit diesen Dingern einfach nicht genug Nahrung in den Mund. Es geht alles zu langsam. Der Reis entwischt und fällt in die Schale zurück. Das Fleisch schlüpft dir weg und spritzt. Und einen anständigen Wein haben sie auch nicht, die Chinesen. Es ist alles ein bisschen zum Verzweifeln. Es ist eine große Geduldsprobe für uns ungeduldig hungerigen Europäer. Und man wünscht sich einen richtigen Löffel in die Hand, damit es vorwärts geht. So ungefähr ist Chatten mit dir. Das System bietet uns nur zwei dünne und glatte Stäbchen. Und damit sollten wir unseren Hunger sattkriegen? Das ist eine Marter à la Sysiphos! Aber wir werden uns hoffentlich wieder mal treffen und es wird wieder schön sein. Und wir werden wie an einem Apero kleine Häppchen einstecken. Und manchmal kann man auch an einem Apero seinen Hunger zwar nicht satt kriegen, aber doch mindestens ein bisschen dämpfen. Das werden wir dann tun. Und ich freue mich schon heute darauf.
Magst du Aperos, Marlena? Ach, ich mag sie sehr. Ich finde sie sind der schönste Teil des Essens. Alles ist noch offen, alle Hoffnungen berechtigt, alle Wünsche noch gewünscht. Und der Wein in den leeren Magen macht die Menschen so rasch überraschend vergnügt und gesprächslustig, wie sie sonst nur nach einem Lottogewinn - also praktisch nie - werden. Alle sind noch wach und offen und bereit, am Buffet zu kämpfen. Sie verteidigen die Salmbrötchen, oder sie kämpfen sich zu den Artischocken-Herzen durch. Andere bauen vor den Crevetten einen Verteidigungsring. Nur für die nature Brötchen interessiert sich wieder einmal kein Schwein. Und wohin denn die Olivensteine? Sie klopfen sich zwischen zwei grossen Bissen, die sie kaum runterbringen, klopfen sie sich übertrieben vergnügt auf die Schultern und versprechen sich hohe Summen, die schon bei der Suppe wieder vergessen sind. Sie planen Geschäfte und grosse Reisen, sie flirten über den Glasrand hinweg ins nächste Decolletée und streichen sich selbstverliebt über die Glatze. Sie lassen sich wieder und wieder nachgiessen und schlucken die Nüsschen handvollweise. Und je höher der Pegel steigt, desto lauter werden sie und es wird wirklich allmählich Zeit, dass sie sich zur Suppe hinsetzen würden. Ach wie ich das mag, so einen verdorbenen Apero! In unserem Kiwanis-Club haben wir jede Menge davon. Sie sind so dekadent, dass ich sie geradezu heiss liebe.