Mittwoch, 27. Mai 2020

Domoineile


Datum: den 27 maj 08:16

Lieber ...,
Während ich dein mail lese halte ich ein Auge auf den Nistkasten. Dort ist es nun dramatisch. Ein kleines (ich glaube es muss das letzte sein) hat noch nicht den Sprung in die Welt getraut. Die Eltern tun ihr bestes indem sie sich zurückbeugen und das Futter weit von ihm halten. Manchmal ist sein kleines Körperchen mehr draussen als drinnen - und dann kommt er mir wieder vor, wie ein Kind das auf dem Sprungbrett steht und nicht den Sprung ins kalte Wasser wagt.
Ich war gerade eine Weile draussen, um zu sehen ob da eine Elster im Gebüsch lauert. Und dabei habe ich entdeckt, dass es ein himmlisch schöner Morgen ist. Ganz windstill und laue Luft. Auch herrlich barfuss über das taufrische Gras zu gehen.

So ich muss mich leider beeilen. Um 10.00 Uhr muss ich am Arbeitsplatz sein. Einige Klassen haben nun schon ihre letzte Stunde gehabt in diesem Schuljahr, aber einige habe ich noch so 2 Wochen.

Ich komme später nochmals vorbei.

Wünsche dir einen herrlichen Tag,
Mit lieben Gs und Ks,
Malou


Ämne: Domosolala ,,,


... (klingt wie Domodossola, schöner Name, nicht?)

Datum: den 27 maj 07:47

Liebe Malou
Naja, ob mir diese Kunst (ein tot langweiliges Leben spannend zu empfinden) wirklich gelingt, das weiss ich selbst nicht so richtig. Aber ich glaube, dass das irgendwie mein zentrales Lebensproblem darstellt. Und wenn ich auf die eine Seite kippe, werde ich sehr unstet und unruhig, und auf die andere sehr ruhig und immobil. Man sagt doch, dass es in der Tierwelt zwei Reflexe gibt, einer Todesgefahr zu begegnen: da ist einerseits der Totstellreflex (einige Käfer stellen sich ganz einfach tot, bewegen sich nicht mehr und lassen alles mit sich geschehen), und andererseits der Bewegungssturm (vielleicht gibt es das ebenso bei Insekten, diesen Bewegungsüberschuss, der durch seine Vielfältigkeit vielleicht einfach die Chancen für einen Ausweg aus der gefährlichen Situation erhöhen soll). Ich glaube, ich habe beide Reflexe in mir. Ich war mal in einem Führungskurs mit einem sehr guten Kursleiter. Er hatte mich am Schluss des Kurses dazu ermuntert - als es irgendwie um grundsätzliche Fragen der eigenen Person ging - diese zwei Seiten nicht als Gegensätze, sondern als Ergänzungen zu sehen. Das war jener Kurs, in dem ich feststellen konnte, wie beliebt und anerkannt ich eigentlich unter den übrigen Kursteilnehmerinnen und -nehmern geworden war. Ich hatte mich selbst niemals für so wichtig genommen.

Wichtigkeit, kommt mir gerade in den Sinn, ist ein begrenztes Gut. Alle streben sie danach, und wenn der eine mehr davon erobert, dann verliert der andere. Man kann das vielleicht auch in der Schulklasse vis à vis Lehrperson so sehen. Es gibt sozusagen nur eine begrenzte Menge von „Wichtigkeit“. Und als Lehrer sollte man gut zusehen, wie man sie verteilt.

Im Lateinischen hatte Prof. Schnyder bei der Übersetzung von Texten immer wieder behauptet: VARIATIO DELECTAT. Die Abwechslungen sind es, die uns ergötzen. Und schon das Organische ist irgendwie nach diesem Muster organisiert. Wenn man viel Süsses gegessen hat, schätzt man ein kräftiges, pikantes Goulasch. Kein Essen schmeckt so gut wie jenes, das man nach einer langen Anstrengung einnimmt, die den Hunger hochgetrieben hat. Ruhe nach körperlicher Anstrengung ist ein Genuss. Sex nach langer Enthaltsamkeit ist so ähnlich wie der Himmel auf Erden. Am schönsten muss er daher für jene sein, die im Zölibat leben (:--))) kleiner Scherz).
Wenn man erhitzt ist, ist die kleine Abkühlung nicht bloss die Wiederherstellung des Normalzustandes, sondern eben in sich ein kleines Vergnügen.
Kurz und gut: Vergnügungen bestehen also, wenn man es sich genau überlegt, in der Abweichung vom Normalzustand.

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Ich habe letzte Woche 40 (vierzig) Bücher geholt, die ich rezensieren will. Das sind meine kleinen Eskapaden. Im Moment ist es eine kleine Biographie von Walter Benjamin, die ich lese. Oder muss ich sagen ‚überfliege’. Ich lese die meisten Bücher nicht durchgehend, sondern verschaffe mir einen Eindruck von Inhalt, Stil, Machart, graphische Darstellung etc. Dazu muss man nicht alles lesen, obwohl natürlich gewisse Romane ihren Reiz erst gewinnen, wenn man sie durchgehend und zu Ende liest. Aber vor allem auch Lexika, Sachbücher, Anthologien kann man sehr gut nach dem Prinzip ‚PARS PRO TOTO’ lesen. Ich habe eine zweite Biographie gefunden, jene über Schirin Ebadi. Allerdings hatte ich sie mir früher schon gekauft und habe sie auch gelesen. Aber ich werde sie nochmals anschauen. Die Autorin ist eine offenbar in Deutschland lebende Perserin, ‚Iranistin’, wie es heisst. Was ist eine Iranistin? Gibt es auch Schweizisten? Bist Du eine Schwedistin?

Nein, wir wollen uns das Leben nicht mit schwierigen Fragen versauern!

Ich wünsche Dir einen feinen Tag
Mit lG+hK
Ruedi


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Sonntag, 24. Mai 2020

Ein psychologisches Meisterstück



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Ich habe gestern einen Film gesehen mit Nichelson (oder schreibt man Nicholson, vielleicht Nikolson, oder ähnlich?), und habe dabei oft an Dich gedacht. Es ist - weiss Gott - lange her, seit ich einen Film von Anfang bis Ende angeschaut habe. Nikolson spielte einen zwangsneurotischen Schriftsteller, der sich ein bisschen - eben soweit ein Zwangsneurotiker das überhaupt kann - ein bisschen in eine Serviererin verliebt. Und daneben lebt sein Nachbar, eine Tunte (homo) und Maler mit seinem Hündchen und seinem schwarzen Lover und Bodyguard.

Es war in der Tat eine extravagante Geschichte, ein psychologisches Meisterstück. Die Schauspieler, darunter eben Dein geschätzter Nikolson, haben ausgezeichnet gespielt, wirklich ausgezeichnet. Und auch die Kombination von Homosexualität und Zwangsneurose fand ich gut gewählt, denn die beiden Typen ergänzen sich bestens: während der eine seine Gefühle zuinnerst versteckt und gefangen hält, trägt sie der andere offen zur Schau. Der eine ist in jeder Hinsicht und immer wieder verletzend, weil er in seiner egomanen Manier keinen Zugang zu einem Sensorium für das Zwischenmenschliche findet, während der andere wie ein Seiltänzer jederzeit Harmonie und Balance sucht. Man konnte den Eindruck haben, Freud hätte das Stück gleich selbst geschrieben. Und bei aller Komik war der Film doch rundum traurig, zuzusehen, wie diese Personen an sich selbst und gegenseitig aneinander litten.

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Jetzt war gerade die junge Lehrerin nochmals hier. Ich hatte ganz vergessen, dass wir einen Termin haben. Sie kam, wie letztes Mal, eigentlich zu spät und lachte deswegen, als sie eintrat. Und weil sie noch etwas verschlafen aussah, habe ich ihr zuerst mal einen Kaffee gemacht. Das gehört auch zur Beratung. Man muss die Leute ein bisschen pflegen, damit sie wieder zu sich selbst kommen.

Und jetzt muss ich doch langsam an meine Arbeit. Beginnst Du auch montags wieder mit der Arbeit, oder habt ihr noch eine Woche frei?

Mit lieben Grüssen und Küssen
...

Samstag, 23. Mai 2020

"Ein Mausleben" - real life?




Mein lieber Mausfreund!

Vielleicht wartest du auf ein langes Mail von mir und weisst nicht dass ich mich schon seit Stunden mit dir unterhalte in meinen Gedanken. Ich spreche mit dir, erzähle dir alles Mögliche, stelle dir Fragen (die man nur einem Mausfreund stellen kann) und nun endlich sehe ich ein, dass du davon nichts wissen kannst wenn ich mich nicht wirklich an den PC setze. Diese kleine Geste aus dem realen Leben braucht es doch um ein Mausleben führen zu können
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Deine Mails sind so schön! Ich kann nicht genug kriegen davon. Immer wieder suche ich nach neuen, und manchmal komme ich mir vor wie eine Harroinsüchtige die fiebrig auf die nächste Droge wartet. Ich weiss, du hattest mich gewarnt..
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Es ist erstaunlich welche Macht Wörter haben. So bin ich dir z.B. dankbar dass du das Wort "Mausfreund/in" erfunden hast. Ein Mausleben kann doch nichts anderes als schön, leicht, unkompliziert und erlaubt sein.. Es ist wie ein Lieblingsbuch auf dem Nachttisch. Man kann hineinschlüpfen und den Alltag für eine Weile vergessen. Man kann ein Kapitel darin lesen und nachher gestärkt in das "real-life" zurückkehren. Ist es so auch für dich? 

Aber sag mir. Was ist mein wahres Leben? Wenn ich z.B. wäsche bügle und dabei in Gedanken mit dir die Champs-Elysées runtergehe, wer könnte dann behaupten mein Leben sei langweilig? Welche von den beiden Aktivitäten gilt?
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Liebe sonnige Grüsse
Marlena

     
     

Donnerstag, 21. Mai 2020

ABB - ein schwedisch-schweizerischer Tango


Liebe Marlena
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Na ja, vielleicht waren es nicht nur die Schweden, die unsere gute alte ABB zugrunde geritten haben. Aber gestern Abend habe ich doch bei Onkelchen eine ganze Zeitungsseite voller Infos über dieses Unternehmen gefunden. Du musst wissen, dass Lenzburg im gleichen Kanton liegt wie Baden, wo die ABB stationiert ist. Und natürlich nehmen die dortigen Regionalzeitungen regen Anteil am Schicksal dieses Unternehmens. Wenn man also die letzten Jahre überblückt, so waren es nur unaussprechlich schwedische Namen, die dieses Unternehmen geführt hatten und einige davon zum Schluss noch Millionen in 3-stelliger Höhe sozusagen als Pension mitgenommen haben. Ich kenne die Geschichte ja nicht so genau. Vielleicht haben sie die Schweizer bloss nicht genannt. In der Zeitung war nur einer genannt, nämlich Leutwiler, der offenbar damals die Fusion mit dem schwedischen Unternehmen initiiert hatte. Es war nun ja auch eine Regionalzeitung, und es ist sehr gut möglich, dass diese Perspektive nicht sehr objektiv, oder sagen wir gelassen war. Trotzdem musst Du mir erklären, was ein Kohlsäufer ist. Das scheint ja doch ein sehr hässliches Wort zu sein.

Aber ich hoffe, dass dieser schwedisch-schweizerische Tango in Zukunft etwas Musik und Rhythmus bekommen wird und aufwärts geht. Dass ich an meinem Geburtstag diese Aktien gekauft habe, berechtigt noch nicht, mich zu den Kapitalisten zu zählen, wo ich doch für die ABB eher einen äusserst barmherzigen Samariter darstelle. Ich bin im Grunde ein wohltätiger Idealist, was als soviel wie ein Antipode des Kapitalisten betrachtet werden sollte. Aber nun können wir ja gemeinsam auf die Himmelfahrt unserer Aktien warten. Ich habe dabei nicht so viel riskiert, während Du wohl schon einiges Geld verloren hast. Ich hoffe nicht, dass Du deswegen gleich Deine gesamten Pensionspläne in Südamerika aufgeben musst ;--)) Vielleicht kann ich Dir dann etwas aushelfen? Ich werde Dir jeden morgen um halb zehn einen kurzen Kaffee in der Dorfpinte am Rio Plata spendieren. Wenn man alt ist, geht nichts über einen regelmässigen Morgenkaffee mit viel warmer Milch, der zwar heiss, aber nicht zu früh in den Morgenstunden serviert werden sollte. Und wenn dazu noch etwas Tangomusik erklingt, umso besser.

...


Ach ...





Ach, mein lieber lustiger Mausfreund!

Da finde ich wieder ein so humoristisches Mail, das mir den Tag verschönert. Na ja, nicht nur humoristisch sondern auch ein wenig lästerlich. Aber wie du ja weisst, vertrage ich ziemlich gut auch Spass über solche Dinge (schon von K daran gewöhnt ;-)

So so, du steckst sie wirklich ins Gefrierfach, deine heissen Briefe.. und nachher legst du sie wohl in die Microwelle? Ich schliesse meine ein, in ein kleines Schmuckkästchen, das ich in mir trage. Dort sind sie gut geschützt gegen alle Angriffe der Zeit. Der Inhalt bleibt intakt. Klingt das nicht schön? Eine Liebe die nie verdirbt?

Ja, wir haben schon wieder Feiertage. K kommt heute nach Hause. Wenn das Wetter etwas besser wird, werden wir uns im Garten zu tun machen. Sonst haben wir nichts Besonderes vor.
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Ich muss mich jetzt ein wenig hier beschäftigen. Wenn mir Zeit übrig bleibt, schicke ich dir noch ein paar Zeilen.

Bis dahin alles Liebe,
Malou









Mittwoch, 20. Mai 2020

Gespräch mit - einem Auto


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Ich erzähle dir auch eine kleine Geschichte, Marlena, die sich mir selbst zugetragen hat. Hör mal zu meine kleine Patientin: Vor Jahren hatten wir ein Auto, das nicht mehr das neueste Modell war. Es war schon über 10 Jahre alt, hatte einen guten Motor und recht viel Platz. Eigentlich waren wir damit zufrieden. Zudem war dieser Audi silbergrau, was in jenen Tagen wirklich eine ziemlich aktuelle Farbe war. Dieser unser Audi hatte nur ein kleines Handicap. Wenn man den Zündschlüssel hineinsteckte und drehte, so gab es Zeiten, wo der Schlüssel klemmte. Irgend etwas im Schloss ragte dann so gegen den Schlüsselbart, dass man nicht drehen und den Motor starten konnte. Anfangs war das weiter nicht schlimm. Man drehte ein zweites oder ein drittes Mal und dann sprang der Motor an. Doch dieser Makel verschlimmerte immer mehr. Es konnte jetzt schon 3 oder gar 5 Minuten dauern, bis es gelang, den Schlüssel zu drehen. Schon wenn man in den Wagen stieg, spürte man einen leichten Ärger hochkommen, besonders wenn man in Eile war. Später ging es soweit, dass man vielleicht 10 Minuten mehr berechnete, weil jeder wusste, dass der Motor nicht sofort starten würde. Kurz und gut, es wurde immer schlimmer und ärgerlicher. Und ich ärgerte mich schon, wenn ich nur daran dachte, das Auto zu nehmen. Ich ärgerte mich sosehr, dass ich irgend einmal dachte, etwas dagegen unternehmen zu müssen. Den Schlüssel ölen? Ein neues Zündschloss?
Ein neues Auto?

Irgend einmal in der Not fing ich an, den Audi zu bitten, doch bitte so gut zu sein und anzuspringen. Ich begann vorsichtig, seine bisherigen guten Dienste und seine Zuverlässigkeit zu loben. Ich sprach mit ihm in beruhigenden und zärtlichen Worten. Und siehe da: der Motor sprang an. Irgendwie hatte ich die Seele meines Audis getroffen. Und fortan stellte ich mich von Anbeginn darauf ein, die alte Karre mit Respekt, mit Ehrfurcht und mit Liebe zu behandeln. Und jedesmal, wenn ich starten wollte, redete ich ihm zuerst gut zu. Und siehe da, der Motor sprang meist ziemlich rasch und zuverlässig an. Im Nu hatte dieser Audi seine schlimmsten Spleens und schlechten Launen verloren. Sicherlich, manchmal hatte er noch Mühe und zeigte einen Moment des Unwillens. Aber jeder konnte sehen, dass das nur ein Anflug war, wie man es bei pubertierenden Jugendlichen manchmal beobachtet, und dass sich dieser alte Audi wirklich Mühe gab und anzuspringen bereit war, wann immer ich es wollte. Es wurde eine ziemlich treue Kameradschaft, die wir zusammen hatten. Plötzlich hatte ich mich mit der Seele dieses alten und teilweise schon etwas rostigen Wagens verstanden. Und er fühlte sich – so muss ich annehmen – schlussendlich respektiert.

So haben wir es beständig mit den Seelen zu tun, mit den unseren und mit den anderen. Und manchmal fliessen sie ineinander und vollführen einen wahren Seelentanz.

Ich wünsche Dir gute Besserung und viel heissen Tee, und deinem lieben kleinen Manual einen herzlichen Dank.


...


Sonntag, 17. Mai 2020

Auf der Suche nach ...


Liebe Marlena,
....
Ich bin wieder mal mit einem Buch beschäftigt. Es gibt eine Neuerscheinung des "Buches der Unruhe" von Fernando Pessoa. Du erinnerst Dich, ich habe den portugiesischen Autoren längst empfohlen. Das Buch stammt aus seinem Nachlass, aus einer riesigen Truhe voller Notizen. Man sagt, es wäre eine Biographie ohne Fakten und alles in allem in einer heiteren Melancholie geschrieben. Ich bin nahe dran, diesen dicken Schmöker zu kaufen, aber ich weiss, dass ich ein "Buch der Unruhe" in Taschenausgabe bereits habe. Es enthält eine Auswahl von denselben Notizen, vielleicht nicht so viele, aber immerhin. Ich wollte darin ein bisschen lesen. Aber ich finde das Büchlein zur Zeit nicht. Ich weiss einfach nicht, wo es zu suchen wäre. Ich habe schon Walter bedrängt, er solle mir das Ausgeleihte endlich wieder zurückgeben. Er schwört, er hätte es nicht. Ich knie Norma auf der Seele, weshalb sie mir das Buch nicht endlich zurückgibt. Sie wird hysterisch und weiss von keinem solchen Buch. Kurt lacht bloss und sagt, er lese seit zwei Jahren wieder in der Bibel. Corinne frage ich nicht, sie liest kaum. Aber Yasmin ist eine emsige Leserin. Aber ich könnte mich nicht erinnern, ihr mal ein Buch geliehen zu haben. Und wenn ich Maya eines gebe, dann schreibe ich es mir auf ein Kärtchen auf. Das habe ich mindestens bisher so gehalten. Natürlich mit Ausnahmen, Du weisst ja, wie inkonsequent ich sein kann. Auch Albert beteuert, von einem Pessoa nie etwas gehört zu haben. Kurz und gut, ich weiss nicht, wo ich mein Buch der Unruhe finden kann, und das macht mich unruhig. Es ist nämlich wirklich wundervoll geschrieben und voller Lebensphilosophie. Und dazu muss man sich immer dieses warme Lissabon vorstellen, diese Perle am Atlantik, wo die kühlen Bisen herblasen. Deshalb habe ich das Büchlein von Tabucchi sosehr genossen. Es hat mich an Pessoa erinnert. Man könnte Pessoa mit Kafka vergleichen. Es sind ähnlich kryptische, vielleicht ein bisschen lebensuntüchtige Persönlichkeiten, und sie schreiben mit ähnlichem Tiefsinn. Das Buch ist ein Fundamentstein im Ursumpf, das etwas Halt geben kann. Lies es, Marlena, wenn Du kannst.
*
Ich wünsche Dir einen schönen Tag.
Mit lieben Grüssen
...

Donnerstag, 14. Mai 2020

Freitag, 8. Mai 2020

Du - mein Uneigentum


Liebster Mausfreund,
Schau was ich gefunden (und für dich ausgewählt) habe.
Mit einem lieben Wochenendgruss,
Malou


Zueignung

O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.

[...]
Um jeden Gegenstand
nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine,
doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand
ein neues Ding, das bange, fast gemeine
Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.

 
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
Und wenn es auch zum Eigentum verführte,
noch war es keins. Noch haftete ihm nicht
mein Handeln an. Mein Mißverstehn. Mein Wollen
es solle etwas sein, was es nicht war.
Noch war es klar
und klärte mein Gesicht.
Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,
noch war es nicht das Ding, das widerspricht.
Da stand ich zögernd vor dem wundervollen
Uneigentum.



Aus: Weihnachten 1914 (ein Fragment)
(1914)

Stille










Mittwoch, 6. Mai 2020

Geschimpfe und ein Imponiergehabe.



Liebe Malou

Heute Morgen habe ich auf dem Weg zum Bahnhof ein wenig auf die Vögel geachtet. Sie pfeifen gegen den kalten Wind an. Es klingt noch nicht so friedlich und fröhlich, wie es bei blauem Himmel klingen würde. Aber wie wir ja wissen, ist das Gepfeife eher ein Kampfruf als etwas anderes. Jeder kleine Kerl will bloss sein Revier verteidigen und warnt all seine aufsässigen Nachbarn mit den übelsten Pfiffen, was passieren würde, wenn einer es wagen könnte. Man muss sich das vorstellen wie ein wilder Rap. Es ist ein Geschimpfe und ein Imponiergehabe, dass die Vögel unter sich erbleichen und sich verlegen an den Kopf greifen. Nur für die Ohren von uns Sterblichen, wir Fremdsprachler, für uns klingt das alles so romantisch und harmonisch. Und wir können uns kaum vorstellen, dass das alles wahres Kriegsgeschrei sei.

Aber darüber habe ich mich ja mehrmals schon ausgelassen. Doch musst du verstehen, Malou, ich suche eigentlich bloss neue Worte für alte Dinge.

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Dienstag, 5. Mai 2020

So, so ...


Ämne: So, so..

Lieber ...,
Ach, was bist du für ein Schlaumeier. ;-) Wenn du ein mail nicht beantworten willst, dann tust du als hättest du es beantwortet.. aber irgendwie ist es eben nicht angekommen. Na ja, macht nichts. Du hast ja dann noch einen zweiten Saum genäht und so wird die Mailerei schon halten.

Ja, ich denke du musst ziemlich fesch ausgesehen haben in deinem schwarzen Anzug. Und sicher hast du auch die Blicke der Damen angezogen. Natürlich ohne es selbst zu bemerken. Wer interessiert sich schon für so weltliche Dinge.. :-)

Haha... so siehst du eine Seele? Als ich Kind war glaubte ich zu wissen wie Seelen aussehen. Du weisst bei Fischen gibt es so was silbriges.. ist es die Schwimmblase? Und heisst die nicht so was ähnliches? Ich weiss wirklich nicht mehr wie ich auf den Gedanken gekommen bin, dass das eine Seele sei. Jedenfalls ist sie zart und silberfarben.. weit von deinem dicken ballonähnlichen Ding dass im Höllenfeuer zerplatzt.
Seele hat ürbigens mit dem Wort See zu tun.

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Nochmals?


"Und jetzt wünsche ich Dir nochmals einen schönen Tag. Doppelt genäht hält besser, sagt man hier in gut schweizerischem Dialekt.
Mit lieben Grüssen"
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Ämne: Nochmals?

Lieber ...,

"Und jetzt wünsche ich Dir nochmals einen schönen Tag. Doppelt genäht hält besser.."
So beendest du dein letztes mail, mein lieber Mausfreund. Aber du hast keineswegs doppelt genäht.. fast nur ein wenig geheftet. Hast du vergessen ein Mail abzusenden?

Hier scheint die Sonne nach einem stürmischen grauen Morgen. Es ist herrlich!
Ich muss wieder an die Arbeit.

Ich warte auf den zweiten Saum.
Liebe Grüsse
Marlena



Montag, 4. Mai 2020

Totenfeier und Seelen


Liebe Marlena
Ich habe die Totenfeier überlebt. Es war ein bisschen traurig zu sehen, wie wenig alte Kollegen an seinem Begräbnis waren. Aber wahrscheinlich hat er in den letzten 12 Jahren kaum mehr Kontakt gehabt. Seine Frau ist ein bisschen zu dominant gewesen und hat wohl alles diktiert. Auch die Abdankung war ein bisschen zu religiös, sogar hebräisch haben sie gelesen. Sie ist irgendwie jüdisch oder halbwegs jüdisch, wenn es sowas überhaupt gibt.
Aber er war ein guter Kerl, begabt, hat sich vielleicht ein bisschen zusehr zurückgehalten, und ist - wie ich heute gehört habe - deswegen oft unglücklich gewesen. Das kann ich mir gut vorstellen. Er war wirklich sehr mild und konnte sich überall gut anpassen. Und er hat so ein Mascherl getragen, wie anfangs der oesterreichische Regierungsmann Schüssel. Eine Fliege auf gut Deutsch. Take him for all in all: he was a man. Das ist irgendwo von Shakespeare.
*
Sterben ist nicht so schwer. Überleben ist bestimmt schwerer.
*
Und dann bin ich - in meinem schwarzen Anzug, so dass alle Damen genauer hingeschaut haben - noch in die Stadt gefahren und habe mir - vielleicht zum Trost - ein zweites Büchlein von Tabucchi gekauft. Ich hatte es seit langem im Auge. Auf dem Deckel steht, es sei eine Liebeserklärung an Lissabon. Der Titel heisst Lissabonner Requiem. Ich glaube, ein Requiem ist jetzt gut. Na ja, von Zeit zu Zeit braucht man einfach Liebeserklärungen, sei es für Lissabon, sei es für Streuselkuchen.



Tabucchi schreibt etwas Schönes gleich zu Beginn. Er schildert das Gespräch zwischen dem Ich und einem Losverkäufer. Ich, der Intellektuelle spricht vom Unbewussten. Der Losverkäufer meint, er habe kein Unbewusstes, er habe eine Seele. Das Unbewusste sei etwas Mitteleuropäisches, vielleicht ein Rest aus Wien des 19. Jahrhunderts. Das ist gut gefühlt. Dort unten haben sie bestimmt nur katholisch tropfende Seelen. Ich stelle sie mir so als kleine Wölklein vor, mit drei Ausbuchtungen, wie ein Michelin-Männchen. In der Mitte ist das Ich, oben das Üeber-Ich und im Keller das ES, also das Unter-Ich. Das ist die Architektur (natürlich wieder mitteleuropäisch konstruiert) dieser Seele. Und sie ist sehr wie Gummi und lässt sich nach Bedarf auch noch ein wenig aufblasen. Und bestimmt schwimmt sie auf dem Wasser. Da bin ich mir ziemlich sicher, dass sie schwimmt. Ich könnte mir niemals vorstellen, dass eine solche Seele wirklich untertaucht. Seelen schwimmen obenauf, soviel ist klar. Und wenn die Person stirbt, dann zwängen sie sich durchs Fenster oder die kleine Öffnung, die man in den Walliserhäusern genau für diesen Zweck macht, und fliegen hinauf. Natürlich mit Ausnahme jener, die gleich vom Fenster hinunter fallen in die Hölle. Dort, wenn ich es mir plastisch vorstell, platzen sie in der Hitze wie Ballone.
*
Du siehst, Antonio Tabucchi inspiriert mich ein bisschen. Ich glaube, wir sind seelenverwandt.
*
Und jetzt muss ich endgültig schliessen. Der Tag ist vorbei. Die ABB Aktien leicht gesunken, aber nicht sosehr, dass man sich deswegen eine schlaflose Nacht veranstalten sollte.

Ich wünsche Dir einen feinen Abend.
Mit lieben Grüssen

Samstag, 2. Mai 2020

Cafés in Zürich anno dazumal





...

Es war ein schönes und stilles Vergnügen, in den verschiedenen Buchhandlungen und Antiquariaten (die im allgemeinen ziemlich düster und staubig waren) herumzustreichen und nach irgendwelchen Neuerscheinungen zu suchen. Gelegentlich traf man dabei irgend eine Kollegin oder einen Kollegen. Oder wenn ich dann irgend eine Jagdtrophäe erobert hatte, pflegte ich mich in eines der kleinen Cafès zur Lektüre zurückzuziehen. Schön war beispielsweise das Weggen auf der anderen Flusseite. Das Cafè war ziemlich diskret in einer schmalen Gasse versteckt. Und wer es nicht kannte, konnte kaum per Zufall drauf kommen. Es war modern möbliert, mit unterschiedlichen hölzernen und farbig gestrichenen Stühlen. Und rechts in einer Nische stand ein Ledersofa, in das man sich sinken lassen konnte. Diese Ecke hatte ich immer bevorzugt. Sie war wirklich sehr bequem. Und dazu gab es im Weggen eine hübsche und sympatische, schon etwas ältere Servierin, die immer modisch gekleidet und freundlich daherkam. Das Cafè war klein, wohlgemerkt. Insgesamt gab es vielleicht 5 oder 6 Tischlein mit normalerweise 2 Stühlen. Oder dann ging ich in jenes kleine Restaurant neben dem Storchen, das wohl kaum jemand kannte in Zürich. Es lag für die meisten Zürcher nicht am Weg, weil es gegenüber des Limmatquais lag. Mir war es aufgefallen, weil man durch die grossen Fenster eine wunderbare Sicht über die Limmat hinweg auf den Limmatquai und auf das Grossmünster hatte. Es war die allerbeste Sicht. Aber das Lokal an sich war nicht schön. Es verkehrten wenig Leute. Und an irgend ein bekanntes Gesicht kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Aber ich hatte immer die Vorstellung, dass man hier in aller Ruhe bei einer Tasse Kaffee einen Roman schreiben könnte.

Die echten Schriftsteller frequentierten aber damals immer noch das Odeon am Bellvueplatz. Es war das bekannte und grosse Wienercafè, das sich in der Kriegszeit als Flüchtlingsnest einen Namen gemacht hatte. Dort gab es an den Fenstern vorne kleine Tische. Und der Vorhang hing erst dahinter. Ein Schriftsteller konnte also den Vorhang ziehen und war dann gegenüber dem Betrieb im Lokal abgeschirmt. Er schien sozusagen auf der Strasse zu sitzen, war aber durch die Scheibe von den Passanten geschützt. In diesen Nischen sind wohl einige Romane Zürichs entstanden. Und man sagt, dass auch Max Frisch früher das Cafè Odeon oft besucht hätte. Zu meiner Zeit war dem nicht mehr so. Zu meiner Zeit hatte Frisch schon einigermassen Geld und pflegte sich ins noble Restaurant gegenüber zurückzuziehen. Gelegentlich besuchte ich mit einem neuen Buch das Cafè am Rindermarkt ganz in der Nähe des Kunstmuseums und des Schauspielhauses. Das war ein grosses, übersichtliches Cafè, das regelmässig gut besucht war. Die Universität war nicht weit, und es verkehrten auch Studenten dort. Und gleich im Stock oberhalb war das Sozialarchiv untergebracht, wo wir gelegentlich nach Literatur suchten.

Du siehst: ich habe oft in Antiquariaten Bücher gefunden und gekauft. Aber wenn ich noch den Preis zuschlage, den mich der anschliessende Kaffee gekostet hat, so bin ich kaum sehr billig gefahren. Aber es war eine gute und anregende Unterhaltung.

Ach wirklich, jetzt ist daraus ein echt langes Mail geworden, wo ich doch den Eindruck hatte, ich wüsste kaum, was erzählen. So kann man sich zur Decke strecken ...

MlG

Freitag, 1. Mai 2020

Re: Nichts Neues ..


Liebe Malou
Du sagst ".. nichts Neues im Moment". Gehst du denn davon aus, dass ich das Neuste hören müsste oder möchte? Davon gehe ich nun ganz und gar nicht aus. Ich bin eher interessiert am Ältesten, an dem, was zuunterst liegt, am Fundament im Boden sozusagen. Das Neueste ist meist das Ephemerste (gibt es ein solches Wort? Wenn nicht, dann sollte man es erfinden. Ich weiss, dass es Ephemeriden gibt. Ist das nicht ein wundervoller Name. Die Eintagsfliege ist eine Art davon. Eine merkwürdige Gruppe von Lebenwesen, diese Ephemeriden! Erinnern akustisch an die Hesperiden in den griechischen Sagen).

Ist das nicht merkwürdig: Das, worauf man während des Tages fixiert ist, das Operative sozusagen, ist das Unwichtigste und das, was am schnellsten im Vergessen verschwindet. Was ist denn dann das Wichtigste? Irgendwie das Strategische, der Lebenssinn, sozusagen das Geschäftsziel des Lebens. Und was ist das?

Ich habe in den letzten Tagen ein bisschen Seneca gelesen. Du kennst den Kerl, nicht wahr? Er war Lehrer Neros und hat darin, wie man zugeben muss, tüchtig versagt. Aber er war zu seiner Zeit ein trendy Philosoph und Schriftsteller, auch Politiker. Er hat doch so bekannte Aufsätze geschrieben wie die 'Ueber den Zorn', 'Über das glückliche Leben', Über die Kürze des Lebens' und so fort. Und es gibt darin gute Gedanken. Allerdings ist er nicht sonderlich systematisch. Die Abfolge seiner Gedanken sind für mich ziemlich ungeordnet. Doch vielleicht verstehe ich bloss seinen roten Faden nicht. Im Wesentlichen ist Seneca Stoiker. Sie alle nehmen sich Sokrates zu Vorbild und die Art, wie dieser ihr Meister gestorben ist. Von Seneca erzählt man sich einen ganz ähnlichen Tod wie derjenige Sokrates'. Aber vielleicht ist die Begebenheit bloss erzählerisch ein bisschen stilisiert worden. Jedenfalls soll sich Seneca, auf Geheiss Neros, selbst umgebracht haben. Jammerschade, wo er doch noch ein paar Jährchen gemütlich auf seinem Landgut ausserhalb Roms seinen Lebensabend hätte verbringen können.

Ja, die Männer um 60, sie schlafen vor dem Fernseher. Das ist ihr Lagerfeuer. Dort fühlen sie sich wohl und warm. Dort sind sie geschützt, sehen aber ganz bequem in die weite Welt hinaus. Es ist der ideale Ort, nicht nur zum Schlafen, sondern geradezu zum Sterben.
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Wir haben prima Wetter, eigentlich Frühling. Heute morgen habe ich gehört, dass der Kuckuck der Vogel des Aprils sei. Wenn man ihn hört, wird das Klima trockener. Und der Name April komme von APERIRE, was soviel wie öffnen meint. Habe ich noch nie gehört bisher!

Ich wünsche dir ein prima Wochenende
MLG
...