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... sich alternative Leben
auszudenken?Vielleicht wäre ich Künstler geworden. Denk Dir mal so was, Malou! Ich würde jetzt in einem dunkeln Atelier im Kreis 4 Zürichs unter Huren und Türken dahinvegetieren, würde mich notdürftig von Büchsenbohnen und kalten Buffets an Vernissagen ernähren, und mich an letzteren auch gelegentlich wieder mal richtig besaufen. Ich hätte vielleicht 2 oder 3 heisse Freundinnen, eine blonde, eine brunette und eine schwarze, wie ich wohl annehme, und ich würde mein kleines Harem notdürftig pflegen und zufrieden stellen mit viel Scherereien, zugegeben, und Streitigkeiten. Und daneben hätte ich in meinem Alter all meine Illusionen verloren über Kunst und den Idealismus. Ich würde mit Misstrauen beobachten, wie die jungen Künstler von den Behörden grosse Auftrage zugewiesen bekommen, und wie sie sich dann bei jenen bourgeoisen Ärschen noch mehr anbiedern und einschleimen. Widerlich! Vielleicht würde ich im Stillen immer noch nach meinem grossen Jahrhundertwerk gieren, jenem Bild, oder jener Statue, jenem Meisterwerk, welches endlich allen Menschen die Augen öffnen kann. Und von diesem zehrenden Leben wäre ich mit diesem Alter bereits heruntergekommen. Ich hätte meine Anfälle, meine Magenkrämpfe oder so, und trotzdem würde ich regelmässig meinen Dôle trinken und dazu Gitanes rauchen. Ach, ich würde mich langsam zugrunde richten und würde das alles noch geniessen. Ich wäre wie die Kerze, die an beiden Seiten brennt.
Ist es nicht schön, sich alternative Leben auszudenken? Frisch hat sich in der ‚Biographie’ mit diesen Fragen beschäftigt. Man kann sich damit sehr glücklich, oder aber - zweifellos - auch unglücklich machen. Ich selbst bin darüber eher glücklich. Ich meine, ich erlebe dabei die Weite des Lebens. Ich empfinde, wie gross die Möglichkeiten der Existenz eigentlich wären, und wie viel anders mein Lebenslauf auch hätte ausgehen können. Ich glaube, es macht irgendwie zufriedener mit dem, was man hat. Man fühlt sich dann so ordentlich und zufrieden in der Mitte all dieser wilden und abenteuerlichen Spuren und Wegzeichen in der weiten Landschaft. Man weiss sich auf einem ordentlichen, gesicherten Wanderweg, der zwar nicht wirklich irgendwo hin führt, aber zumindest sich nicht allzu gefährlich ausgibt. Und dazu trifft man auf dieser kleinen, gut ausgebauten Avenue jede Menge netter Menschen, die auch unterwegs zu sein scheinen, die aber auch nicht wirklich wissen, wohin der Weg führt. Das ist der wesentliche Unterschied: bei den Menschen auf dem Weg entscheidet der Weg über die Gehrichtung. Bei jenen, die eigenmächtig durch die wilde Natur gehen, entscheidet jeder selbst. Das macht ihn wohl wacher für die Situation. Vielleicht kommt er nicht wirklich an einem selbst gewählten Ziel an, aber mindestens er hat seinen Weg selbst gewählt. Er fühlt sich heroisch, denn er hat immer wieder den Eindruck, in einer Krisensituation zu sein, in einer Situation, die über Tod und Leben entscheidet. Und gerade das macht, dass er sich so lebendig fühlt. Wir hingegen wandern ruhig auf dem Strässchen wie auf einem Sonntagnachmittagspaziergang. Und jedes Kind weiss doch, wie langweilig Sonntagnachmittagspaziergänge sein können!! Und so ist es nicht erstaunlich, dass wir ein bisschen schläfrig dahin gehen und nicht wirklich wach zu sein brauchen. Das einzige, was wir benötigen, ist die Motorik der Beine. Und sie arbeitet bekanntlich routinemässig und völlig automatisch. Wir brauchen bloss zusehen, dass sich an den Füssen keine Blasen entwickeln!!
Ich muss jetzt zurück auf mein langweiliges Strässchen und die Sitzung für Montag vorbereiten. Dann fahre ich nach Basel.
MlGuKusw
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