Freitag, 28. Februar 2020

Ist es nicht schön?

(R)
...  sich alternative Leben auszudenken?

Vielleicht wäre ich Künstler geworden. Denk Dir mal so was, Malou! Ich würde jetzt in einem dunkeln Atelier im Kreis 4 Zürichs unter Huren und Türken dahinvegetieren, würde mich notdürftig von Büchsenbohnen und kalten Buffets an Vernissagen ernähren, und mich an letzteren auch gelegentlich wieder mal richtig besaufen. Ich hätte vielleicht 2 oder 3 heisse Freundinnen, eine blonde, eine brunette und eine schwarze, wie ich wohl annehme, und ich würde mein kleines Harem notdürftig pflegen und zufrieden stellen mit viel Scherereien, zugegeben, und Streitigkeiten. Und daneben hätte ich in meinem Alter all meine Illusionen verloren über Kunst und den Idealismus. Ich würde mit Misstrauen beobachten, wie die jungen Künstler von den Behörden grosse Auftrage zugewiesen bekommen, und wie sie sich dann bei jenen bourgeoisen Ärschen noch mehr anbiedern und einschleimen. Widerlich! Vielleicht würde ich im Stillen immer noch nach meinem grossen Jahrhundertwerk gieren, jenem Bild, oder jener Statue, jenem Meisterwerk, welches endlich allen Menschen die Augen öffnen kann. Und von diesem zehrenden Leben wäre ich mit diesem Alter bereits heruntergekommen. Ich hätte meine Anfälle, meine Magenkrämpfe oder so, und trotzdem würde ich regelmässig meinen Dôle trinken und dazu Gitanes rauchen. Ach, ich würde mich langsam zugrunde richten und würde das alles noch geniessen. Ich wäre wie die Kerze, die an beiden Seiten brennt.

Ist es nicht schön, sich alternative Leben auszudenken? Frisch hat sich in der ‚Biographie’ mit diesen Fragen beschäftigt. Man kann sich damit sehr glücklich, oder aber - zweifellos - auch unglücklich machen. Ich selbst bin darüber eher glücklich. Ich meine, ich erlebe dabei die Weite des Lebens. Ich empfinde, wie gross die Möglichkeiten der Existenz eigentlich wären, und wie viel anders mein Lebenslauf auch hätte ausgehen können. Ich glaube, es macht irgendwie zufriedener mit dem, was man hat. Man fühlt sich dann so ordentlich und zufrieden in der Mitte all dieser wilden und abenteuerlichen Spuren und Wegzeichen in der weiten Landschaft. Man weiss sich auf einem ordentlichen, gesicherten Wanderweg, der zwar nicht wirklich irgendwo hin führt, aber zumindest sich nicht allzu gefährlich ausgibt. Und dazu trifft man auf dieser kleinen, gut ausgebauten Avenue jede Menge netter Menschen, die auch unterwegs zu sein scheinen, die aber auch nicht wirklich wissen, wohin der Weg führt. Das ist der wesentliche Unterschied: bei den Menschen auf dem Weg entscheidet der Weg über die Gehrichtung. Bei jenen, die eigenmächtig durch die wilde Natur gehen, entscheidet jeder selbst. Das macht ihn wohl wacher für die Situation. Vielleicht kommt er nicht wirklich an einem selbst gewählten Ziel an, aber mindestens er hat seinen Weg selbst gewählt. Er fühlt sich heroisch, denn er hat immer wieder den Eindruck, in einer Krisensituation zu sein, in einer Situation, die über Tod und Leben entscheidet. Und gerade das macht, dass er sich so lebendig fühlt. Wir hingegen wandern ruhig auf dem Strässchen wie auf einem Sonntagnachmittagspaziergang. Und jedes Kind weiss doch, wie langweilig Sonntagnachmittagspaziergänge sein können!! Und so ist es nicht erstaunlich, dass wir ein bisschen schläfrig dahin gehen und nicht wirklich wach zu sein brauchen. Das einzige, was wir benötigen, ist die Motorik der Beine. Und sie arbeitet bekanntlich routinemässig und völlig automatisch. Wir brauchen bloss zusehen, dass sich an den Füssen keine Blasen entwickeln!!

Ich muss jetzt zurück auf mein langweiliges Strässchen und die Sitzung für Montag vorbereiten. Dann fahre ich nach Basel.
MlGuKusw
 ...





Mittwoch, 26. Februar 2020

Re: Vom Flüstern der Tauben ...


Subject: Stille


Liebe Malou

Ja, Schnee ist irgendwie schön. Man findet sich in einer verzauberten Welt wieder. Und zuhause geniesst man die warme Ecke, den duftenden Tee und die Lektüre im Schaukelstuhl. Jetzt hast du keinen Schneeschaufler mehr. Oder hast du einen neuen. Macht das K für dich? Das nehme ich doch wohl an.

Ich ein Haus-Hocker. Ich sitze gerne zuhause hinter dem Ofen. Aber im letzten Jahr habe ich mich gar nicht mehr richtig zuhause gefühlt. Ich hoffe, das wird dann in meinen vier Wänden anders werden. Ich bin jetzt bald zu Ende mit meiner Packerei. Man kann sich nicht vorstellen, wieviel dazu gehört. Soviel vom Geschirr über die Kleider bis zu den Möbeln. Die Bücher, das ist auch viel, aber das ist alles in allem noch die übersichtlichste Packung. Ich werde bestimmt die nächsten 2 Jahre in meinen 2 Zimmern voller Schachteln leben. Vielleicht muss ich sie bemalen, um die Wohnlichkeit zu erhöhen?  Oder Vorhänge finden, die die Landschaft aus Kisten und Schachteln etwas mildern?

Ja Malou, es wird ruhiger werden. Ich kann nicht lange ein solch turbulentes Leben führen und kreuz und quer durch die Schweiz fahren. Nein, das kann ich wirklich nicht. Die Vagabunderei ist der Traum des sesshaften Bürgers. Sie sagt vielleicht mehr über die Sesshaftigkeit und die Verstocktheit als über sich selbst aus. Aber ich bin doch wieder etwas lebendig geworden durch diese Vitalkur. Ich halte meine Augen wieder mehr offen als vorher. Mein Puls geht ab und zu in die Höhe bis in die Halsschlagader. Und vor allem, ich spüre ihn wieder. Irgendwie habe ich das Leben wiederentdeckt, Malou, und das ist schön. Es ist zwar voller Risiken. Man kann jeden Tag neu glücklich oder unglücklich leben. Und es ist nicht alles auf die goldene Mittellage eingestellt. ... wollest mit Freuden und wollest mit Leiden uns nicht überschütten, doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden ... lautet das Gedicht, ein Gebet von Mörike (glaube ich), eigentlich einem süddeutschen Pfarrer.

Es wird heute ein bedeckter und düsterer Tag werden. Schauen wir, was auf uns zukommt.

Mit lieben Grüssen und Küssen Qs ...
...




Dienstag, 25. Februar 2020

Gigeli-Ziischtag


Liebe Malou
Ach ja, ich erinnere mich daran, dass du mal ein Foto
geschickt hast, wo man dich solch ein semla essen sah.
Im Wallis nannte man diesen Tag Gigeli-Ziiischtag. In der
Deutschschweiz würde Gigeli eigentlich "unkontrolliertes
Lachen, Lustigsein, sich nicht mehr halten könen"
bedeuten. Aber was es bei den Wallisern bedeutet, weiss
ich nicht. Vielleicht haben sie den Namen aus der
Deutschschweiz übernommen.
Auf jeden Fall haben sie morgen auch Ascher-Mittwoch.
Dann gehen sie alle mit blassbleichen Gesichtern und
aufgewühlten Frisuren um und versprechen, bis Ostern
Diät halten zu wollen.
Ich habe ein paar lustige und schöne Erinnerungen an
Walliser Fasnachten. Doch jedesmal war auch viel Alkohol
im Spiel. Die Walliser trinken einfach in der Regel ziemlich
viel. Ich weiss gar nicht, wie ich jetzt noch dort leben
könnte. Die Männer treffen sich meist in
Restaurants, trinken eine Runde, gehen dann ins nächste
Restraurant. Und das geht weiter bis Mitternacht. An einen
erinnere ich mich speziell.  ...

Übrigens, weshalb liegt neben dieser Semla ein Löffel.
Isst man sie mit Löffel. Oder kann man auch einfach so
hineinbeissen, um nachher einen weissen Schnauz
herumzutragen?

---

Lieber ... ,


Ja, dein schönes Wallis. Das vergisst du nicht. Sind wir
nicht bescheiden, wir Schweden? Sitzen still und brav
vor unserer Semla, während die übrige Welt wilde Späss
 treibt.
 Diese Semmeln soll man eigentlich in warmer
Milch vom Teller Essen. Aber die meisten essen sie so,
genau wie du es erraten hast, mit nachher etwas Sahne
auf der Nase.

...

Montag, 24. Februar 2020

Semmeltag





Lieber ... ,

Heute ist Semmeltag bei uns. Jemand hat gesagt dieser
Tag sei  für Schweden so gross wie der Karneval für Rio.


"Es ist natürlich kein Zufall, dass der Semmeltag gerade
heute ist, denn morgen ist Aschermittwoch und die
Fastenzeit beginnt. Da man sich heute also nochmal
richtig den Magen vollhaut, heisst der Semmeltag auch
"fetter Dienstag", oder Fettisdag. Zum Glück ist meines
Wissens aber der christliche Ursprung des fetten Dienstag
und damit des Semmelessens den Schweden ziemlich egal
und ich bin mir ziemlich sicher, dass man auch nächsten
Dienstag wieder Semmelesser antreffen wird. Manche
sehen den Tag sogar als Beginn der Semmelsaison. :-) "

Wenn du hier wärest, würde ich dich in eine kleine
Konditorei mitnehmen und dir einen solchen von Marzipan
gefüllten Leckerbissen anbieten. Ja, das würde ich heute
tun wollen.

Hier läuft das Leben seinen "wackeligen Gang", wie du es
zu nennen pflegst. Aber gerade schaut die Sonne zwischen
den Wolken hervor. Es kommt ein Frühling.

Ich wünsche dir einen schönen angenehmen Tag
mit lieben Gs und Ks
Malou



Vom Flüstern der Tauben ...



... zum Liebesschrei der Primaten. So könnte man
vielleicht die gigantische Veränderung in deinem
Leben bezeichnen.

Ja, ich vermisse sie, die harmonischen stillen Tage,
die wir einst miteinenader verbracht haben. Aber ich
glaube nicht, dass du dein Schreibtalent jetzt verloren
hast, wie ich schon befürchtet hatte. Deine letzten,
zwar kurzen aber doch spirituellen mails trösten mich,
dass es nicht so ist.
So warte ich geduldig auf deinen Bericht von den
Ereignissen, die du angedeutet hast.

Ich wünsche dir ein ganz wunderbares Wochenende.
Mit lieben Gs und Ks und Qs
Marlena









Zügelei und Wetter


25 January  20:55
subject: Das Liebesgeschrei der Primaten !


Liebe Malou

Ich weiss, ich bin sehr absorbiert. Und das ist nicht nur
wegen des Schnees, der gestern gefallen ist. Ich bin schwer
beschäftigt. Als du mich letzthin gescholten hast, dass ich
meine Zügelei so in die Länge ziehe, habe ich heute eine
Firma angerufen, um die Sache an die hand zu nehmen.
Ich kann das schon rascher machen, es bleibt dann einfach
ziemlich viel Unordnung hinter mir zurück. Und das wollte
ich irgendwie vermeiden. Aber einen gewissen Zeitdruck
durch einen Termin kann ich  - so glaube ich - gut gebrau-
chen. Kürzlich hat mich eine Bekannte angerufen, die ich
in R getroffen hatte. Als sie hörte, dass ich noch zuhause
sei, hat sie gelacht und gedacht, ich würde das nie schaffen.
Ich wäre noch zu sehr verknüpft mit S. Aber das glaube ich
nicht. Mein Problem ist wirklich die Zügelei. Ich wünschte
mir alles wäre hinter mir und ich würde dort in der Nähe
Affenhaus leben und nachts das Liebesgeschrei der
Primaten hören.
So wird es Ende dieses oder anfangs nächsten Monats sein.
Ab Mitte Februar kannst du mich besuchen Malou. Dann
ist alles bereit. ...
Und wenn du hier alles gesehen hast, wirst du ganz froh
und zufrieden zurück in dein schönes Einfamilienhaus
kehren. Und wirst vielleicht bloss mehr das Affengeschrei
vermissen.

Ja, du glaubst es kaum. Hier hat es ca. 10 bis 15cm
geschneit. Es sieht alles aus wie ein Weltwunder. Und man
fragt sich, wie sich der Himmel selbst überlistet hat, um uns
eine solche Pracht zu bescheren. Es ist wirklich lange her,
seit er das zum letzten Mal gemacht hat. Nur euch dort oben
berücksichtigt er bevorzugt. Aber hier lässt er bald Wüsten
entstehen.  Ich hoffe doch sehr, dass sich das ändern
wird..

Am Wochenende bin ich sehr beschäftigt. Ich erzähle dir
später davon.

Ich wünsche dir einen feinen Abend.
Mit lieben Grüssen und Küssen in Qs

...



Wann ist später?

Lieber ...,

Immer wieder deutest du Dinge an, die du vor dir hast und
beendest das ganze mit den Worten:
"Ich erzähle dir später davon".

Ich schreibe dir auch bald wieder ein anständiges Mail.

Bis dahin sei herzlich gegrüsst
nicht ohne Ks und Qs   

Marlena



"Tassen im Schrank"



Liebe Malou

Gestern habe ich schon mal ein bisschen Geschirr gezügelt.
Ich habe mir gedacht, dass ich mir dabei viel Packerei
erspare, wenn ich die Tassen und Gläser wie Pralinen ins
Köfferchen beige und so hintrage. Na ja, es ist ja nicht zu
Fuss zu machen, ca. 20 Minuten mit der S-Bahn. Aber jetzt
habe ich dort doch einige "Tassen im Schrank"..
Kennst du den Ausdruck Malou? Ich könnte dir jetzt ohne
weiteres einen Kaffee servieren. Es ist alles da: Tasse,
Untertasse, Löffelchen .... na ja, die Kaffeebohnen fehlen
noch. Eine Kleinigkeit! Und dazu serviere ich 2 Cantuccini.
Kennst du diese Mandelgebäcke. Passt gut zum Kaffee.

Und zuhause verlese ich immer noch Bücher. Ach, ich
weiss wirklich nicht genau, wohin damit. Es sind zuviele.
Und diejenigen, die ich zurücklasse, die liegen dann einfach
so herum. Und wenn ich eins suche, dann weiss ich niemals,
wo ich suchen sollte, in Basel oder hier.
Das Leben ist echt anspruchsvoll Malou, meinst du nicht?

---

Samstag, 22. Februar 2020

Meine neue Strasse


Liebe Malou
Du bist süss, mein Beichtmütterchen. Aber es ist wahr, ich habe wohl in den letzten Jahren mit dir das meiste aus meinem Leben besprochen, was hier sonst niemand weiss.

(---)

Vielleicht denkst du Malou, dass ich bereits gezügelt sei. Das trifft nicht zu. Ich bin erst daran, in der neuen Wohnung die Küche zu putzen und das Büchergestell anzuschrauben. Und natürlich schiebe ich in Gedanken Möbel hin und her, versuche mir den Gesamteffekt vorzustellen etc. Das ist ein gutes Gefühl.  Ich werde - als Anti-Alkoholiker - auch eine kleine Bar einrichten. Von unseren Tessiner Freunden haben wir ein altes Zahnarztmöbel. Es hat viele Schubladen, reicht in der Höhe etwa bis zu den Ellenbogen und ist wasserdicht. Und darüber hinaus steht es auch noch auf Rädern. Man kann es also bei Nichtgebrauch zur Seite schieben. Einzig für einen Fall kann man sich Nachteile ausdenken. Wenn einer der Trinker, vielleicht nach dem 7. Glas Fendant, sich leutselig an den Tresen lehnt, dann wird ihm dieser sanft davonfahren und der arme Beschwipste wird am Boden landen. Ich freue mich schon und erwäge Wetten, wer denn dieser erste sein könnte.

Habe ich dir geschrieben, dass es in meiner neuen Strasse einige ganz nette Geschäfte gibt. Da ist einmal der Italiener. Dort werde ich mir meine Cantalucci besorgen, diese Mandelsüssig- keiten, die zum Kaffee so gut schmecken. Aber er hat auch Gemüse und wunderschönen Salami. Ich glaube, es ist eine echte Italienerfamilie, die das Geschäft führt. Dann gibt es gleich daneben einen Bäcker mit frischem Brot und Croissants. Vielleicht am Wochenende werde ich mir sowas leisten. Sonst schlägt es allzu leicht auf die Linie. Und ein paar Schritte weiter ist diese Buchandlung, die durch die Frau Jennis geführt wird. Jenni hat die Basler Buchmesse aufgebaut. Seine Tochter ist eine international bekannte, noch junge Schriftstellerin. Und diese Buchandlung hat ein sehr schönes Sortiment, wie ich mich schon vor einiger Zeit versichern konnte. Dann gibt es in Reichweite eines Katzensprungs zwei Couffeure, ein Reisebüro, eine chemische Reinigung, ein Fitnes-Center, ein Thai-Restaurant, ein mediteranes Restaurant namens Oliv, zwei Cafés (eines davon ziemlich trendy namens Templum).
Du siehst Malou, ich bin dort in bester Gesellschaft. Aber natürlich werde ich auch etwas auf die Kosten achten und nicht ständig auswärts essen und beim Italiener die exklusivsten Südfrüchte posten. ;--)

Das ganze ist ziemlich abenteuerlich. Und ich glaube, das wird mir für die nächsten 3 jahre twas Energie geben. Und dann sehen wir weiter.
Ich werde dir meine Texte zum Korrekturlesen schicken Malou, und dann können wir uns die Tantiemen teilen! Das sind doch gute Aussichten. Und wenn du nach Basel kommst und  die alten Rheinhäfen anschauen willst, dann überlasse ich dir die Wohnung und ziehe mich bei Walo zurück. Klingt das nicht alles sehr vielversprechend? Ach ja, und dann kaufe ich noch so einen Milchschäumer, damit ich einen anständigen Latte macchiato servieren kann.
Liebe Gs und Ks



Mittwoch, 19. Februar 2020

aufs Geratewohl



Lieber ..,

Neben dem PC liegt das Rilkebuch. Und ich denke ich
schlage aufs Geratewohl irgendeine Seite auf und schicke
dir was ich da finde.

Und schau hier:


*
Gerüchte gehn, die dich vermuten,
und Zweifel gehn, die dich verwischen
Die Trägen und die Träumerischen
misstrauen ihren eignen Gluten
und wollen, dass die Berge Bluten,
denn eher glauben sie dich nicht.


*
Nichts geht über Rilke..

Mit einem lieben Abendgruss
Marlena

Dienstag, 18. Februar 2020

Kästner und Rilke




das junge Paar


Liebe Marlena
Ach, das war eine Geschichte von Erich Kästner! An ihn hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht. Kästner war nun ja in der Tat einer, der viele heimliche und unheimliche Geliebten hatte. Zu Kästner, respektive zu seinem Sohn, kann ich dir eine kleine Anekdote erzählen.
Wir waren vor etlichen Jahren zur Hochzeit von Stefan Kästner eingeladen. Seine Braut war die Tochter einer Freundin meiner Frau, und weil die Hochzeitsfeier in der Nähe von Zürich stattfand, luden sie uns dazu ein. Kästner selbst war ja nun schon lange tot. Aber seine Frau, respektive Freundin, also die Mutter des Bräutigams war natürlich zugegen. Wir haben dem jungen Paar damals ein Bild geschenkt, das ich selbst gemalt hatte. Ich glaube zwar nicht, dass sie dieses Bild heute noch in ihrer Wohnung hängen haben. Aber immerhin haben sie damals gute Miene zu diesem etwas subjektiven Geschenk gemacht. Nun hat S's Freundin, also die Brautmutter uns erzählt, wie die ganze Familie vor dem Hochzeitstag auf Nägeln gesessen ist und in Angst und Spannung der Dinge harrten, die da kommen sollten. Denn alle fürchteten, dass Stefan Kästner im letzten Moment einen Rückzug machen würde, weil er sich vor einer wirklichen Bindung fürchtete. Er hat es dann offensichtlich nicht getan und das Paar bezog dann eine gemeinsame Wohnung in München. Der junge Käster arbeitete dort damals als Pianist. Seine Frau war eine hübsche Jüdin mit schwarzen Haaren, dunkeln Augen und einem Teint. Der Bräutigam glich überigens seinem Vater ziemlich stark. Vor allem die starken Augenbrauen, wie ich fand, waren wie die seines berühmten Vaters. Und er war scheu und war auch etwas klein, wohl wie es sein Vater gewesen sein musste.
Erich Kästner, den ich im Übrigen sehr schätze, hatte nun bestimmt seine Probleme mit den Frauen. Es ist bekannt - und sicherlich weißt du das auch Marlena - dass er einen echten Mutterkomplex hatte. Man kann das ja in seinen Kinderbüchern nachlesen, wie der Mustersohn sich um seine tüchtige und sich aufopfernde Mutter bemüht. Kästners Mutter, das muss seine unheimliche Geliebte gewesen sein. Noch in fortgeschrittenem Alter hat er ihr täglich geschrieben, täglich, meine Liebe, und hat ihr seine schmutzige Wäsche geschickt und über all seine Liebschaften offenherzig erzählt. Er konnte wunderhübsche, charmante Briefe schreiben, unser Erich Kästner. Und so hat er sein Leben lang nicht geheiratet. Ich habe mal ein Büchlein rezensiert, in welchem seine Freundin Kästners Briefe an sie und ihren Sohn aus dem Tessin veröffentlicht hat. Kästner hatte Alkoholprobleme und war im Tessin zur Kur. Allerdings hat er sich dort regelmässig den Whisky im Teeglas servieren lassen.
Diese Briefe, so kann ich mich erinnern, waren sympathisch und lebendig, wie man sich Kästner nun mal vorstellt. Aber eines hat mich gestört. Er hat seiner Freundin und Mutter seines Sohnes immer wieder Geld geschickt in kleinsten Portionen und hat immer wieder von diesem Geld gesprochen. Das fand ich echt kleinbürgerlich und irgendwie knauserig. Er war doch damals kein armer Mann mehr! Aber sonst ist er schon ok, unser Kästner, ein grosser Humanist und ein guter Pädagoge.
Es gibt eine eindrückliche Stelle in seinem biographischen Buch "Als ich ein kleiner Junge war", wo er beschreibt, wie für ihn das Weihnachtsfest stets eine Marter war. Die Mutter hatte Geschenke für ihn und der Vater hatte Geschenke für ihn. Und er als sensibles Kind hatte den Hochseilakt zu bestehen, seine Dankbarkeit und seine Aufmerksamkeit auf beide Elternteile gleichmässig zu verteile, um nicht den einen vor dem anderen zu vernachlässigen. Er muss das gewesen sein, was wir in der Familientherapie ein drianguliertes Kind nennen, also ein Kind im Dreieck mit seinen Eltern, parentifiziert und schwer mit Erwachsenenproblemen belastet. Es gibt ja heute noch die Hypothese, dass er vielleicht ein unehelicher Sohn, das Kind mit dem Hausarzt der Familie, gewesen sein könnte, dass also sein Vater, ein einfacher Handwerker, nicht wirklich sein Vater gewesen wäre. Aber, das wollen wir diesem guten Erich Kästner lassen, er hat das beste daraus gemacht. Seine Jugendbücher sind heute noch wundervoll zu lesen. Kürzlich gab es eine Fernsehsendung, in der einige ehemalige Geliebte Kästners zu Wort kamen. Sie sind heute alle Damen in hohem Alter und sehen nicht mehr allzu blühend aus. Aber alle haben über ihn mit viel Respekt und Begeisterung gesprochen, keine schien mir irgendwie enttäuscht oder beleidigt gewesen zu sein. Er muss sie wirklich verwöhnt haben und muss ein charmanter Liebhaber gewesen sein. Er wäre darin wirklich ein gutes Vorbild für mich.
Dass sich also Kästner in seiner Geschichte als Künstler mit einer deutlich jüngeren Frau beschäftigt, ist durch sein Leben gut motiviert. Ich denke, die Frauen waren ihm insgesamt etwas unheimlich und überwältigend. Und so ein junges hübsches Fräulein war leichter zu "apprivoiser", zu einem Teil seiner selbst zu machen. Er gibt seinem schweigsamen Fräulein zum Schluss der Geschichte unendlich viel Macht. Je weniger sie sagt, desto mehr ist er ihr ausgeliefert und mit ihr verstrickt.
Was sagen denn deine Schüler zu dieser Geschichte? Was sagen die emanzipierten jungen Schwedinnen und jungen Schweden zu einer solch ungleichen Paarung? Man kann die "Szenen einer Ehe"(das ist der deutsche Titel von Bergmans Film) schon im voraus riechen, die aus dieser Paarung entstehen werden, nicht wahr?
Und die Moral der Geschichte? Soll ich mich hüten, mich in Zukunft zu sehr in Texten, Gedanken und Erzählungen zu verausgaben? Vielleicht muss ich mich mehr zurückhalten, mich mehr auf die Zeichnung konzentrieren, und die grossen Worte beiseite lassen. Doch irgend einmal wird die Zeichnung zu Ende sein. Und dann werden wir sie über dem Sofa aufhängen. Über welchem Sofa, das wird dann die grosse Frage sein!
Weißt du, warum ich Zeichnen und Malen sosehr mag? Weil man dabei einen sogenannten "Flow" erleben kann. Ich vergesse die Zeit, ich kann so vertieft sein in das, was ich tue, dass ich in einen paradiesischen Zustand gerate. Es ist wie eine Ekstase, ein Art von Somnambulismus, oder wie kann man das nennen? Das gelingt nachtürlich nicht jedesmal. Manchmal bin ich auch sehr unzufrieden und verärgert, wenn mir das Werk nicht gelingen will. Das geschieht vielleicht noch häufiger als dieser Flow. Doch letzeres ist eine Art Jungbrunnen. Du fühlst dich nachher so, wie du dich nach der Sauna fühlst, oder nach einem Autogenen Training oder einer Akupunktursitzung. Du fühlst die ganze Leichtigkeit des Seins.
*
Rilkes Liebesgedicht aus Capri kenne ich, wenn vielleicht auch nicht so eingehend. Weißt du, was mir bei Rilke schon in meinen jungen Jahren stets gefallen hat, das ist dieses Ajambement. Ich glaube so nennt man das, diese poetische Gewohnheit Rilkes, den Hiatus in die Mitte der Zeile zu setzen, so dass dann die Sprache über den Reim hinwegfliesst. Das war Rilkes Spezialität. Für mein Gefühl erreicht er damit diese geschmeidige Kombination von Reim und Sprachfluss. Wenn der Reim und der Hiatus (nennt man das so, dieser kleine Unterbruch in der Zeile, dieses kurze Innehalten um Luft zu holen oder so??) zusammenfallen, dann gibt es so einen mechanischen und monotonen Rhythmus, wie bei Liliencron. Ich vermute, die so schwebende Sprachmelodie bei Rilke kommt daher. Lass mich dir auch ein Rilkegedicht zitieren, das mir sehr gefällt, weil ich dabei immer an meine beiden Töchter denken muss. Es geht so:

Die Schwestern
Sieh, wie sie dieselben Möglichkeiten
Anders an sich tragen und verstehen,
so als sähe man verschiedne Zeiten
durch zwei gleiche Zimmer geh n.

Jede meint, die andere zu stützen,
während sie doch müde an ihr ruht;
und sie können nicht einander nützen,
denn sie legen Blut auf Blut,
wenn sie sich wie früher sanft berühren
und versuchen, die Allee entlang
sich geführt zu fühlen und zu führen:
Ach, sie haben nicht denselben Gang.

Dazu muss ich sagen: Das letzte Wort des ersten Abschnitts schreibe ich geh n, weil mein Schreibprogramm das Wort stets korrigiert und "gehen" daraus machen will. Diese Computerprogramme sind echt stur und naiv, muss ich schon sagen! Offensichtlich haben sie nie was von Poesie gehört!!!
"die Allee entlang sich geführt zu fühlen und zu führen", dieses feminine üüüüü finde ich so zart schwebend und fein, dass es mich rührt, zusammen mit diesem bei Rilke häufigen Bild der Allee, des Weges an sich. Und dann diesen Schlusssatz, der alles wieder öffnet. Wenn man schon meint, man hätte die Wahrnehmung der Geschwisterlichkeit erfasst, so ist doch plötzlich alles wieder offen und überraschend und das Leben bricht herein.
Auch schön und festgefügt die Symmetrie der ersten und der letzten Zeile: Sieh, wie sie, .........Ach, sie haben .... Ich bin ja nun kein Literat und kann nicht erklären, was denn daran so genial ist. Es berührt mich einfach, und manchmal werde ich wirklich neidisch, wenn ich höre, wie er das sagen kann. Obwohl ich bei Rilke nicht wirklich höchst neidisch werde. Er ist dann doch etwas feminin. Aber beispielsweise bei John Updike (er muss Holland stämmig sein, wie ich annehme, und litt früher sehr an Neurodermitis, wie ich in einem Interview gelesen habe) oder in jüngeren Jahren gelegentlich bei Günter Grass (unser neuer deutscher Nobelpreisträger) konnte mich der blanke Neid überfallen, weil ich einen Gedanken, eine Beobachtung mitsamt ihrer Formulierung einfach genial und einmalig und unwiederholbar fand. Updike ist ja nun wirklich ein begnadeter Erzähler mit einem Charme und einer Eloquenz, die man nur beneiden kann. Grass ist dagegen etwas gröber und eckiger, wie die Deutschen nun eben mal sind.
Damit muss ich nun unser literarisches Kolloquium definitiv beenden. Es ist schon spät, aber nicht abends, wie bei dir meist, sondern morgens, und die Arbeit wartet ungeduldig auf mich.
Ich wünsche Dir alles Schöne, meine liebe Marlena
Gruss
...

PS Du hast es auch mitbekommen, dass wir eine wahre Marlene-Renaissance haben, mit der Verfilmung der Dietrich. Ist ein schöner Name "Marlena" (obwohl ich hier auf dem Laptop im Tempo und auf Anhieb immer Malrena schreibe), bei uns in der Schweiz praktisch nicht zu finden. In Deutschland wohl eher?

Sonntag, 16. Februar 2020

Fachgespräch? ;-)


Subject: Mein Vollmondblues
Date: Wed, 17 May  14:54

Liebste Marlena

Du bist eine echte Lehrerin. Du bist kommunikativ sehr bewusst und kontrolliert. Du weißt, worüber du sprechen sollst und worüber sich besser schweigen lässt. Dessen muss man sich im Unterricht wohl immer ziemlich genau bewusst sein. Man kann nicht halbwegs über etwas sprechen und dann die Diskussion wieder abbrechen. Ich glaube, du hast darin die weit klarere Linie als ich sie habe. Ich bin gewohnt, private Gespräche zu machen. Da gibt es viele Zwischentöne und angefangene Sätze und Versprecher und Fragezeichen. Da macht man Kurven und Schlingen und Stops. Zwei oder drei Personen sind leicht zu steuern. Aber eine ganze Klasse, das ist wie ein Hochseedampfer; der hat einen sehr langen Bremsweg. Man muss weit in die Ferne sehen und wie ein Kapitän vorausdenken und mit feiner Hand steuern.

Und du bist Oberstudienrätin, das habe ich indirekt von dir vernommen! Das hast du mir anfangs nicht gesagt, du hast bloss Studienrätin gesagt. Ist das vor allem eine Frage der Erfahrung, wann man von der Studienrätin zur Oberstudienrätin avanciert? Oder muss man dazu vom Vorgesetzten vorgeschlagen werden? Meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind lohnmässig gleich gestellt wie Studienräte, dh. wie Gymnasiallehrkräfte. Ich selbst und meine zwei Leiter sind ein bisschen höher angesetzt, so dass sich unsere grossen Sorgen auch ein bisschen auszahlen.

Und noch etwas würde mich aus deiner Schule sehr interessieren. (ich muss ja wohl ein paar Fragen zur Schule stellen, wenn ich später behaupten werde, ich hätte in der Arbeitszeit mit einer schwedischen Schule Fachgespräche geführt). Ich behaupte immer wieder, wir hätten in der Schweiz die besten Schulen der Welt! Ich behaupte das einfach in die blaue Luft hinaus, weil hier in der Schweiz die Schule von allen Seiten kritisiert wird. Jeder meint, er könnte es besser machen. Ich bin auch der Meinung, dass man vieles besser oder anders machen könnte. Aber man muss sich immer bewusst sein, in welcher sportlichen Liga man diskutiert. Und wir sind in der Liga der Weltspitze. Und Schweden ist es sicherlich auch. A. war in Spanien - Andalusien, in Ungarn und in Südamerika zur Schule gegangen. Und wenn ich mir das anhöre, wie Schule dort funktioniert, dann muss ich sagen, wir sind meilenweit davon entfernt. Ungarische Schüler sind zwar sehr fleissig. Sie lernen aber auch noch viel auswendig, wie sie erzählt hat. Und die spanischsprechenden Schulen sind mit den unseren kaum zu vergleichen.

Seid ihr im Schulsystem ähnlich wie Deutschland, oder England, oder Amerika? Wie läuft es bei euch in Schweden, Marlena? Habt ihr einen grossen Prozentsatz pro Jahrgang, der ins Gymnasium übertritt? In der Schweiz sind es wenige, ich glaube bei 15 -20%, bin aber nicht sicher. Und es gibt Stimmen, die laut behaupten, dass die zukünftige Dienstleistungsgesellschaft mehr AkademikerInnen brauchen wird.

Was ist die Stärke des Schwedischen Bildungssystems? Habt ihr auch das duale System der Lehre, der praktischen Berufsbildung, dh. Schule einerseits, praktische Arbeit andererseits?

Du hast mir gesagt, dass euer König ein schwerer Legastheniker sei. Habt ihr spezielle Therapien in der Schule für Kinder mit legasthenischen Problemen? Gibt es am Gymnasium auch Legastheniker, so dass ihr zum Beispiel dann die Noten in der Rechtschreibung weniger gewichten würdet?

Es sind viele Fragen, Marlena. Ich habe sie gestellt, damit ich behaupten kann, ich hätte sie gestellt. Wenn du keine Lust hast, sie zu beantworten, dann sag mir was Liebes. Das höre ich noch viel lieber von dir als irgend etwas anderes!

Und hast du mir nicht vor 400 Jahren versprochen, du würdest mir von deinem Studium in Uppsala erzählen, hast du das nicht?

*

Zur Tatsache, dass man ...



Samstag, 15. Februar 2020

"recht und falsch zugleich"



Liebe Malou

Ja, ist ein interessanter Text. Und es widerspricht der psychologischen These, die man sooft hört, dass man sich im Gespräch von den Sorgen und Problemen befreien kann. Das habe ich nur als junger Student geglaubt, und später sind mir immer mehr Zweifel gekommen.

Aber vielleicht muss man ein bisschen differenzieren. Wenn man über die Fragen und Probleme redet oder schreibt, kann man sie verändern. Es ist wie wenn man sie kneten würde. Harte Komplexe werden etwas weicher, beginnen, sich selbst zu bewegen, fühlen sich anders an und erlauben so oft, vielleicht nicht immer, aber oft, sie in andere Fragen, Entscheidungen, Gefühle zu überführen. Es wird was anderes draus. Und sie werden so irgendwie ins Leben zurückintegriert und verarbeitet. So ungefähr schaue ich das an. Durch das Gespräch - und durchs Schreiben - werden sie in eine homöopathische Form gebracht. Deshalb hat Bichsel recht und falsch zugleich. Aber es ist ein guter Text Malou, ich danke dir dafür.
Liebe Grüsse und Küsse
...



Donnerstag, 13. Februar 2020

Re: Was ist Schnee?



Lieber Mausfreund,
Das habe ich mich auch schon gefragt, bis endlich
diese schöne weiße Decke auf dem bisher sommer-
lichem Grün lag. Und man sieht, dass sich die Kinder
freuen. Hier hinten auf den Feldern bewegen sie sich
mühsam vorwärts auf ihren (vielleicht) neuen
Skiern.

Heute Abend war ein Dokumentar über Fi. Die neue
Partei "Feministische Initiative", von der man so viel
erhoffte. Doch bald wurden die Frauen, die sie
zusammen gründen wollten, bittere Feinde. Einige
von ihnen waren sehr extrem in jeder Hinsicht. Alle
bisherigen Werte sollten abgeschafft werden. Ich
glaube sie würden sich über dein Bild gefreut
haben. ;-)

Ich habe mich heute wieder ein wenig (na ja wenig
ist relativ) mit den alten Mails beschäftigt. Sie sind
alle in alphabetischer Ordnung und bevor ich sie auf
die CD lege muss ich vor dem Titel das Datum des
Mails angeben. So werden sie in chronologischer
Ordnung gespeichert ...

(---)

PS

Schreiben ist gefährlich.

»Man kann sich nichts vom Leib schreiben. Man
schreibt sich alles auf den Leib. Selbst wenn man
einen politischen Artikel schreibt, wird das Elend
und die Wut immer größer, nicht kleiner. Schreiben
ist keine Therapie, Schreiben ist gefährlich. Auch
nach dem Brief, den du deiner Freundin oder deinem
Freund schreibst, um dein Elend endlich einmal
jemandem herauszukotzen, geht es dir nachher nicht
besser, sondern schlechter.
Schreiben ist unhygienisch, gefährlich.«

(Peter Bichsel, in: Weltwoche, 11/00 v. 16.3.99)

............
Dies habe ich soeben in unserem "Archiv" gefunden.
Origineller Gedanke.
Was hältst du davon?

Kleiner Gutenachtgruss und Kuss
Marlena

Montag, 10. Februar 2020

Was ist Schnee?



Liebe Malou
Ja, offensichtlich gibt es bei euch oben von diesem weissen
Material, von dem WIR nicht mehr wissen, wie es ist und
sich anfühlt. Es ist wie verhext. Wir müssen unseren Kindern
Eis aus dem Frigidaire kratzen und ihnen dann des Langen
und Breiten explizieren, dass Schnee sowas ähnliches ist.
Und wenn es weit geht, werden wir ihnen noch ein Eiscrème
herausklauben, damit sie auch mit der Zunge dieses merkwür-
dige Gefühl der Kälte fühlen können. Ich glaube, es wird in
Zukunft lange Lektionen brauchen, um den kleinen dieses
exklusive Material näher zu bringen.

Und vielleicht, wenn man dann mit ihnen in die Ferien nach
Duabai fährt, werden sie in einem Zelt eine kleine Piste fin-
den, wo sie auf diesem Material sogar auf Brettern herunter
rutschen können. Aber das ist natürlich nur in der Wüste
möglich.

Hier ist es zwar regnerisch, aber durchaus warm. Ich muss
für A ein paar Texte lesen. Sie hat bald eine Zwischenprüfung
und wenig Zeit, sich damit zu beschäftigen. Ich habe bloss
den ersten angeschaut: eine kleine Abhandlung von Habermas
über die Zeitkonzeptionen der Moderne. Es ist soooo
kompliziert. Ich weiss nicht, weshalb sie diesen jungen
Leuten solche Texte unter die Nase halten. Sie wollen
bloss gross angeben, glaube ich.

Anstatt eines Winderbildes schicke ich dir eine kleine
Zeichnung Malou. Sie ist durch und durch feministisch
gedacht.

Liebe Grüsse
...



Thema Gewalt



Lieber ...
Schon wieder dieser wild herumflatternde Engel, der dich
bei der Arbeit stört. Sorry! Ich möchte das doch wirklich nicht.
Aber es ist ein grosses Abtenteur in dieses  "... temps perdu"
hinunterzusteigen. Und ich glaube, genau wie Prousts Roman
immer noch die Menschen fesselt, so würde sie auch diese
etwas modernere "Recherche .. " interessieren können.
Ich finde so viel Schönes bei diesem Vorhaben.
Um das Datum eines Mails zu sehen, muss ich es jeweils
öffnen.. und dabei bleibe ich manchmal etwas hängen und
geniesse.. ja das ist das richtige Wort. Es tut richtig gut das
wieder zu lesen. Hätte ich nicht gedacht. Hier nochmals eine
kleine kostprobe, diesmal von dir:

"Manchmal halte ich mich auch in diesen meinen besten Jahren
noch für ziemlich dumm. Ich meine, einfach ungeschickt, unvoll-
kommen, anfängerhaft! Das ist ja kein besonders gutes Gefühl,
aber ich glaube, das geht allen Menschen, die mit sich ehrlich
sind, mehr oder weniger so. So wünsche ich Dir zur neuen Runde
der Klugheit alles Gute, meine liebe Marlena, und ich hoffe, dass
wir mit maximal einem Streit pro Jahr im Durchschnitt durch-
kommen. Das ist nicht zuviel und belebt die Gefühle. Du wirst
lachen auf den Stochzähnen, nehme ich an, denn ich erinnere
mich, wie Du einmal ungläubig reagiert hast, als ich gesagt hatte,
wie harmoniebedürftig ich eigentlich sei. Und das ist wirklich so.
Ich streite sehr ungern, obwohl ich mich dann doch sehr leicht
hineinsteigere, und ich es nicht bei der nüchternen, kleinen
Aggression belasse, die eigentlich sehr wohl genügen würde.

Apropos Streit. Ich lese gerade ein Büchlein für Jugendliche
über Gewalt. Der Autor macht eine scharfe Trennung zwischen
Aggression und Gewalt. Das ist zwar nicht ganz neu für mich,
in dieser Klarheit aber eben doch bemerkenswert. Aggression
bezeichnet er für das Bemühen, die eigenen Grenzen zu vertei-
digen. Es geht also um mich und um sog. Ich-Botschaften. Ich
versuche zu sagen, weshalb ich ein Verhalten des anderen nicht
akzeptieren kann, weshalb es mich ärgert, weshalb ich mich
verteidige. Dabei kann ich auch laut und eben aggressiv werden.
Aber ich brauche den anderen deswegen nicht anzugreifen. Ein
Angriff würde in den meisten Fällen eine Eskalation bringen.
Das wäre Gegengewalt auf Gewalt. Aber Aggression ist legitim
und wichtig, um die eigene Souveränität zu bewahren. Einziges
Problem liegt darin, dass viele Leute Aggression schon wieder
als Gewalt betrachten, und darauf hilflos reagieren.

Du siehst, ich bin immer noch beim Thema Gewalt. Ich muss den
Artikel dieses Wochenende schreiben. Aber weil ich gestern noch
ca. 40 Bücher zu rezensieren geholt habe und weil darunter dieses
kleine Aufklärungsbuch über Gewalt war, so bin ich immer noch
daran, zu lesen und Material zu sammeln."
*
Grüsse dich nochmals lieb

Sonntag, 9. Februar 2020

Auslöschen


Lieber ...,

Du kannst dir garnicht vorstellen welch merkwürdiges und genussvolles Gefühl es ist diesen Dokumentzerstörer zu betätigen. Dabei wünsche ich man könnte dasselbe mit einigen Erinnerungen tun. Und so ist es ja fast auch. Einiges, was ich nun auf Papier wiederfinde und ins Gedächtnis zurückhole, wird dann für immer ausgelöscht sein. Und es rasselt so herrlich... :-)  Ich habe den Eindruck, dass ich ein wildes Tier füttere. ...
...

Re: Zerstörer 

Liebe Malou

Ja, du lobst deinen Shredder. Und du weisst vielleicht nicht, dass ich in einem ähnlichen Fahrwasser treibe. Ich muss ja doch zuhause aufräumen. Und ich muss im Büro aufräumen. Und damit meine ich jetzt nicht bloss, die Dinge in Ordnung bringen, sondern recht eigentlich sichten und nur die wichtig- sten Dinge behalten. Wirklich nur die allerwichtigsten. Und welche sind die Wichtigsten? Es ist einfach enorm, wie man mit der Zeit an diesen Dingen hält und immer das Gefühl hat, man könne dieses oder jenes noch brauchen. Nein, ich muss wirklich radikale Häutungen vornehmen. Ich brauche eine neue Haut. Es geht nicht anders. All das Zeug wiegt so schwer. Ein leeres Büro wäre eine Wohltat. Ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie das aussehen würde.

Deshalb beneide ich dich ein bisschen um deinen "Zerstörer", auch wenn das Wort ganz kriegerisch und eben zerstörerisch klingt. Es klingt unheilvoll. Desktruktiv. Shredder ist doch besser als Wort.

Heute haben wir hier nahezu Frühlingswetter. Es riecht so wie rund um die Fasnachtszeit. Aber es ist warm, um die 15° habe ich gehört. Irgendwie ist es schade, dass es keinen richtigen Winter mehr gibt. Und das nicht wegen des Winters, sondern wegen des Sommers. Man schätzt doch den Frühling ganz anders, wenn man lange auf ihn gewartet hat. Nein, es ist ganz unheilvoll mit diesen neuen Temperaturen.

Und jetzt willst du mir Standard-Tagebuch schicken. Ein Commouniquée??

Mit lieben Gs und Ks und im Qs Umfang
...




Samstag, 8. Februar 2020

Ausrede ? :-)


subject Ausrede? :-)

Lieber ...,
Nur allzu gern hätte ich gestern den von dir vorgeschlagenen Spaziergang mit dir gemacht. Uns bleibt aber nur diese Chatvariante. Das ist auch nicht schlecht, aber nachher fühle ich mich meistens ziemlich traurig, denn ich glaube nicht, dass ich die Möglichkeit habe "etwas zu retten", wie du es nennst. Und was wolltest du sollte ich retten? Deine Ehe? Deinen Wunsch getrennt zu leben? Es wäre bedeutend leichter für mich, wenn ich nur DEIN Bestes vor Augen hätte und vielleicht sollte ich dich in deinen eigenen Wünschen mehr unterstützen. Aber ich kann nicht deine Familie vergessen. Auch sie leidet sehr unter der gegenwärtigen Situation. Bitte, sag mir was du von mir erwartest.

Ich danke dir für alle schönen Worte zu meinem französischen Mail. Genau so möchte ich alle Mails bezeichnen, die du mir in den Jahren gesandt hast.. na ja, bevor du "mental ausgewandert" bist. Es ist wirklich etwas erstaunlich, wie eine Sprache auch unser Denken beeinflussen kann. Sie ist nicht nur ein Werkzeug unsere Gefühle zu vermitteln, sie ist auch mitschöpferisch.
Ja, ich weiss, mein Deutsch ist sehr nüchtern und prosaisch. Ich habe es einmal sehr bemerkt, als ich dasselbe erzählt habe auf Schwedisch, Deutsch und Englisch (nicht einmal Französisch ;-) und ich habe gedacht, diese Briefe sind als wären sie von ganz verschiedenen Personen geschrieben. Im Deutschen fehlen mir die idiomatischen Ausdrücke, die dem Bild Farbe und Intensität verleihen. Manchmal suche ich im Wörterbuch nach solchen, aber sie sind nicht leicht zu finden, denn jede Sprache hat ihr eigenes Gut.

OK... wenn ich nicht gerade in Eile wäre, hätte ich vielleicht auch diesen Text etwas anders gestaltet.

Schreib mir, ... . Lass bitte bald wieder von dir hören.

Ich wünsche dir einen schönen angenehmen Tag.
Mit GuK
Marlena

Sonntag, 2. Februar 2020

Bald Fasnacht


Liebe Malou

(---)

Jetzt ist die Direktionssitzung vorbei. Es war etwas viel Gerede. Ich glaube, der Chef geniesst es ab und zu, mit seinen Leuten zusammenzusitzen um ein Gefühl der Gemeinsamkeit entstehen zu lassen. Er macht dann viele komische Bemerkungen und die Lacher seiner Mitarbeiter sind dann wie Medizin für ihn. Natürlich gibt es Leute, die immer besonders früh und besonders laut lachen. Ich gehöre nicht dazu. Aber wenn es wirklich lustig ist, lache ich durchaus und gerne mit. Nicht immer aber ist es lustig.
 
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Heute ist es regnerisch hier im Raum Basel, aber nicht sonderlich kalt. Irgendwie merkt man in der Luft, dass die Fasnacht nicht allzu weit ist. Liegt es am Licht? An den Temperaturen? An den Menschen? Es scheint mir ganz deutlich, dass die Tage wieder länger werden und die Temperaturen ansteigen, obwohl, wie wir wissen, diese Temperaturen schon generell etwas zu zu hoch sind. In einer Woche machen die Basler ihre Fasnacht. 
 
Vielleicht stehe ich früh auf und schaue mir den Morgenstreich an. Ich habe ihn erst einmal im Leben gesehen. Damals war ich mit meinem Vater von Visp nach Basel gereist. Hat mir aber wegen der vielen Menschen und dem Gedränge nicht gefallen. Es gab soviele Leute, dass die Schaufensterscheiben eingedrückt worden sind. Und ich als kleiner Knirps war irgendwie mitten im Getümmel und tief unten zwischen den Hintern und Bäuchen anderer Leute. Das war wirklich nicht besonders.
 
Und bei euch. Habt ihr Fasnacht? Ich glaube nicht, dass du davon je erzählt hättest. Nicht wahr? Jedenfalls wünsche ich dir eine gute Zeit.
Liebe Gs und Ks
 
...