Ämne : 2002 zum ersten!
Datum : Wed, 2 Jan 09:37
Liebe Marlena
Lass mich diesen Tag mit einem kleinen Mail an
Dich anfangen. Es ist nach so vielen freien Tagen
nicht einfach, ins Büro zurückzukehren. Man hat
einen kleinen Geschmack gekriegt, was man mit
dem Leben alles Schöne anfangen könnte, wenn
man zuhause in der warmen Stube den eigenen
Launen nur zu folgen braucht. Und jetzt kommt
man hier in diese Papierwüste und alles liegt und
steht und lümmelt herum wie noch in den letzten
Dezembertagen. Man weiss gar nicht, wo beginnen.
Und irgendwie scheint das gute Jahr, schon a priori
zu kurz und zu knapp bemessen.
Was wird es uns alles bringen, dieses Jahr. Heute
ist es noch jungfräulich und optimistisch.Aber das
ist vielleicht blosse Naivität! Was wird daraus?
Und wie schaffen wir die vielen Anforderungen,
die da kommen? Man könnte sich beruhigen, sich
gut zureden und sagen, dass wir eines nach dem
anderen nehmen sollten, wie es kommt. Sicherlich
ist das eine gute Strategie. Aber wo bleibt dann die
Übersicht? Wer, wie der Beamte am Schalter, sich
nur mit dem vordersten Kunden beschäftigt, der
Übersieht die langen Schlangen und der Ärger, der
sich hinten aufstaut. Also sollte man sich auch mit
dem Gesamten beschäftigen. Und wenn man das
Ganze sieht, dann kriegt man leicht den
Bergkoller.
*
Hast Du Dir irgendwelche Ziele vorgenommen für das
neue Jahr, Marlena? Ich meine, hast Du gute Vorsätze,
wie sie die meisten Menschen am Silvester formulieren,
um sie an Neujahr mehr oder weniger wieder vergessen
zu haben?
Von den "niederen" Sünden hast Du keine, soweit ich in
diesen Dingen informiert bin. Du rauchst nicht, du trinkst
nicht, du brauchst nicht Gewicht zu verlieren, Du bist nicht
unordentlich, Du verzettelst Dich nicht in irgendwelchen
zweitklassigen Dingen. Hast Du denn wenigstens eine
interessante Todsünde, die es wert wäre, mit einem guten
Vorsatz bekämpft zu werden? Vielleicht fluchst Du
gelegentlich, was ich mir zwar kaum vorstellen kann.
Ach, ich kann mir bei Dir keine respektable Sünde
wirklich vorstellen. ... Was mich betrifft, so bin ich
voller Sünden, der hohen wie der niederen. Allerdings
kenne ich mich im Sündenregister schlecht aus. Ich kann
die hohen schlecht von den niederen unterscheiden. Ich
meine, sie sind mir alle so ähnlich und oft auch so wenig
distanzierungswürdig. Und doch versuche ich, altmodisch
wie ich bin, mir ein paar gute Vorsätze aufzugeben.
Schau mal, Marlena, ich versuche sogar, sie zu
nummerieren, um das spezifische Gewicht etwas zu
erhöhen. Sie sollen doch sinken, und nicht gleichmit
dem Wasser davonschwimmen. Sie sollen sinken und
fast wie ein Anker einen gewissen Halt geben, mindestens
wie eine Koje einen Ort markieren.
1. Ich will in diesem Badewannenjahr meine spirituelle
Haltung wachsen lassen. Das hört sich geheimnisvoll,
wenn nicht gar pathetisch an, nicht wahr? Damit meine ich
vielleicht etwa folgendes: ich möchte mich in diesem
merkwürdigen Jahr 2002 nicht von all diesen kleinen
alltäglichen Dingen treiben lassen. Ich will unterscheiden,
was wichtig und was nebensächlich ist. Ich möchte mich
auf die grossen Spielzüge konzentrieren, auf die
Strategien eigentlich, und auch meinen Mitmenschen
diese Haltung mitteilen. Nicht gleich auf jede Kleinigkeit
stürzen. Nicht zu sehr in Eile. Überlegt und heiter an die
grösseren Dinge herangehen. Wissen, dass es - neben dem
kurzfristigen Misslingen - längerfristig immer auch noch
durchaus Gewinn und Erfolg gibt. Wissen, dass den Dingen
Zeit zusteht, dass sie Zeit brauchen. Wissen, dass sich vieles
selbst in Wohlgefallen auflöst.
Nichts ist mir so zuwider wie eine sture, unflexible und
engstirnige Haltung. Ich glaube nicht, dass ich viel davon,
an mir hätte. Und dennoch möchte ich noch weiter davon
weg kommen. Ich möchte grosszügig denken und fühlen.
Ich möchte gerade auch gegenüber jüngeren Menschen und
Mitarbeitern ein grosszügiges Wohlwollen in sie und ihre
Geschäfte investieren.
Eigentlich möchte ich philosophisch leben. Ich möchte wie
die alten Milesier und Pythagoreer das Denken auf mein
alltägliches Leben wenden und mit meinem Stil zeigen,
dass es einen umfassenderen Horizont gibt als den bloss
alltäglichen. Ich will zeigen, dass ich meine Absichten mit
Macht in mir selbst unterstützen kann, wie es die Sophisten
vorgelebt haben. Ich will wie Sokrates erfahren lassen, dass
Kontakt und Dialog mit anderen Menschen viele Dinge in
ein Licht der Selbstverständlichkeit und der Lösbarkeit
taucht.
Natürlich will ich mit Aristoteles auch meine Klugheit
ausbilden und in freundschaftlichem Verhältnis zu den
Dingen entscheiden. So irgendwie hat sich doch auch
Rilke geäussert?
Ich will bessere Freundschaften entwickeln.
Das ist wohl eines der wichtigsten Elemente des schönen
Lebens, wie Du es immer wieder andeutest. Ich will, wie
die Kyniker, an mir arbeiten, mich in den Äusserlichkeiten
des Lebens beschränken und damit eine Selbstmächtigkeit
erreichen, die mich von Abhängigkeiten löst. Aber ich will
bestimmt nicht ohne Lust leben. Nein, ich will mit Epikur
meine Lüste klug und gut wählen und mit einer gewissen
Sparsamkeit geniessen. Die Dosierung macht den Gewinn,
vor allem der Verzicht, der Aufschub, die Mässigung. Auch
sogar Unlust kann spätere Lust erhöhen, deshalb darf man
sie nicht bloss anklagen.
Ich will wie die Stoiker meine Seele nicht zu sehr von jenen
Gedanken und Ereignissen befallen lassen, die ich nicht in
eigener Hand habe. Die Wahl meiner Vorstellungen macht
frei gegenüber den widerlichen Stürmen des Lebens.
Ich will - vielleicht wie Michel de Montaigne - das Leben
als experimentellen Weg sehen, und mich von eigenen
Erfahrungen und Überlegungen führen lassen. Ich will
mich diesem Experimentum in vivo bewusst und immer
wieder aussetzen, um mich selbst voll zu machen von
Leben.
Aber ich will, bei alledem, auch skeptisch bleiben
gegenüber dem Wissen, gegenüber Begriffen und
gegenüber der Gegenwart, wie es mir ja Marlena immer
wieder signalisiert. Es gibt keine Regeln, es gibt keine
Rezepte. Es gibt letztlich nur so etwas wie die
Plausibilität.
Das ist ein lustiges Wort, kommt vom Lateinischen
PLAUDO, PLAUSI, PLAUSUM was "klatschend
schlagen, stampfen", dann soviel wie "Beifall klatschen,
Beifall spenden" meint. Plausibilität ist - nach meinem
Verständnis - eine generelle Zustimmung, das Gute und
das Schöne in einem. Plausiblität heisst dann so viel
wie Zustimmungswürdigkeit. Wir sagen auch Bejahung,
also eine allgemeine affirmative Haltung. Erst diese
Affirmation macht ja doch aus dem Leben das Leben.
*
Ach, Du siehst, meine guten Vorsätze sind etwas
schwerfällig und kommen daher wie eine lange Kolonne
vor dem Schalter des Beamten. Aber sie sind ja doch nur
Aspekte des einen und alles. Vielleicht ist das erste und
grundsätzliche wirklich das Allgemeine. Das Grosse.
Im Allgemeinen gehen all die kleinen Dinge auf und
finden sich wieder. Rilke ist immer so schön und
allgemein, das er uns, wie mit einer grossen
transparenten Schleppe, mit sich und seiner
Plausiblitität nimmt.
*
Mittlerweile ist es schon bald 0900h. Der Tea Room
gegenüber ist geschlossen. An der Kurve, der zweite
Tea Room, ist auch ohne Licht. Vielleicht habe ich mich
im Datum vertan? Vielleich ist heute noch ein Feiertag,
und niemand geht zur Arbeit? Es gibt auch wenig
Menschen auf der Strasse. Wahrscheinlich liegen die
meisten noch im Bett und strecken sich in der wohligen
Wärme aus. Doch gegenüber, auf zwei Stöcken, brennen
in den Büros die Lichter.
Und den Pfarrer Christ habe ich auch vorbei gehen sehen.
Er geht bestimmt nicht einen Schoppen trinken zu dieser
Stunde, sondern in sein Büro hier in der Nähe. Ich werde
mir rasch ein kleines Frühstück holen und schauen, ob
die übrigen Geschäfte offen sind. Gegenüber am
Wasserturmplatz ist die grosse Drogerie durchaus offen
und bietet wie eh und je Alka Seltzer an für alle, die vom
Silvester her noch etwas Kopfsausen haben.
*
In der Tat, nicht alle Läden sind heute offen. Und viele
Büros geschlossen. Ich denke, auch die Verwaltung hat
eigentlich noch einen freien Tag. Kein Mensch geht an
diesen Tagen irgendwelche Formulare holen oder
Beschwerden anbringen. Nein, ich glaube, ich kann mir
hier einen wirklich gemütlichen Vormittag machen.
Und das schöne, kalte Wetter unterstützt mich in
meinem Vorhaben.
Ich wünsche Dir einen ebenso gemütlichen und lockeren
Vormittag, um die guten Vorsätze wirklich mittels Nägeln
mit Köpfen im Alltag zu installieren.
Mit einem lieben und schönen ersten Gruss...
...