Dienstag, 28. Januar 2020

Dunkelstunden






Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.


Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.


Rainer Maria Rilke  (1875-1926)

Aus: Das Stundenbuch / Buch vom Mönchischen Leben (1899)





Sonntag, 26. Januar 2020

Blick durchs Fenster



Kein Winter dieses Jahr?

26 januar 2020

Mittwoch, 15. Januar 2020

Friedhof Montparnasse




Liebe Marlena 

---

Als wir vor einigen Jahren die ganze Familie in Paris
weilten, besuchte ich den Friedhof Montparnasse.
Allerdings allein, denn zu einem solchen Unternehmen
konnte ich schwerlich die ganze Familie mitnehmen.
Ich fuhr also mit der Metro zur Gare Montparnasse und 
fand bald darauf die hohe Friedhofmauer. Sartre und die
Beauvoir hatten eine zeitlang hier in der Nähe gewohnt.
Vor allem aber wollte ich das Grab sehen, wo sie beide
liegen. Das war etwas merkwürdig, weil ich ja sonst
kaum auf einen Friedhof gehe. Man ist ein bisschen
unsicher in der Gefühlslage. Soll man bedrückt dahin-
wandeln, oder kann man durchaus vergnügt und
selbstverständlich durch die schmalen Kieswege
gehen und nach den Gräbern Ausschau halten wie
nach alten Freunden.
Ich habe sie gefunden, Sartre und Beauvoir, sie liegen
gleich beim Eingang rechts, an der Mauer. Das Grab
ist sehr einfach. Doch weil ich schon einmal dort war,
suchte ich auch das Grab von Becket, und fand
nebenbei noch jenes von Gainsbourg.
Dort, rund um einen riesigen Marmorblock, turnten
nämlich ein Paar junge Mädchen herum und rauchten
wie die Kamine. Sie passten echt zum dekadenten 
Gainsbourg. Kennst du seine Musik, Marlena? Sie ist 
ja sehr sensibel und kreativ, muss ich zugeben. Aber
als Typ war er ein bisschen verdorben, zu artistisch.
Es war ihm geradezu ins Gesicht geschrieben.
Und ein paar Schrittte weiter lag ein einfaches Grab
von Samuel Becket, einem der grössten Dramatiker
unserer Zeit. Es kam mir vor wie eine grosse, kühle
Schutzhülle, etwas abweisend und still vor sich hin
liegend.
Sartre war also ein Ziel. Du kennst vielleicht
die Sehnsüchte und Vorstellung von pupertären
Gymnasiasten. Ich habe mir damals nie und nimmer
vorgestellt, dass ich einmal so konventionellerweise
arbeiten würde, so von 8 bis 12 und von 14 bis 18
Uhr. Nie im Leben, doch nicht ich. Aber so etwas
wie Sartre getan hat, so etwas hätte ich mir vorstellen
können. Lesen, schreiben, lieben, protestieren, reisen,
wieder schreiben, wieder lesen und so weiter, immer
im Kreis herum.

Und jetzt sitze ich hier in einem Büro (nun ja, sagen wir
eine kleine Bibliothek) der öffentlichen Administration,
des öffentlichen Dienstes, wie es in Deutschland so schön
heisst, und arbeite von 8-12 und von 14bis 18Uhr. Und
alles ist so gewöhnlich und so grau wie rundum hier,
ausser dass ich eine sensationelle geheime Mailfreund-
schaft habe, die mich lebendig und am Leben behält.
Ach, sowas hatten wir uns vorgestellt: Schriftsteller,
Philosoph, Journalist, öffentliche Figur, dessen Meinung
die Leute in Aufregung und Politiker in Nervosität bringt.
Ein romantisches und kreatives Leben, so habe ich es
mir ausgemalt, wenn ich es mir überhaupt ausgemalt
habe. Ein Leben in den Cafés, zwischen Whisky und
einer intellektuellen Geliebten hin und her pendelnd,
gut aussehend und schlimm lebend, bleich, aber
interessant. Wenn ich heute daran zurückdenke, muss
ich lachen. Es waren natürlich wunderbare Zeiten.
Aber wir waren nicht von dieser Welt. Wir hatten keine
Ahnung vom Leben. Wir waren kleine Träumer.

Und jetzt soll es eine Sartre Revival geben. Sie
entdecken ihn wieder, wie auch seinen Gegenspieler
Camus. Der Ernst des engagierten Lebens kehrt wieder.
Man hat Sartre zwar unterdessen einiges vorgeworfen,
dass er ein Antisemitismus-Gewinnler wäre, und dass
die Résistance immer auch ein bisschen kollaboriert
habe. Aber Sartre wurde doch nie zu einem französischen
"Fall Heidegger".
---



Montag, 13. Januar 2020

Trapetznummer ohne Netz


Wie Männer kochen

...
Nebenbei gesagt weiss ich, liebe Marlena, wie Männer kochen. Ich mach das heute eigentlich kaum mehr. Aber früher habe ich auch ab und zu gekocht, so, wie Männer eben kochen. In der einen das Weinglas, in der anderen den Kochlöffel, das ist die klassische Pose. So was gehört sich. Ohne das wäre Kochen Galeerenarbeit und die Küche die wahre Hölle. Mit dem Wein aber schon ein bisschen anzufangen, das gibt der Küche jenen Glanz, die sie überhaupt erträglich, ja vielleicht gar wohnlich macht. Man muss aber auch wissen, dass das nicht freiwillig ist. Es herrschen hier ziemlich verbindliche Regeln und Gesetze: Es geht darum, dass man den Wein rechtzeitig zu öffnen hat. Es geht darum, dass man zu prüfen hat, ob denn der Zapfen nicht riecht. Es geht nicht zuletzt darum, dass man sich für ein Vorhaben solcher Grössenordnung – nämlich ein Essen auf den Tisch zu bringen – dass man sich für ein solches Wagnis etwas Mut antrinken muss. Denn wenn man daran denkt, was dabei alles schief gehen könnte! Also, meine Liebe, alle Männer der Welt kochen auf diese Art und Weise. Nicht alle kochen sie vielleicht eine Bouillabaisse, aber alle fuchteln sie mit Weinglas und Kochlöffel herum. Das ist – darwinistisch gesprochen - das Resultat stammesgeschichtlicher Evolution. Soweit die Summe soziobiologischer Erkenntnis! Und was auch erkannt ist: Männer kochen mit doppelt bis dreifachem Budget als ihre Frauen. Und sie waschen nicht ab post festum und überlassen die schmutzige Küche dem Personal. Wer auch immer dieses Personal sein mag. Gott möge sie segnen und behüten, diese Männer der Welt!!!

Ich selbst bin heute soweit, dass ich mir erlaube, mit dem Weinglas in der Luft herum zu fahren, ohne dabei gleich kochen zu müssen. Das mag jetzt etwas überheblich klingen, Marlena, ist es ja vielleicht auch. Aber es braucht doch viel Arbeit an sich selbst, zu trinken, ohne zu kochen. Das ist sozusagen eine Trapeznummer ohne Netz. ...


Re: Du lebst gefährlich



Subject: Re: Du lebst gefährlich

Lieber...!
Vielen herzlichen Dank für das schöne Mail. So lese ich
fast täglich ein paar Seiten in sehr gutem Deutsch ;-)
Eigentlich wollte ich letzthinnicht von meiner Jugend
erzählen, sondern von meiner Frankreichzeit. Aber da
diese Zusammenfallen hat es sich eben so ergeben.

Ich ängstige mich eigentlich nicht allzu viel wegen der
"Sirenen". Durch eine frühere "maladie d'amour" besitze
ich wahrscheinlich nun eine ziemlich gute Immunität
gegen dergleichen Bazillen ;-) Vielleicht ist es bei dir
auch so? Damit nicht gesagt dass ich nicht bald süchtig
werde nach deinen Mails.. denn ein Bisschen wirkt es
wie Opium, diese tägliche Dosis von "Esprit".
Besonders was du von denMännern als Koch
geschrieben hast war so einmalig. Immer wenn
ich daran denke muss ich fast laut lachen.

Hast du was dagegen dass ich es einen Kollegen lesen
lasse? Es würde ihm auch imponieren (und meinem
Mann natürlich vor allem). Das was du von den Kosten
sagst stimmt auch zu 100 % und natürlich übernehme
ich nachher die Küche, oder schäle sogar noch vorher
die Crevetten oder Kartoffeln ;-)

Es ist ein wunderschöner Tag und wenn du hier wärest
würde ich gern einen langen Spaziergang mit dir
machen und mich mit dir unterhalten.
*
Ich höre im Moment meine Lieblings-CD seit längerer
Zeit: " Vaya Con Dios, the best of" Kennst du sie?
Wenn nicht kann ich sie dir sehr empfehlen.

*
Eine schwedische Dichterin schreibt:

"Den mätta dagen, den är aldrig störst
den bästa dagen är en dag av törst.."

Der satte Tag ist nie der grösste
Der beste Tag ist ein Tag mit Durst
(=wörtlich übersetzt :-)

Du deutest es oft an, dieses Thema. Nicht das Ziel
sondern der Weg ist die Reise Wert.. nicht die
Erfüllung, sondern der Traum von Erfüllung..
Du hast recht. Ich habe es auch schon
eingesehen *smile*

Nun muss ich aufhören und etwas mehr prosaisches
tun.. nämlich den Staubsauger in die Hand nehmen..

Lass es dir gut gehen und schreibe bald weiter
in deinem Tagebuch
Bons baisers
Marlena




Samstag, 11. Januar 2020

Pralinen und Altwerden




Lieber ...,

Ich sehe dass du dich gut auskennst in Sachen "Pralinen". Auch ich mag besonders die mit vorzugsweise Kirschlikör gefüllten. Und wenn ich in der Bonboniere danach greife (meistens gibt es nur zwei von der Sorte darin) fühle ich mich fast immer etwas unartig dass ich das Beste für mich nehme. :-) Sie schmecken himmlisch gut und wenn sich die Wärme vom Likör langsam hinunter in den Körper verbreitet .. ja dann könnte man sie schon mit dem Kuss eines Geliebten vergleichen.
(---)
Ja, das Altwerden! Auch wir unterhalten uns unter Kollegen manchmal darüber. Und wir sehen vor uns, wie wir einander im Altersheim Bälle zuwerfen (tut man doch, oder?). Und wir werden "loswerfen" und alles versäumte nachholen. Und dann lachen wir herzlich denn natürlich wissen wir dass unsere beste Zeit hinter uns liegt.
Manchmal denke ich dass ich eigentlich so viel erlebt habe dass es gut für ein Leben reicht aber gleichzeitig habe ich auch das Gefühl dass mein Leben noch vor mir liegt. Ich glaube man darf nie aufhören zu träumen.



Dienstag, 7. Januar 2020

Here again


Ämne : Here again..
Datum : Fri, 04 Jan 

Lieber ...,

Ach mein lieber Mausfreund. Wie kann ich dir danken für
diesen schönen Brief. Wie ein privates Gespräch mit einem
erfahrenen verstehenden Arzt war es. Und weisst du, jeder
kleine Vorschlag oder Tip bringt mir wenn nicht Besserung
so doch ein wenig Hoffnung. Ich glaube es ist das schwerste
an dem ganzen wenn man beginnt die Hoffnung auf eine
Veränderung zu verlieren.


(---)

Ich denke immer noch an deinen schönen philosophischen
Neujahrsbrief. Und wenn ich ihn lese ertrinke ich fast in
einem Meer von MMMMMMMMMM.. Hättest du mich
nicht vorwarnen können, ...?

Am Ende deines letzten Briefes habe ich wieder herzlich
lachen müssen.. ja, ich werde versuchen eine passende
Sünde für dich auszudenken.. damit wir nicht an
verschiedenen Stellen landen .. später dann in
der Ewigkeit.. :-)

Ich muss schliessen für heute.
Mit einem ganz lieben Gruss,
Marlena 


Bifogade filer : lillebror.jpg (28k)


Montag, 6. Januar 2020

Whatever ..


Ämne : Whatever..
Datum : Thu, 03 Jan 

Lieber ...,

Was sollte ich tun mit diesem freien Nachmittag, der noch vor mir liegt? Ein wenig Bettwäsche liegt hier und wartet darauf gebügelt zu werden und dann müsste ich auch zur Apotheke denn mein Vorrat an schmerzstillenden Tabletten ist so gut wie zu Ende..

Und was hätte ich Lust zu tun? Ein warmes (sehr warmes) Bad zu nehmen .. aber das habe ich bereits getan.. unter eine warme Wolldecke kriechen. Ja, es würde vielleicht helfen aber dazu habe ich keine Lust.. mich von innen erwärmen mit einem Glas von Ks Whisky? Aber dann müsste ich die Apotheke auf morgen verschieben denn ich darf nicht mehr das Auto benutzen... 0 Promille bei uns.. OK, so ist es geworden:

Ich sitze am PC in Annas Zimmer mit ihren neuen Kopfhörern und höre mir die neue CD von Elton John an. Es lässt sich gut schreiben dazu. Und vor mir steht ein noch halb gefülltes Glas mit "Östgöta Sädesbrännvin".. der Whisky wäre mir lieber gewesen aber er gehört nicht mir.. Ich frage mich manchmal was du eigentlich von mir denkst wenn ich solche Dinge schreibe. Aber du weißt es. Eigentlich ist das Trinken keine Last bei mir. Zu den meisten Festen fahre ich mit dem Auto weil ich auch ohne Alkohol leben und geniessen kann aber in den letzten Tagen brauche ich fast etwas um meine "frierende Seele" zu erwärmen und mich wohl zu fühlen.
Du beneidest mich um diese freie Zeit und natürlich ist es schön noch nicht arbeiten zu müssen.. oder zumindest die Arbeit aufschieben zu können die ich eigentlich schon hätte tun sollen.
Ach, siehst du, mein Leben ist wirklich anders geworden. Immer noch gehe ich mit Schmerzen herum und nun warte ich auf ein Magnetröntgen.. wenn es so weiter geht bleibt bald nur noch eine "mad cow disease" übrig.. ;-)

Ich mache Spass aber ich muss zugeben dass ich mich ängstige. Vor allem habe ich Angst dass ich vielleicht meine Pläne für die Zukunft aufgeben muss. Ja, das ist das schwerste.. Abschied nehmen von seinen Träumen.. Doch ich sollte nicht klagen. So lange ich lebe werde ich Freude finden im Leben. Das weiss ich mit Sicherheit. Es gibt wirklich so vieles das mich glücklich macht. Auch mitten im Alltag. Ich habe geschmunzelt über das mit dem Kaffee am Morgen .. ja, du hast recht, es gibt so viele kleine Dinge die das Leben lebenswert machen.... und weißt du was du mit deinen Worten erzielt hast? Dass ich seitdem nicht mehr meinen Morgenkaffee trinken kann ohne an dich zu denken.. so früh am morgen schon.. kann das wirklich gut sein für die Gesundheit??? :-)
*
Am Neujahrstag habe ich mir das Konzert von Wien angesehen.. geleitet von einem kleinen japanischen Dirigenten der aussah wie ein Waldwesen von Astrid Lindgren. Aber er hat es geschafft. Das Konzert war ganz wunderbar. Hast du es auch gesehen?

Am 2. Januar hatte ich dann eine Zeit beim Frisör. Schon früh am morgen um halb neun war ich mit dem Auto unterwegs. Es war fast Menschenleer überall. Nur vereinzelte Leute mit Hunden waren auf der Strasse zu sehen und ein paar Leute die wahrscheinlich immer noch versuchten an ihrem Neujahrsversprechen festzuhalten sich mehr zu bewegen. Ich liebe es so durch die leere Gegend zu fahren.. manchmal frage ich mich ob ich nicht gut als Eremit passen würde.. :-)
Und nun sitze ich hier mit meiner neuen Frisur und fühle mich schön.. darf man so was selbst sagen? Ich meine, wenn ich in den Spiegel gucke sehe ich nichts von all meinem Kummer. Die Frau die mich anschaut sieht jung, glücklich und zufrieden aus und strahlt von Gesundheit..
*
Heute habe ich ein stundenlanges Interview mit Leonard Cohen gesehen. Ich kenne seine Musik und finde sie ganz gut aber ich wusste nicht was für ein fantastischer Mensch sich hinter diesem Namen verbirgt. So wie er über sich selbst und das Leben spricht.. ach, es war wunderschön und ich wünsche du hättest es sehen können.
*
Ach ja, meine Schwächen und Sünden.. ja, das ist ein langes Kapitel.. Von den Todsünden bis zu den kleinsten Nachlässigkeitssünden.. es gibt sie leider alle.. Ich glaube ich muss es für ein anderes mal aufheben. Aber was das Fluchen betrifft so meint jedenfalls Anna man könnte ein Buch füllen damit .. ein dickes.. und mit einem besonderen Kapitel "Marlena am Steuer". Wir haben sehr gelacht und K hat lebhaft zugestimmt. Aber du hast recht, eigentlich bin ich ein Mensch von dem man keine solchen Wörter erwartet. Es erregt wirklich Aufsehen wenn ich fluche (ich tue es nur bewusst und sehr sparsam). Übrigens was verstehst du unter "Sünde"? Ist verliebt sein eine Sünde? Erzählst du mir auch von deinen?

Es war schön diesen Nachmittag mit dir zu verbringen. Und nun wünsche ich dir noch einen schönen Abend.
Liebe Grüsse
Marlena



Sonntag, 5. Januar 2020

3. Januar



Datum : Thu, 03 Jan

Liebe Marlena
Nun hat das neue Jahr endgültig begonnen. Und es ist
schön zu hören, wie feierlich und vergnügt ihr diesen
Übergang geschafft habt.
(...)
Und jetzt bin ich  bereits um 0615h im Büro. Es wird auch heute noch
einen ruhigen Tag geben, denn gestern waren doch noch viele Geschäfte geschlossen und so auch die Büros der Verwaltung. Ich hätte also ruhig zuhause bleiben können. Aber ich mag es besonders, an solch ruhigen Tagen hier zu sein und in aller Ruhe Artikel und Papiere zu lesen, für die ich sonst niemals Zeit hätte. Ich habe den Eindruck, die intellektuelle Arbeit verträgt nicht viel Zeitdruck. Man sieht es an unseren Zeitungen. Sie entstehen unter soviel Pressionen, was die Zeit und was das Angebot an Infos betrifft. Das hat mit Intellektualität wenig mehr zu tun. Es ist mehr ein Selbstverteidigungskampf. Und ein Markt dann ebenso.
Es ist lustig, ich habe oft ein Bild aus meinen Jugendzeiten, das mir aufkommt. Wir hatten in der Schule in Brig im alten Kollegiumsgebäude einen langen grossen Gang. Er war vielleicht mehr als 2m breit, mit einem Granitbogen. Und die tiefen Fensternischen bildeten je ein kleines Abteil, wo wir am Morgen früh, um nicht in der Kälte stehen zu müssen, am Fensterbrett lehnten und unsere Lateinvokabeln repetierten. Es ist eine Atmosphäre, wie man sie oft in den Wandelgängen der Klöster findet, einen architektonischen Typus, den ich überaus gerne mag.

Kollegiumskirche Brig
In diesem Gang, an dessen Ende eine Tür in die Sakristei der Kirche führte, wie ich annahm (durch die ich in meinem Leben aber nie gegangen bin; was sollte ich auch in einer Sakristei der Kollegiumskirche?), und durch die die Internatsschüler am frühmorgens um 0600 - vor dem Morgenstudium - wohl jeweils in Zweierkolonne in die Frühmesse geführt worden waren, in diesem Gang gingen oft einzelne Lehrer, also Patres, in gemächlichem Schritt auf und ab, um das Brevier zu lesen. Es gab gleich vor dem Gebäude und parallel zu diesem Gang im Garten noch einen mit einem Rosenspalier gesäumten Weg, den sie in den Sommermonaten benutzten. Dieses kontemplative peripathetische Gehen kam mir anfangs als Junge komisch vor. Doch insgesamt hat es mich wohl tief beeindruckt als eine Geste der Zwiesprache mit sich selbst. Und wenn ich irgend ein Problem oder eine Frage zu wälzen habe, dann liebe ich es heute überaus, auf und ab zu gehen. Ich hasse kleine Räume und bin überzeugt, dass in kleinen Räumen keine grossen Ideen entstehen können. Ich gehe auf und ab auf dem Bahnhof, wenn ich auf den Zug warte. Ich gehe im Büro, diagonal, auf und ab. Ich tue dasselbe in unserer Stube. Ich mag es, wenn ich am Donnerstag beim Weekly mit Walter zusammen sitze, plötzlich aufzustehen, und für eine Weile auf und ab zu gehen. Ja ich habe manchmal, wenn ich lese und einen spannenden Gedanken finde, plötzlich das starke Verlangen, auf und ab zu gehen. Es muss einer meiner Tics sein, dieses Auf- und Abgehen. Eine kleine Manie.
Und früher, als es noch Sekretärinnen gab, denen man Briefe und Texte diktieren konnte, da gab es die sinnvolle Gelegenheit, auf und ab zu gehen. Das waren noch herrliche Zeiten, und damals waren Briefe noch hübsch und byzantinisch formuliert. Dieses habe ich mir zwar immer als eher komische Situation fantasiert: der Chef, der im Büro auf und ab geht und die Sekretärin, die in Eile seinen Gedankenfluss protokollieren soll. "Zum Diktat", das war damals für Sekretärinnen ein finster klingender Drohruf und Grund genug, um nervös nach Stenographieblock und Stift zu suchen. Ich glaube, die Generation meines Vaters war mit solchen Situationen durchaus noch vertraut. Und meine erste Sekretärin, ich wette darauf, hatte in ihren früheren Jahren noch Diktat beim Chef. Die Männer sassen noch nicht am PC, wie wir das tun. Sie hätten so etwas als absolut "weibisch" und als eines Mannes unwürdig empfunden. Denn die Arbeitsteilungen waren absolut klar und geradezu feudalistisch.
*
Heute ist das Tea Room gegenüber wieder offen. Der Zahnarzt von gegenüber sitzt in der Ecke am Fenster, trinkt seinen Kaffee, raucht seine erste Zigarette und blättert in der Zeitung. Kürzlich, als er mich am Fenster erwischt hat, habe ich ihm zugewunken. Ich war erstaunt, dass er realisiert hat, dass ich ihn meinte. Er war früher einmal für eine kurze Zeit als Präsident der Liestaler Schulbehörde tätig. Damals hatten wir gelegentlich zusammen zu tun. Und seine Frau, eine Juristin, war über einige Jahre im Regionalparlament als Abgeordnete und war auch Präsidentin der GPK, einer Kommission, die die Aufgabe hat, die Verwaltung zu kontrollieren. Doch heute arbeitet sie als Gerichtspräsidentin. Wahrscheinlich hat sie ihrem guten Ehemann verboten, morgens schon in der Küche eine Zigarette zu rauchen. Deshalb wohl weicht er ins Tea Room aus. Und einige Minuten vor 0800h eilt er dann hinüber in seine Praxis, wo seine hübschen Assistentinnen alles bestens und sorgfältig vorbereitet haben, und wo der Patient auf dem Marterstuhl schon mit offenem Mund wartet. Ach, Zahnarzt sollte man sein. Gerade jetzt, um 0750h, verlässt er das Tea Room und geht!
*
Ich glaube, heute ist doch ein regulärer Arbeitstag. Hier bei uns ist die erste Sekretärin eingetrudelt. Und soviel ich weiss, haben die Schulen heute ihren Betrieb wieder aufgenommen. Schön gesagt, nicht wahr "den Betrieb aufnehmen".
Ich hoffe, Du hast diese Woche noch frei und fängst erst am Montag an. Ich beneide Dich, wie Du dich frei und erlöst fühlen kannst. Das tue ich eigentlich kaum. Es geht weiter, wie es vorher war. Ich sehe da mit dem neuen Jahr keinen Unterschied.
*
So wünsche ich Dir noch einige ruhige und kalte Sonnentage.
Mit einem lieben Gruss
...


Freitag, 3. Januar 2020

Ein neues Jahr beginnt ..



Ämne : 2002 zum ersten!
Datum : Wed, 2 Jan 09:37

Liebe Marlena
Lass mich diesen Tag mit einem kleinen Mail an
Dich anfangen. Es ist nach so vielen freien Tagen
nicht einfach, ins Büro zurückzukehren. Man hat
einen kleinen Geschmack gekriegt, was man mit
dem Leben alles Schöne anfangen könnte, wenn
man zuhause in der warmen Stube den eigenen
Launen nur zu folgen braucht. Und jetzt kommt
man hier in diese Papierwüste und alles liegt und
steht und lümmelt herum wie noch in den letzten
Dezembertagen. Man weiss gar nicht, wo beginnen.
Und irgendwie scheint das gute Jahr, schon a priori
zu kurz und zu knapp bemessen.
Was wird es uns alles bringen, dieses Jahr. Heute
ist es noch jungfräulich und optimistisch.Aber das
ist vielleicht blosse Naivität! Was wird daraus?
Und wie schaffen wir die vielen Anforderungen,
die da kommen? Man könnte sich beruhigen, sich
gut zureden und sagen, dass wir eines nach dem
anderen nehmen sollten, wie es kommt. Sicherlich
ist das eine gute Strategie. Aber wo bleibt dann die
Übersicht? Wer, wie der Beamte am Schalter, sich
nur mit dem vordersten Kunden beschäftigt, der
Übersieht die langen Schlangen und der Ärger, der
sich hinten aufstaut. Also sollte man sich auch mit
dem Gesamten beschäftigen. Und wenn man das
Ganze sieht, dann kriegt man leicht den
Bergkoller.
*
Hast Du Dir irgendwelche Ziele vorgenommen für das
neue Jahr, Marlena? Ich meine, hast Du gute Vorsätze,
wie sie die meisten Menschen am Silvester formulieren,
um sie an Neujahr mehr oder weniger wieder vergessen
zu haben?
Von den "niederen" Sünden hast Du keine, soweit ich in
diesen Dingen informiert bin. Du rauchst nicht, du trinkst
nicht, du brauchst nicht Gewicht zu verlieren, Du bist nicht
unordentlich, Du verzettelst Dich nicht in irgendwelchen
zweitklassigen Dingen. Hast Du denn wenigstens eine
interessante Todsünde, die es wert wäre, mit einem guten
Vorsatz bekämpft zu werden? Vielleicht fluchst Du
gelegentlich, was ich mir zwar kaum vorstellen kann.
Ach, ich kann mir bei Dir keine respektable Sünde
wirklich vorstellen.  ... Was mich betrifft, so bin ich
voller Sünden, der hohen wie der niederen. Allerdings
kenne ich mich im Sündenregister schlecht aus. Ich kann
die hohen schlecht von den niederen unterscheiden. Ich
meine, sie sind mir alle so ähnlich und oft auch so wenig
distanzierungswürdig. Und doch versuche ich, altmodisch
wie ich bin, mir ein paar gute Vorsätze aufzugeben.
Schau mal, Marlena, ich versuche sogar, sie zu
nummerieren, um das spezifische Gewicht etwas zu
erhöhen. Sie sollen doch sinken, und nicht gleichmit
dem Wasser davonschwimmen. Sie sollen sinken und
fast wie ein Anker einen gewissen Halt geben, mindestens
wie eine Koje einen Ort markieren.

1. Ich will in diesem Badewannenjahr meine spirituelle
Haltung wachsen lassen. Das hört sich geheimnisvoll,
wenn nicht gar pathetisch an, nicht wahr? Damit meine ich
vielleicht etwa folgendes: ich möchte mich in diesem
merkwürdigen Jahr 2002 nicht von all diesen kleinen
alltäglichen Dingen treiben lassen. Ich will unterscheiden,
was wichtig und was nebensächlich ist. Ich möchte mich
auf die grossen Spielzüge konzentrieren, auf die
Strategien eigentlich, und auch meinen Mitmenschen
diese Haltung mitteilen. Nicht gleich auf jede Kleinigkeit
stürzen. Nicht zu sehr in Eile. Überlegt und heiter an die
grösseren Dinge herangehen. Wissen, dass es - neben dem
kurzfristigen Misslingen - längerfristig immer auch noch
durchaus Gewinn und Erfolg gibt. Wissen, dass den Dingen
Zeit zusteht, dass sie Zeit brauchen. Wissen, dass sich vieles
selbst in Wohlgefallen auflöst.
Nichts ist mir so zuwider wie eine sture, unflexible und
engstirnige Haltung. Ich glaube nicht, dass ich viel davon,
an mir hätte. Und dennoch möchte ich noch weiter davon
weg kommen. Ich möchte grosszügig denken und fühlen.
Ich möchte gerade auch gegenüber jüngeren Menschen und
Mitarbeitern ein grosszügiges Wohlwollen in sie und ihre
Geschäfte investieren.

Eigentlich möchte ich philosophisch leben. Ich möchte wie
die alten Milesier und Pythagoreer das Denken auf mein
alltägliches Leben wenden und mit meinem Stil zeigen,
dass es einen umfassenderen Horizont gibt als den bloss
alltäglichen. Ich will zeigen, dass ich meine Absichten mit
Macht in mir selbst unterstützen kann, wie es die Sophisten
vorgelebt haben. Ich will wie Sokrates erfahren lassen, dass
Kontakt und Dialog mit anderen Menschen viele Dinge in
ein Licht der Selbstverständlichkeit und der Lösbarkeit
taucht.
Natürlich will ich mit Aristoteles auch meine Klugheit
ausbilden und in freundschaftlichem Verhältnis zu den
Dingen entscheiden. So irgendwie hat sich doch auch
Rilke geäussert?
Ich will bessere Freundschaften entwickeln.
Das ist wohl eines der wichtigsten Elemente des schönen
Lebens, wie Du es immer wieder andeutest. Ich will, wie
die Kyniker, an mir arbeiten, mich in den Äusserlichkeiten
des Lebens beschränken und damit eine Selbstmächtigkeit
erreichen, die mich von Abhängigkeiten löst. Aber ich will
bestimmt nicht ohne Lust leben. Nein, ich will mit Epikur
meine Lüste klug und gut wählen und mit einer gewissen
Sparsamkeit geniessen. Die Dosierung macht den Gewinn,
vor allem der Verzicht, der Aufschub, die Mässigung. Auch
sogar Unlust kann spätere Lust erhöhen, deshalb darf man
sie nicht bloss anklagen.
Ich will wie die Stoiker meine Seele nicht zu sehr von jenen
Gedanken und Ereignissen befallen lassen, die ich nicht in
eigener Hand habe. Die Wahl meiner Vorstellungen macht
frei gegenüber den widerlichen Stürmen des Lebens.
Ich will - vielleicht wie Michel de Montaigne - das Leben
als experimentellen Weg sehen, und mich von eigenen
Erfahrungen und Überlegungen führen lassen. Ich will
mich diesem Experimentum in vivo bewusst und immer
wieder aussetzen, um mich selbst voll zu machen von
Leben.
Aber ich will, bei alledem, auch skeptisch bleiben
gegenüber dem Wissen, gegenüber Begriffen und
gegenüber der Gegenwart, wie es mir ja Marlena immer
wieder signalisiert. Es gibt keine Regeln, es gibt keine
Rezepte. Es gibt letztlich nur so etwas wie die
Plausibilität.
Das ist ein lustiges Wort, kommt vom Lateinischen
PLAUDO, PLAUSI, PLAUSUM was "klatschend
schlagen, stampfen", dann soviel wie "Beifall klatschen,
Beifall spenden" meint. Plausibilität ist - nach meinem
Verständnis - eine generelle Zustimmung, das Gute und
das Schöne in einem. Plausiblität heisst dann so viel
wie Zustimmungswürdigkeit. Wir sagen auch Bejahung,
also eine allgemeine affirmative Haltung. Erst diese
Affirmation macht ja doch aus dem Leben das Leben.
*
Ach, Du siehst, meine guten Vorsätze sind etwas
schwerfällig und kommen daher wie eine lange Kolonne
vor dem Schalter des Beamten. Aber sie sind ja doch nur
Aspekte des einen und alles. Vielleicht ist das erste und
grundsätzliche wirklich das Allgemeine. Das Grosse.
Im Allgemeinen gehen all die kleinen Dinge auf und
finden sich wieder. Rilke ist immer so schön und
allgemein, das er uns, wie mit einer grossen
transparenten Schleppe, mit sich und seiner
Plausiblitität nimmt.
*
Mittlerweile ist es schon bald 0900h. Der Tea Room
gegenüber ist geschlossen. An der Kurve, der zweite
Tea Room, ist auch ohne Licht. Vielleicht habe ich mich
im Datum vertan? Vielleich ist heute noch ein Feiertag,
und niemand geht zur Arbeit? Es gibt auch wenig
Menschen auf der Strasse. Wahrscheinlich liegen die
meisten noch im Bett und strecken sich in der wohligen
Wärme aus. Doch gegenüber, auf zwei Stöcken, brennen
in den Büros die Lichter.
Und den Pfarrer Christ habe ich auch vorbei gehen sehen.
Er geht bestimmt nicht einen Schoppen trinken zu dieser
Stunde, sondern in sein Büro hier in der Nähe. Ich werde
mir rasch ein kleines Frühstück holen und schauen, ob
die übrigen Geschäfte offen sind. Gegenüber am
Wasserturmplatz ist die grosse Drogerie durchaus offen
und bietet wie eh und je Alka Seltzer an für alle, die vom
Silvester her noch etwas Kopfsausen haben.
*
In der Tat, nicht alle Läden sind heute offen. Und viele
Büros geschlossen. Ich denke, auch die Verwaltung hat
eigentlich noch einen freien Tag. Kein Mensch geht an
diesen Tagen irgendwelche Formulare holen oder
Beschwerden anbringen. Nein, ich glaube, ich kann mir
hier einen wirklich gemütlichen Vormittag machen.
Und das schöne, kalte Wetter unterstützt mich in
meinem Vorhaben.

Ich wünsche Dir einen ebenso gemütlichen und lockeren
Vormittag, um die guten Vorsätze wirklich mittels Nägeln
mit Köpfen im Alltag zu installieren.

Mit einem lieben und schönen ersten Gruss...
...