Ämne: Du, mein Uneigentum.. :-)
Lieber ..,
Wieder ist ein Weekend vorbei. Bei dir war es sicher anregend und abwechslungsreich. Hier war es still aber doch angenehm und erholsam.
...
Ich habe im Internet nach Gedichten von Rilke gesucht, die ich für G haben wollte. Sie gibt nämlich einen Poesikurs und da meine ich, sollte Rilke nicht fehlen. Und dabei habe ich neue Dinge von Rilke gefunden, die mir sehr gefallen haben. Ich habe dir diejenigen geschickt, die ich besonders mit dir (oder mit uns) verknüpfe. Du musst sie langsam lesen und jede Zeile begründen und du wirst verstehen was ich meine. Ich glaube Rilke hätte gern ein Mausleben gelebt. Er weiss von ihren Gefahren und ihrer Schönheit. Er kennt unser Turmzimmer. Kein Gestern und kein Morgen, nur Gegenwart. Ich habe schon oft gedacht, dass du für mich eine Tür bist zu anderen Welten. Und du bist für mich auch derjenige, dem ich, obwohl ich dir fast täglich schreibe, am öftesten nicht geschrieben habe. Welch lustiger Einfall, es so zu formulieren. Ich liebe Rilke.
Und die Beschreibung des Kleinstädtchen, das nur einen Tag auswendig kann u.s.w. Rilke kennt die schreiende Monotonie eines Kleinstädchens..
Ich habe mich wirklich gefreut über diesen Fund. Hoffentlich wird es dir auch gefallen.
Liebesnacht
...denn die Zeit ist eingestürzt.
Aus der Dichtung «Cornet»
...denn die Zeit ist eingestürzt.
Die Turmstube ist dunkel.
Aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln. Sie tasten vor
sich her wie Blinde und finden den Andern wie eine Tür. Fast wie
Kinder, die sich vor der Nacht ängstigen, drängen sie sich in einander
ein. Und doch fürchten sie sich nicht. Da ist nichts, was gegen sie
wäre: kein Gestern, kein Morgen; denn die Zeit ist eingestürzt. Und
sie blühen aus ihren Trümmern.
Er fragt nicht: »Dein Gemahl?«
Sie fragt nicht: »Dein Namen?«
Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein.
Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder
abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.
Aus der Dichtung «Cornet»
Zueignung
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
[...]
Um jeden Gegenstand nach dem ich griff,
war Schein von deinem Scheine,
doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand
ein neues Ding, das bange, fast gemeine
Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
Und wenn es auch zum Eigentum verführte,
noch war es keins. Noch haftete ihm nicht
mein Handeln an. Mein Mißverstehn. Mein Wollen
es solle etwas sein, was es nicht war.
Noch war es klar
und klärte mein Gesicht.
Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,
noch war es nicht das Ding, das widerspricht.
Da stand ich zögernd vor dem wundervollen
Uneigentum.
Aus: Weihnachten 1914 (ein Fragment)
(1914)
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
[...]
Um jeden Gegenstand nach dem ich griff,
war Schein von deinem Scheine,
doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand
ein neues Ding, das bange, fast gemeine
Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
Und wenn es auch zum Eigentum verführte,
noch war es keins. Noch haftete ihm nicht
mein Handeln an. Mein Mißverstehn. Mein Wollen
es solle etwas sein, was es nicht war.
Noch war es klar
und klärte mein Gesicht.
Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,
noch war es nicht das Ding, das widerspricht.
Da stand ich zögernd vor dem wundervollen
Uneigentum.
Aus: Weihnachten 1914 (ein Fragment)
(1914)
Kleinstädte
Man muß sie gesehen haben, diese kleinen und ganz kleinen Städte in meiner Heimat. Sie haben einen Tag auswendig gelernt; den schreien sie immerfort wie große graue Papageien in die Sonne hinein. Nah an der Nacht aber werden sie namenlos nachdenklich. Man sieht es den Plätzen an, daß sie sich bemühen, die dunkle Frage zu lösen, die in der Luft liegt.
"...in der engsten Zahl derer, denen ich am öftesten nicht geschrieben habe..."
Mein lieber Freund,
Sie sind sicher in der engsten Zahl derer, denen ich am öftesten nicht geschrieben habe in all der Zeit, in der ich (von geschäftlichen Briefen und ganz knappen fälligen "Ja" "Nein" oder Dankworten abgesehen) gar keine Korrespondenz fortgesetzt habe, aus dem besten, aus dem endgültigen Grunde: Arbeit...
Brief an Karl von der Heydt, 12. Dezember 1908