Dienstag, 16. September 2025

Onkelchen erzählt

 

Schloss  Lenzburg

Liebe Marlena
 
Am Sonntag Abend fahren S und ich zu einem Onkel in L.. Jeden Sonntag tun wir das. Unser Onkel ist jetzt 92 Jahre alt. Vor 2 Jahren ist seine Frau gestorben. Und nun lebt er alleine in seinem schönen Haus direkt unterhalb des alten Schlosses, von dem du mir die Fotos geschickt hast. S bereitet eine schöne Mahlzeit vor, ich decke ordentlich den Tisch und öffne die Vorhänge, damit man zu fortgeschrittener Stunde frei aus dem grossen Fenster hinunter auf die Lichter der Stadt sehen kann. Man hat von hier oben eine wunderbare Aussicht auf die Ortschaft, weit hinten auf die Jurahügel und auf die untergehende Sonne. Und der alte Onkel geht mit kleinen schlurfenden Schrittchen in den Keller und holt eine schöne Flasche Yvorne. Und so essen wir zusammen am Sonntag Abend und wir plaudern ein bisschen. Am liebsten isst er gebratenen Lachs, ein bisschen Gemüse, voraus einen knackigen Salat und dazu den goldenen Yvorne, einen Weisswein aus dem Wadtland.
Kurt, so heisst mein Onkel, und seine Frau haben uns Kinder immer in den Ferien gehabt, als unsere Mutter gestorben war. Seine Frau Elisabeth fühlte sich als unsere Ersatzmutter. Ich erinnere mich, dass sie erzählt hat, wie unsere Mutter ihr das Versprechen abgenommen hatte: falls ihr einmal etwas zustossen würde, dann sollte sie sich um uns Kinder kümmern. Und Elisabeth hat das versprochen und hat sich dann wirklich um uns gekümmert, dies umso mehr, als sie selbst keine Kinder haben konnte. Als wir später in Visp lebten, fuhren wir jedes Jahr im Sommer zu ihnen in unsere alte Heimat in die Ferien. Elisabeth und Kurt führten gemeinsam eine Confiserie mit Laden und mit Tea Room. Das war für uns Kinder eine höchst interessante und abwechslungsreiche Umgebung, und beide, Onkel und Tante, waren den ganzen Tag in der Nähe. Es gab den Laden mit den vielen, wunderbaren Patisserien als Auslagen, wo wir lernten, den Kunden das Rückgeld herauszuzählen. Es gab die Backstube im Untergeschoss mit 3 oder 4 Arbeitern und Lehrlingen, wo es nach allem Möglichen roch und man da und dort insgeheim den Finger hineinstecken konnte, um zu kosten. Und es gab dieses Tea Room, wo die Leute zum Kaffee oder im Sommer für ein Eis kamen. Und zu all diesen interessanten Dingen kannten wir den Ort Lenzburg aus vergangener Zeit, erkannten noch oft Leute, die uns selbst aber nicht mehr kannten. Und wir gingen fast täglich ins grosse Bad etwas ausserhalb des Städtchens. Verglichen mit dieser Umgebung war Visp arme Provinz. Es gab in Visp damals noch kein Bad, es gab noch keine Tea Rooms und die Jugend bewegte sich noch nicht so frei und locker wie in Lenzburg.
Mit Onkel K also sitzen wir sonntags zum Nachtessen zusammen, und er kommt ins Erzählen. Und er hat viel zu erzählen aus diesem Jahrhundert, das er fast ganz und von A bis Z miterlebt hat. Sein Gedächtnis ist noch wunderbar intakt. Und er war immer ein guter Plauderer und Erzähler gewesen. Mit ihm hatte ich mich stets bestens unterhalten, wie ich das mit meinem Vater nie gekonnt habe. Mein Vater ist ein technischer Mensch. Ihm fliessen die Gedanken nicht. Aber K. ist ein wunderbarer Erzähler mit einem fantastischen Erinnerungsvermögen für Geschichten und Episoden.

Beispielsweise erzählte er von seiner Zeit, da er als junger Mann im marokkanischen Fes, in Nordafrika gearbeitet hatte. Es muss kurz nach dem ersten Weltkrieg gewesen sein. Und Nordafrika war zu jener Zeit für Europäer, umso mehr für Schweizer ausserhalb der Grenzen der bekannten Welt, ausserhalb der Landkarte. Für ein Jahr hatte er in Fes eine Confiserie geführt und Erfahrungen mit Arbeitern aus dem Maghreb gesammelt. Und oft soll die Kinderfrau mit ihrem kleinen Zögling Hassan in das Geschäft gekommen sein, um einzukaufen. Hassan, der spätere König Hassan II. von Marokko, der damals ein kleiner Junge gewesen war, wollte in der Backstube das Feuer sehen. Kurt musste den Ofen öffnen und er warf eine handvoll (vielleicht heute Hand voll?) Salz in die Glut, so dass die Flammen aufwallten und emporschlugen. Der kleine Hassan soll jedes Mal wieder von neuem von diesem Spektakel begeistert gewesen sein.

Und er erzählt von seiner Elisabeth, mit der er ein Leben lang gemeinsam dieses Geschäft in L. geführt hatte und die immer eine etwas eigensinnige Frau gewesen war. Er sagt, und das fand ich rührend, er sagt, dass er sich heute besser mit ihr unterhalten könne, da sie gestorben sei. Früher seien sie immer wieder in Streit geraten, weil Elisabeth partout auf ihre Meinung zu beharren pflegte. Aber heute, da sie tot ist, sei das alles viel leichter und besser geworden. Sie sei jetzt umgänglicher.
Es ist schön zu hören, wie zwei Menschen zusammen in Loyalität und Liebe gelebt haben, und zu hören, wie relativ Liebe im praktischen Alltag ist. Wir jüngeren Generationen halten die Liebe für eine rein romantische, rein gefühlsmässige Angelegenheit. Doch früher war das primäre Ziel der Ehe die nackte materielle Existenz und das oekonomische Überleben. Gerade die höheren gesellschaftlichen Kreise haben nicht aus Liebe geheiratet, sondern um die Interessen ihrer Familien zu wahren. Wenn sich daraus Liebe ergeben haben sollte, so war es ein Glücksfall.

Und dabei fällt mir bei K. und E. die schöne Geschichte von Philemon und Baucis ein, die man in Ovids Metamorphosen finden kann. Die alten und armen Eheleute Philemon und Baucis haben sich mit der gastlichen Aufnahme von Jupiter und Merkur (waren es diese beiden?) einen Wunsch verdient. Und sie wünschten sich, dass keiner den anderen überlebe, dass keiner das Schicksal zu ertragen habe, den Tod des andern betrauern zu müssen. Dieser Wunsch wurde ihnen gewährt und sie sind beide in je einen Baum verwandelt worden, die in naher Nachbarschaft noch heute beisammen stehen sollen.

Ich danke dir für die ...


Vorfall auf der Lenzburger Krone

 

 

Schloss Lenzburg

Liebe Marlena
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Vielleicht muss ich dir erklären, dass das Hotel Krone, das beste Haus in Lenzburg, gerade unterhalb unseres ehemaligen Wohnhauses steht. Als Junge habe ich aus dem Fenster oder dem Garten immer auf diese Krone heruntergesehen. Ich war im Kindergartenalter, als sie die Gartenwirtschaft hinter dem Haus zu einem grossen Fest- und Theatersaal umgebaut haben. Ich habe stundenlang den Arbeitern zugeschaut, wie sie den Beton in diesem zweiräderigen Karren in die Höhe gefahren haben. Ich glaube damals gab es noch nicht diese grossen Kranen. Nein, sie haben überall aus Holzbrettern Fahrbahnen auf Gerüsten gebaut, um mit diesen Karren den Beton zuführen zu können. Das fand ich faszinierend. Und ich glaube, diese Erlebnisse von meinem Kinderfenster aus haben auch ein wenig mitgewirkt, dass ich dann später erst einmal Architekt werden wollte.

 


Gleich zwischen unserem Garten, der am Schlossberg oben erhöhht lag, und der Krone führte in einer tiefen Schlucht die Hauptstrasse von Zürich nach Bern. Und die Krone war bekannt, weil hier die Strasse eine Ecke von 90 Grad schlug. Man kann nicht sagen, eine Kurve, damals war es wirklich eine Ecke. Und an Sonntagen wälzte sich eine Kolonne von Fahrzeugen um diese Kronenecke. Und wir Kinder standen mit den Nachbarn, Herr Senn, oben am Geländer und schauten hinunter. Er rauchte seine Zigarre und wir zählten die Autos oder merkten uns die Kantonswappen auf den Nummerschildern. Damals hatte man den motorisierten Verkehr noch nicht mit so viel Misstrauen betrachtet.
Und gelegentlich, wirklich nur ab und zu – aber es waren für einen Jungen die Höhepunkte – gelegentlich also kam ein Lastwagen mit einer langen Ladung Baumstämmen. Und die hatten immer ihre liebe Not, die Kurve um die Kronenecke zu kriegen. Manchmal mussten sie vor- und rückwärts „sägen“, um nicht die Hauswand zu demolieren. Das war immer eine interessante Angelegenheit.
Und einmal, ich bin immer noch bei der berühmten Lenzburger Krone, einmal turnte auf dem Dach der Krone ein verrückter Mann herum. Das Dach lag etwa auf gleicher Höhe unseres Gartens. Ich war damals wohl in der ersten Schulklasse. Und so sah in vis à vis diesen Mann, und aus dem Dachfenster stieg ein zweiter, der notdürftig mit einem Seil befestigt war und sprach dem anderen zu. Ich verstand eigentlich nicht, was da los war. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, das wäre jetzt ein Kriminalfall. Die Polizei verfolgt einen Täter, der auf das Dach geflüchtet war. Aber später sagte man mir, dass der Mann verrückt sei.
Onkelchen erinnert sich auch noch an diesen Vorfall. Er war lange Jahre Kommandant der Lenzburger Feuerwehr und damals mussten sie mit einem Falltuch (nennt man das so?) ausrücken und das ganze Spektakel absichern. Immerhin ist die Krone drei Stöcke hoch. Ich kann mich bloss noch erinnern, dass ich sehr aufgewühlt war nach diesem Schauspiel. Nun ja, dass Menschen auf Dächern herumklettern und sich von anderen Menschen wieder herunterholen lassen, das war nun wirklich eine Neuigkeit. Und vielleicht hat das ja mitgespielt, dass ich später dann doch das Fach Psychologie gewählt habe. Denn neuerdings sind es die Psychologen, die andere Menschen von den Dächern herunterreden.

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Wenn ein Mann alt wird ...


Liebe Marlena

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Am Freitag wird unser Onkelchen 95. S  hat ihm angeboten, behilflich zu sein. Er bekommt üblicherweise viele Telefonate. Und ausserdem kommen seine zahlreichen Freundinnen, ihn besuchen. Er stellt ihnen dann Tee oder Wein auf. Aber er trippelt mittlerweile so zögerlich in seiner Wohnung umher, dass es endlos Zeit braucht, bis er einen Punkt erreicht hat. Und wenn man sich einen solchen Tag vorstellt, da gleichzeitig das Telefon läutet, die Hausklingel, und am Tisch sitzen noch zwei alte Damen, die mit ihm plaudern möchten, dann erscheint das ziemlich unmöglich. Es wäre doch einfach, wenn S den Leuten eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen servieren könnte. Und Onkelchen könnte dann sitzenbleiben und plaudern und müsste nicht immer wieder lostrippeln. 

Das ist ja eines der Merkmale: wenn ein Mann alt wird, hat er praktisch nur noch Frauen, die um ihn herum leben. Alle gleichaltrigen Männer sind mehr oder weniger verstorben. Es gibt noch einige Dinosaurier, aber sie sind ebenso eingesperrt in ihre vier Wände, weil sie ja nicht mehr so berg- und strassengängig sind.

Jetzt muss ich aber raschestens los.
Ich wünsche Dir einen schönen Tag
Mit einem lieben Gruss
...


Samstag, 13. September 2025

Mein Bild - dein Bild (pure Nostalgie)

Liebe Marlena

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Ich finde, Deine Reaktion auf das Bild war etwas knapp. Und dabei habe ich nun beinahe ein Jahr lang nach einem Foto gesucht, und kürzlich hat mir S zufällig dieses eine zugesteckt. Es ist ein Unikat sozusagen, ein Einzelstück, die Ernte eines Jahres, und Du solltest Dir dessen bewusst sein. Es ist praktisch nicht mehr als das vorhanden.

 

RE:

Lieber ...

Ach, dieses wertvolle Foto von dir, dieses einmalige habe ich nicht genug gelobt. Also muss ich es wohl nochmals versuchen. Vielleicht geht es ohne S und M einzumischen.

Erstens siehst du auf dem Bild sportlich aus. Du könntest sehr gut einer dieser hormonstrozenden Harros sein, die man im heutigen ST finden kann. Vielleicht ist es das T-shirt, das es macht. Dann liebe ich dein Kinn. Es sieht sehr männlich aus. Ich habe schon immer eine Schwäche für diese Art von Kinn gehabt. Darüber deine schön geformten weichen Lippen. ...(Zensur)... Deine Nase ist fotogenique. Und deine Augen. Es hat mich etwas überrascht, dass sie so hell sind. Ich würde sie gern live sehen. Und wenn ich dir so in die Augen schaue, dann bin ich mir bewusst, dass ich das im real life kaum wagen würde. Und dann versuche ich, das Bild von dir, das ich in mir trage, mit dem auf dem Foto in Einklang zu bringen. Ich weiss doch, dass du aus Fleisch und Blut bist, aber trotzdem kann ich es nicht richtig fassen, dass du wirklich bist. Es ist fast, als hätte ich vergessen, dass hinter den Mails ein richtiger Mensch steht.. Übrigens siehst du auch poetisch aus und wenn ich nicht wüsste, dass es sich um eine Magenverstimmung handelt, hätte ich glatt geglaubt du leidest an Weltenschmerz. ;-)

Schau mal zu was du mich mit deiner kleinen ironischen Bemerkung verlockt hast. Aber natürlich fühle ich mich geehrt, dieses "Einzelstück" von Foto zu besitzen. Das letzte sozusagen, das du nun auch verschenkt hast. ;-) Oder besitzen die übrigen 59 Mailpartnerinnen auch dieses Bild???


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RE:

Liebe Marlena 

Trotz des tristen Wetters und Deiner nach Eukalyptus lechzenden Erkältung kannst Du solch ein Mail schreiben! (ein!)   Manchmal muss man Dich wirklich etwas kitzeln, damit Du aus Dir rausgehst und Deine Genialität in der Sonne zu gleissen geruhst!! (zwei!!) Es ist schon länger her, dass ich über eines Deiner Mails so sehr geschmunzelt habe. Und das hängt nicht bloss daran, dass Du Dir dieses Mal meine Nase vorgenommen hast!!! (drei!!!) 

Es ist eigentlich mehr, WIE Du schreibst. Und Du kannst es meisterhaft. Die Gedanken und Dinge nach Deiner Art in überraschende Zusammenhänge zu bringen, das ist echt zum Schmunzeln. Und manchmal klingt es ein wenig mammahaft! Auch das hat Charme.  Zumindest hat es meinen baudelairschen Weltschmerz etwas aufgehellt.

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Klar, ich hätte auch mit einer der 59 Frauenzimmer (oder muss ich sagen Adressen) abgehauen sein können! Nach einem unendlich langen und qualvollen Würfelprozess, welche denn Opfer dieses romantischen Anfalls sein dürfe. Und nach diesen dämlichen Qualifikations- und Selektionsprozessen hätte ich die Schönste am Handgelenk genommen und wäre hinunter nach Ronda durchgebrannt. Hemingway meint, Ronda eigne sich für ein solches Unternehmen besonders. Ronda also hätten wir uns geleistet und wären im Hotel gleich neben der tiefen Schlucht abgestiegen, dort wo man vom ehemaligen Strassenräubernest in die waldige und hügelige Landschaft hinunter sieht. Und wir hätten zum spanischen Wein diese riesengrossen und etwas groben Plätzchen gegessen, die sie in Spanien den Stieren praktisch lebendigen Leibes aus den Lenden schneiden. Inkognito wären wir auf Rondas Flaniermeile Arm in Arm auf und ab gegangen, hätten auf die Welt und ihren unglücklichen Lauf gepfiffen und stattdessen in der wunderhübschen kleinen Arena ein paar blutig-schöne Corridas besucht.

Und zwischendurch hätte ich mit meiner schönsten Rothaarigen im Hotelzimmer die Decken aufgewühlt und Bettgestelle flachgelegt. Ein bisschen barock alles, zugegeben. Ungefähr so wie ein gute Flasche Malvoisie, prickelnd, komplex und lebenslustig.

Doch, meine liebe Marlena, wie kann ich erklären, dass ich nach drei Tagen bereits wieder zurück bin?? Der romantische Anfall berücksichtigt nur den explosiven Entschluss, die hastige Abfahrt, den brennenden Wunsch, wegzukommen. Doch wie kommt man wieder zurück? Reuigen Herzens? Asche auf dem Haupt? Triste und voller Schuldgefühle? Oder einfach so, indem man morgens wieder im Büro sitzt und die aufgelaufenen Pendenzen angeht? Die Rückkehr ist ziemlich heikel, nicht wahr? Die Romantik denkt nicht an Rückkehr, wenn sie denn überhaupt denkt! Sie denkt nämlich auch nicht daran, lebenslänglich in Ronda auf und ab zu gehen. Man müsste dann ja gelegentlich mit der nächsten der 59 zum nächsten Ort abhauen. Vielleicht nach Rom mit einer Blonden, nach Paris brunette und Casa Blanca schwarz?

Ich bin also von Ronda zurück!

Mit einem lieben Gruss 

...

Retour d'Amérique

 

Ämne: Retour d'Amérique
Datum: den 1 september 17:09

Liebe Marlena
Es ist bald 10 am. Meine Gastgeber werden um 10 abfahren fuer den Brooklyn Carneval. Es scheint, sie haben das ganze Jahr darauf gewartet. ...

Ach, ich habe nicht gewusst, dass es einen Atlas gibt fuer die Kunst des Kuessens. Da gibt es zivilisierte Regionen und auch unwegsames, gefaehrliches Gelaende. Sozusagen Rotkaeppchen-Wege, wo der Wolf lauert. Ich verstehe. Ich werde mich vorerst an die autorisierten Pfade halten. Man verlaeuft sich so auch viel seltener und kommt auch so zu schoenen Aussichtspunkten. Wie Du zu dieser Schlaefenpartie kommst? Sie ist doch bei aelteren Leuten oft sehr ausgepraegt.

Ich werde ungefaehr am Mittag hier losziehen. Da ist zwar noch sehr viel Zeit. Na ja, vielleicht genuegt es, wenn ich um 14h gehe. Der Bus benoetigt ungefaehr eine halbe Stunde. Und sie fahren alle halben Stunden, wenn ds auch am Labour Day so ist. Das weiss ich eben nicht so genau. Ich haette also noch Zeit, Dir ein kleines Geschenklein zu posten. Moechtest Du was Kitschiges? Na ja, ich will nicht zuviel versprechen.

Deine Idee von Wien ist gut. Ich wuerde auch wieder mal gerne dorthin fahren. Auch Walter ist ein grosser Fan Wiens. Manchmal erzaehlt er mir vom Wiener Zentralfriedhof, als ob es der Garten Eden waere. Ich glaube, seit sich Europa vergroessert, wird Wien immer wichtiger. Es ist unser Brueckenknopf zum Balkan, und die Oesterreicher haben ein besseres Verstaendnis von jenen Menschen dort. Sag mir, wann Du gehst, Marlena, ich werde sehen, was sich tun laesst. Vielleicht muss ich dann einen Kurs in klassischer Psychoanalyse nehmen. Dann werde ich auch gleich das Kanapee mitschleppen. Freud hat im Grunde auch mit Hypnose angefangen. Das hatte er bei Charcot in Frankreich gelernt. Und das habe ich - glaube ich - schon mal erzaehlt. Aber sein Zeitalter war so rationalistisch und vernunftorientiert, dass er glaubte, davon wegkommen zu muessen.

Gestern habe ich im Central Park einen aelteren Mann gesehen, der aus der Handschrift las. Wie ein fortune teller, aber eigentlich Graphologe. Die Kundin war eine Japanerin. Und sie musste etwas auf ein Blatt Papier schreiben. Es waren knappe 5 oder 6 Zeilen. Ich habe eine Weile zuegehort. Ich glaube wirklich, dass er ein bisschen Graphologie kennt. Aber die Datenbasis ist sehr fraglich. Einerseits schreibt eine Japanerin von Kindheit an eine voellig andere Schrift. Und 6 Zeilen sind zu wenig. Er interpretierte z.B. die Tatsache, dass sie ihre Unterschrift links hinsetzte anstatt rechts, wie er es von einem normalen Mitteleuropaeer erwarten wuerde. Man sagte in der Graphologie, Leute, die am linken Rand unterschreiben, sind reserviert, vielleicht scheu, halten sich von anderen Menschen zuerueck. Aber heutzutage kann man das nicht mehr so eindeutig sagen. In vielen Geschaeftsbriefen setzen sie die Unterschrift neurdings linksbuendig. Seine Aussage war also etwas gewagt. Und er sagte ihr, dass sie ein bisschen stur sei. Ich kann mir vorstellen, wie man zu einer solchen Diagnose kommt. Aber wenn ein Mensch unsere Schrift erst mit 17 oder 18 Jahren zu schreiben beginnt (na ja, ich weiss nicht, die die Japaner das machen), dann bedeutete es etwas anderes. Wenn ich S.s Schrift anschaue, so habe ich den Eindruck, die arabische Schrift des Persischen und die Rechts/links Orientierung haben schon einen Einfluss.

Aber wie auch immer. Wenn ich diese Strassenunternehmer sehe, dann denke ich - lustig - ich koennte mich hier in NY auch durchbringen. Na ja, waere nicht gerade so buergerlich. Aber es waere nicht unmoeglich. Jeder hat seine Spezialitaet. Am Sonntag kam eine junge Frau durch die U-Bahn. Normalerweise wechselt man ja nicht den Wagen waehrend der Fahrt, aber es ist moeglich. In lauter, etwas weinrlicher Stimme verkuendete sie an diesem schoenen Sonntag Morgen, dass sie ohne eigenes Verschulden den Job verloren, keine Wohnung und keine familiaere oder staatliche Unterstuetzung habe, und dass sie im 3. Monat schwanger sei. Und dann ging sie durch und sammelte. Ich glaube, die Leute haben ihr gespendet, weil sie ihren Mut respektierten. An der 5. Avenue habe ich einen gesehen mit einem Stueck Pappe. Darauf stand: homeless, jobless, HIV. Wenn man sehr sarkastisch sein will, kann man sagen, dass er als Bettler hoch qualifiziert sei. Es gibt bestimmt auch solche, die das ausnutzen. Wir schweizer sind ein bisschen misstrauisch. Und irgendwie habe ich die Ueberzeugung, es sei Sache der Amerikaner, ihnen zu helfen.

Auf dem Perron von Grand Central Station habe ich am Sonntag Abend einen Japaner gesehen, den ich schon vor einer Woche gehoert habe. Er hat ein Saiteninstrument, eine Art Tisch, und daran zupft er. Er spielt so konzentriert und er ist sehr ordentlich gekleidet, mit Kravatte und Jacket. Aber gleich ueber ihm ist eine Art Air Condition Maschine, die vollbringt einen solchen Laerm. Und wenn die Zuege ein und ausfahren, wird es gleich doppelt laut. Man hat den Eindruck, er habe wirklich den schlimmsten Ort gewaehlt fuer seine traditionelle asiatische Musik. Aber er spielt wie ein Konzertspieler, mit hochernster Miene und mit Inbrunst. Aber es sind wirklich nur wenige, die ihm eine Kleinigkeit spenden. Es sind vielleicht ein paar Asiaten, die durch die Toene ein bisschen Heimweh bekommen. Und sagt diese Art von Musik nicht besonders viel. Doch letzten Sonntag habe ich ihm gespendet. Ich habe seinen unbeugsamen Willen respektiert.

So, liebe Marlena, bevor ich hier losgehe, werde ich noch einen kleinen Spaziergang im Village machen. Es sind die letzten Eindruecke, die ich mitnehme. Es ist hier Sonntagsstimmung. Fast nichts laeuft. und ich bin sicher, dass auch nicht alle U-Bahnen fahren.
Wir sehen uns wieder in der Schweiz, nicht wahr?
Mit lieben Gruessen und Kuessen in den autorisierten Zonen
...



Ämne: Re: Pleasant journey!
Datum: den 1 september 20:03

Liebe Marlena
Jetzt ist 2pm. Und in ein paar Minuten werde ich die Tuere, die selber schliesst, nicht mehr oeffnen koennen. Ich sollte also nichts liegenlassen, vor allem nicht Pass oder Ticket. Und weil hier niemand zum Abschied zu kuessen ist, kuesse ich Dich zum Abschied. Lucky you!
Ich bin - was ich in meinem Leben noch sehr selten getan habe - in ein Musikgeschaeft gegangen. C. hatte davon gesprochen. Und weisst Du, was ich gefunden habe. Eine CD von Barbara. Es gab eine ganze Reihe franzoesischer Platten. Schliesslich bin ich doch bei B gelandet. Greco hat es keine gehabt. Aber ich habe eine schoene von Dir. Und dann bin ich nochmals Toilettenartikel holen gegangen. Ich hatte noch etwas Geld uebrig. Und B´s Wuensche sind gross. Also habe ich noch eine zweite Ladung geholt. Eigentlich wollte ich fuer sie eine CD kaufen. Aber ich kenne mich in diesen modernen Trends so denkbar schlecht aus, dass ich kleine Erfolgschance habe.
Um sicher zu gehen, habe ich also Barbara gewaehlt.
Und jetzt bin ich bei meinem letzten Kaffee. Und dann gehe ich. Ich bin ein bisschen nervoes. Vielleicht der Kaffee? Oder die Unklarheit, bis ich am Flughafen bin. Man sagt von Freud, dass er eine riesige Angst hatte, zu reisen, und dass er schon Stunden vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahnhof war. Na ja, vielleicht werde ich Freudianer. Das kommt der Wiener-Mischung naeher.
Ich glaube, ich habe wirklich alles gepackt. Es gibt nichts, was ich vergessen koennte. Soll ich der Nachbarin zum Abschied einen Kuss auf die Stirn druecken. Ach nein, ich will nicht, dass sie einen Herzstillstand erleidet.
Wir sehen uns morgen, nicht wahr? Habe eine gute Nacht.
Mit lieben Gruessen und transatlantischen Kuessen a la Golfstrom

...



Freitag, 12. September 2025

Pleasant journey!

Date: Mon, 01 Sep  08:43:53 +0200

Lieber ...
Manchmal, wenn ich aufwache, wünsche ich dass der Tag schon vorüber wäre. Aber dann, nach einem starken Kaffee ist die Welt wieder OK. Und wenn ich dein Mail finde, ist sie sogar schön. Du siehst, wie wichtig du bist. Ich glaube auch es ist gut, den Tag mit einem Lachen zu beginnen. Ich höre dich im Moment die amerikanische Nationalhymne "zweistimmig gackern". Kann dir garnicht sagen wie das klingt. Ganz einfach umwerfend! ;-))
>Wie schön, dein wiederholter Besuch in dem Museum. Und dann später wirst du vielleicht virtuell hineingehen können, um dein Gedächtnis aufzufrischen. Ich komme auch wieder mit, wenn du es zulässt.
Und ein richtiger Amerikaner bist du geworden, der sogar den einheimischen in der Weltstadt zurechthilft. Was hast du für einen vortrefflichen Reiseführer? Und natürlich ist es auch dein Aussehen, das die Leute gerade dich fragen lässt. Vertrauenerweckend erscheinst du ganz bestimmt.

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Du schläfst noch süss. Hier scheint die Sonne schräg in den Garten und der Tau schimmert auf dem Rasen. Es war kalt in der nacht. Nur 0,8 Grad. Ich hoffe, dass nicht Frost kommt und alle schönen Blumen zerstört. Die Pflaumen sind auch lange noch nicht reif. Kann es nicht richtig verstehen, bei dem langen heissen Sommer. Dagegen kann man schon die Äpfel essen. Vorhin habe ich (sogar in den Nachrichten) gehört, wie dich ein einziger Apfel am Tag vor allen möglichen Leiden bewahren kann, z.B. vor einem Herzinfarkt. Das ist auch was mir meine letzt verstorbene Tante so sehr empfohlen hat: mindestens einen Apfel pro Tag.
Ich esse äusserst selten Papayas und weiss nicht wie es mit dem C-vitaminhalt steht. Aber die Kiwis enthalten viel davon. Eine einzige Kiwi entspricht 5 Orangen.

Ja, in der Reklame hier im Hotmail sieht man, dass dort drüben heute Labor Day ist. Und man empfiehlt den Leuten ein gutes Essen mit Fleisch glaube ich. Ach, es wird schön für dich sein, wieder zu Hause mit guten Gerichten verwöhnt zu werden. Schade, dass ich das nicht tun darf.

Ich muss mich vorbereiten auf meine Stunden. So wünsche ich dir einen Guten Morgen und einen schönen letzten Tag in NY. Und ich heisse dich auch herzlich Willkommen zu Hause.. obwohl ich immer bei dir war.
Jetzt schleiche ich vorsichtig an dein Bett und küsse dich zärtlich auf die Schläfe. Hals und Ohren gehören in eine verbotene Kategorie. Weisst du das denn nicht? ;-)


So wünsche ich dir die kommenden Tage.
Mit lieben Grüssen
Marlena

Montag fliege ich ...

 

Ämne:  Late sunday evening..
Datum: den 1 september 06:28


Liebe Marlena
Montag um 6pm fliege ich von Newark. Und gleichzeitig ist der Montag der Tag der Arbeit in den USA, also frei. Ich hoffe, es gibt ein paar Busse nach New Jersey. Aber ich habe ja den ganzen Tag Zeit, ich könnte fast zu Fuss gehen.
Heute war ich den ganzen Tag im Metropolitan Museum. Es war herrlich. Ich habe mir nochmals die Malerei Europas des 19. Jahrhunderts angeschaut. Letztes mal war ich natürlich schon ein bisschen abgelenkt durch die kolumbianische Begleitung.
Pissaros und Sileys gibt es einige. Pissaro hat ja irgendwie eine milde, fast mystische Palette, und auch Sisley ist immer sehr harmonisch. Man sagt von Pissaro, er wäre der Vater der Impressionisten gewesen. Und das ist in dem Sinne gemeint, dass ihn alle akzeptiert haben. Und dass er einige von diesem Malstil überzeugt habe. So auch Monet, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Vorbild Monets in den frühesten Jahren war Boudin. Er lebte auch an der Kanalküste. Boudin hat wunderschöne kleine Strandbilder gemacht, die ich sehr schätze. Ich glaube, Boudin hat Monet zur plein air Malerei geführt.

Und was Du sagst ich wahr. Wenn man Impressionisten anschaut, sollte man an das Jeu de Paume denken, nicht an das Musee d'Orsay. Das ist die richtige Umgebung für die Impressionisten, die einen anziehen. Es gab ein sehr schönes Frühlingsbild von Monet, das ich noch nie, auch nicht in Reproduktionen gesehen habe. Es ist ganz leicht, von einem frühlingshaften und luftigen Grün. Es ist sehr schön. Und wenn ich sowas sehe, dann denke ich, ich sollte doch auch in der Lage sein, ein ähnliches Bild zu malen. Aber die Leichtigkeit, die aus dem Bild strahlt, ist eben die Kunst. In Wirklichkeit ist es ziemlich schwierig und erfordert langes Studium der Pinselführung und der Farbwahl.

Heute, in der U-Bahn, ist mir wieder aufgefallen, wie intensiv das amerikanische Englisch eigentlich ist. Vor allem bei Frauen fällt es mir oft auf. Natürlich gibt es auch Männer mit einer tiefen Stimme, die ähnlich durchdringend klingen. Aber bei den Frauen ist es einfach ganz erstaunlich, was sie mit ihrem Organ produzieren. Es ist geradezu ein eroberndes Organ, mit kolonialistischen Zielen. Ich meine, die Sprache klingt manchmal so scharf und durchdringend, dass sich Italienisch daneben wie ein Schlafliedchen neben einer Polizeisirene anhört.
Hör mal, wie sie "really" sagen! Kein Mensch kann das im Erwachsenenalter noch lernen, wie die Amerikanerinnen really sagen. Dazu muss man von Kindsbeinen an trainiert werden. Da ist sowas Schillerdes drin, eine Koloratur, die sich fast überschlägt, aber doch nicht. Ich glaube, man hört schnell, ob einer ein echter Amerikaner oder bloss ein Zugewanderter ist.

Und Zuwanderung scheint ein bliebtes Konversationsspiel hier zu sein. Jeder hat irgendwelche Vorfahren in Europa. Und Randy Rosenthal im Kurs behauptete, die seinen wären vor 400 Jahren aus der Schweiz ausgewandert. Na ja, vielleicht wollte er besonders nett sein zu mir. Aber aus der Schweiz kamen sie mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Doch für einen Amerikaner ist das dort drüben ohnehin einerlei.

Ich merke, dass ich Abschied nehme. Heute ist mir im MET, auf dem Buffet im grossen Wintergarten, eine Platte mit einer Kreuzbeige von Toblerone-Verpackungen aufgefallen. Du kennst doch Toblerone. Das ist diese Schweizer Schokolade, die ausschaut wie die Schweizer Alpen in ihrer schönsten Ausprägung. Sie ist dreieckig und sie schmeckt ein bisschen nach Honig. In der 5. Ave bin ich in einen Lindt-Laden geraten, um zu sehen, wie teuflisch teuer diese Schokoladen in NY sind. Und schliesslich bin ich wieder in der Empfangshalle des Hyatt Hotels gestrandet, wo sie gerade Tennismatche aus dem US open gezeigt haben. Ich habe mindestens 1.5 Stunden gewartet und gehofft, sie würden unseren Roger Federer mal zeigen. Sie haben ihn ein paarmal erwähnt. Aber beim Spielen habe ich ihn nicht gesehen. Du siehst, ich bin schon auf dem Heimweg. Die Amis sind in sportlichen Dingen recht grosse Chauvinisten. Sie zeigen vor allem ihre eigenen Stars, und die anderen nur, soweit sie das müssen, weil sie beispielsweise im Final spielen. Aber auf den Fotos an den Wänden, riesengross, oder in den Vorspannst am Fernsehen sind es immer die amerikanischen Köpfe. Das fällt uns Schweizern natürlich besonders auf, denn bei uns am Fernsehen sind es ja meist die Ausländer, die wir sehen. Wir haben nicht soviele Stars, die bis in die vordersten Ränge kommen.

Ja, ich muss langsam ans Packen denken. Das ist für mich ein Horror. Ich habe noch nicht mal meine Karten auf die Post gebracht. Ich muss meinen Gastgeber darum bitten. Aber ich habe morgen ja noch Zeit bis gut über den Mittag. Sie haben mir gesagt, dass sie um 10am losfahren, um den Brooklyn Carneval zu besuchen. So werde ich den Schlüssel hier lassen und allein losziehen. Ich will noch rasch in einem Indischen Laden ein möglichst scharfes Gewürz suchen. S. mag heisse Gerichte.
Na ja, das Packen ist eigentlich nicht so kompliziert. Ich habe vor allem schmutzige Wäsche, ein paar neue Bücher, eine kleine Souvenir-Freiheitsstatue, einen Hut, einige Tuben Hautcreme und ein dickes Bündel Postkarten. Ich habe zwar eigene Fotos gemacht mit einer kleinen Kamera. Aber die Postkarten sind oft signifikanter. Deshalb kaufe ich mir immer welche, die ich zuhause in einer grossen Schachtel aufbewahre, wahrscheinlich, um sie in Zukunft einmal meinen Enkelkindern mit den entsprechenden Geschichten geschmückt wieder zeigen zu können. Ich habe heute einige Zeichnungen gemacht. Weisst Du, Marlena, ich habe mir für NY einen Block zusammen gestellt. Ich habe dabei abwechslungsweise ein dünnes Papier und ein dickes Zeichenpapier genommen. Auf dem dünnen habe ich meine Tagebuchgedanken niedergeschrieben. Und auf den dicken wollte ich zeichnen. Und jetzt habe ich festgestellt, dass die dünnen praktisch vollgeschrieben sind, die dicken aber noch mehr als zur Hälfte leer. So muss ich mit der rechten Hirnhälfte etwas aufholen!

Im Starbucks an der 5. Ave habe ich einen Kaffee getrunken. Es gibt ja dieses kleine Tischchen daneben, wo man Zucker und Milch dazumischen kann. Man muss dazu den Deckel des Bechers abnehmen. Und der hält ziemlich gut. Wenn man ungeschickt ist, kann man dabei den ganzen Becher auskippen. Und meist füllen sie ihn so sehr, dass man kaum noch Milch dazu giessen kann. Und wenn der Becher zu voll ist, bringt man den Deckel kaum noch drüber. Du siehst, diese amerikanische Trinkart hat ihre Tücken. Es sieht zwar aus wie ein Baby-Drink, erfordert aber die Fingerfertigkeit eines Taschendiebes. Man kann allerdings aus diesem Kaffee auch bei idealsten Beimischungen bestenfalls ein eine Art warme Limonade erreichen. Mehr wird nicht daraus. Er war schrecklich, der Starbucks-kaffee aus der 5. Avenue. Und ich bin wirklich nicht sonderlich empfindlich in diesen Dingen. Aber ich habe dann zu diesem schrecklichen Kaffee einige Skizzen gemacht. Das war ganz unterhaltsam. Skizzieren ist gut, weil man sich dann die Dinge wirklich gut anschaut. Und zum Schluss konnte ich noch Schlange stehen, um auf die Toilette zu gehen. So läuft das bei den Amis.

Es ist kühl geworden jetzt. Man merkt, dass der Herbst kommt. Ich mag diese Zeit. Man zieht wieder was Richtiges an und geht in die Stadt spazieren. Eine Pfeife würde jetzt fantastisch gut schmecken.

Die Leute hier halten mich echt für einen NYer. Immer wieder fragen mich Menschen nach dem Weg. Die ersten paar Male habe ich mich entschuldigt, ich sein hier auch nur Tourist. Aber jetzt nehme ich meinen Stadtplan zur Hand und helfe weiter. Ich habe den Verdacht, dass mich sogar Amerikaner nach dem Weg fragen. Heute in der U-Bahn musste ich jemanden aufklären, dass es local und express Züge gibt. Und sie war bestimmt eine Amerikanerin. Und im Starbucks half ich einem Kanadischen Paar weiter, das Empire State Building zu finden. Na ja, ich muss zugeben, mein Führer ist wirklich sehr praktisch. Ich habe mir eigentlich gar nicht soviel gedacht, als ich ihn in Basel gekauft hatte. Ich dachte mehr, er sollte vielleicht nicht zu dick sein. Aber er ist wirklich super-praktisch. Die meisten Touristen gehen hier mit grossen Karten herum und sehen aus wie Pfadfinder auf einem Orienterungslauf. Ich habe mein kleines Büchlein und finde sofort alles. Es ist ganz logisch aufgebaut und bestimmt empfehlenswert.

Im MET habe ich nochmals eine Sammlung von 30 alten Fotos über NY gekauft. Ich mag sie sehr, und es gibt sie bestimmt zu Tausenden. Sie zeigen die Stadt im letzten Jahrhundert, meist wohl aus der Vorkriegszeit. Ich werde wohl einige davon rahmen und mir eine NY Ecke in der Bibliothek einrichten. Dazu kommt auch die kleine Freiheitsstatue. Sie ist natürlich ein bisschen kitschig. Aber vieles ist hier kitschig. Ich wollte zuerst sogar dieses kleine Spielzeug kaufen, Du weisst sicherlich, was ich meine. Es ist eine Glasglocke. Darin ist eine farbenfrohe Szenerie aufgebaut, hier beispielsweise ein paar Wolkenkratzer. Und wenn man schuettelt, wirbelt Schnee in der Gegend herum. Das ist der totale Kitsch. Das ist aber so eindeutig kitschig, dass man es sich schon wieder leisten kann. Habe ich aber dann schliesslich doch nicht. Ich fand die Szenerien, die darin zu sehen waren, immer sehr dürftig. So habe ich mich schliesslich für die Statue entschieden. Sie ist immerhin aus Europa, ein Geschenk der Franzosen, das die junge Demokratie arg in Verlegenheit gebracht haben soll, weil man nicht wusste, wo dieses Möbel aufzustellen wäre. Schliesslich hat man diese Insel vor Manhattan gewählt. Vielleicht haben die Franzosen die Statue als trojanisches Pferd gedacht? Immerhin hätte man darin eine gute Hundertschaft an Soldaten unterbringen können. Und sicherlich hätten die Amerikaner diese Dame mit dem Soft-Ice, welches sie dem lieben Gott hinstreckt, damit er auch mal kosten kann - dann und wann am liebsten den manchmal etwas arroganten Franzosen wieder nach Paris zurückgeschickt. Aber geschenkt ist geschenkt. Ein solches Geschenk wird man nicht so schnell wieder los.

Jetzt fange ich an zu frösteln. Ich glaube, ich muss schliessen und werde mich dran machen, das wichtigste zu packen. Dann wird es morgen etwas ruhiger zu und her gehen. ich habe heute noch Eier und Wasa/Brote gekauft. Ich kann die armen Leute hier ja nicht mit leeren Schränken zurücklassen. Ich habe wirklich noch nie in meinem Leben soviele Eier gegessen. Ich könnte, wenn man es von mir verlangte, die amerikanische Nationalhymne zweistimmig gackern. Dagegen hatte ich wenig Fleisch während der zwei Wochen. Heute hatte Ch. zu meinem Abschied ein japanisches Fondue gemacht. Aber ich kam - wegen der Tennismatche im Hyatt - ein bisschen spät. So ist nur sehr wenig Fleisch übrig geblieben. Doch das macht nichts. Ich hatte oben beim Central Park schon eine Pizza gegessen und das eigentlich als Nachtessen gedacht.

Nun wünsche ich Dir einen guten Wochenanfang. Und ich hoffe, bei mir geht es auch gut. Das nächste Mail kommt wieder aus der Schweiz. Ich danke Dir wirklich, liebe Marlena, für Deine nette Begleitung. Ich glaube, wenn ich erzählen kann, bleiben mir viele Dinge viel leichter. Man weiss das von der Schule. Man sollte den Schulstoff am gleichen Abend nochmal rasch durchgehen. Dann bleibt er im Langzeitgedächtnis. Empfiehlst Du das Deinen Schülern auch?
Mit lieben Grüssen und amerikanischen Küssen (wohin auch immer; Du hast recht, in den Schläfen ist man sehr sensibel, da gehen sie direkt ins Blut: aber Hals ist auch nicht schlecht, oder ins Ohr...)
...

Mittwoch, 10. September 2025

Wo ich hier wohne ...

 fortsetzung


Wo ich hier wohne, ist ein spezielles Quartier. Es wirkt geradezu doerflich, und heisst ja auch East Village. Frueher muessen hier Deutsche und Hollaender gesiedelt haben, wenn man die Haeuser beurteilt. Die Strasse ist gesaeumt mit Baeumen. Und es gibt viele kleine Laeden und Restruarants. Abends ist hier ein Ameisenhaufen, vielleicht eine Strasse weiter noch mehr als hier. Meine Gastgeber gehen jeden Abend in die Bar. Es gibt offenbar um 5p.m. eine sogenannte happy hour. Dann sind die Preise auf 50% reduziert. Das ist natuerlich raffinierte Geschaeftspolitik. Viele werden haengen bleiben bis morgens um 3. Aber meine Leute gehen um 10 p.m. und kommen dann erst nach Mitternacht wieder heim. Sowas kann ich mir natuerlich nicht erlauben. Aber es ist fuer mich auch nicht so attraktiv. Die Bar ist kuehl, sogar windig wuerde man sagen. Und die Musik ist laut. Es ist lustig, wenn man Leute kennt und diskutieren kann. Aber man muss dabei natuerlich ziemlich schreien.
Habe ich Dir erzaehlt, dass die Amis hier ein merkwuerdiges System haben. Man darf beispielsweise nicht Alkohol trinken auf der Strasse. Und man darf nicht rauchen in einer Bar. Wenn Du also europaeisch deinen Suenden nachkommen willst, dann musst du staendig pendeln zwischen Rauchen und Trinken. Das macht Dich atemlos. Noch schlimmer, wenn Du draussen auf dem Gehsteig an einem Tisch des Restaurants sitzt. Was tust du jetzt? Rauchen oder trinken oder beides, oder vielleicht keines? Die Behoerden haben in ihrer unerforschlichen Weisheit beschlossen, dass man in einem solchen Fall wohl trinken (obwohl draussen), aber nicht rauchen (obwohl nicht drinnen) darf. Man kann echt in Not kommen in diesem Land der unbegrenzten Moeglichkeiten!

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5. Tag - Die 5. Avenue

 

Ämne:  5. Avenue
Datum: den 24 augusti 03:39


Liebe Marlena
Heute habe ich mir die 5. Avenue drangenommen und von der 42. Strasse bis hinauf zum Central Park mit eigener Zunge gewischt.
 Es war warm. Aber es herrschte auch irgendwie Wochenendstimmung. Die Leute waren besser gekleidet als an Wochentagen. Und die Läden voll. Ich habe mir ein kleines Kitsch-Souvenir gekauft. Aber ich bin nicht soweit gegangen, jenes zu wählen in der Glaskugel, das, wenn du schüttelst, Schnee aufwirbelt. Die 5. Avenue ist eine der schickeren Strassen. Es gibt viele Kleiderläden, und ich bin sogar - was ich sonst kaum in meinem Leben tue - hineingegangen und habe geschaut, was es so gibt. Es gibt jede Menge Jeans. Und jene, die schon 5 Jahre alt und verbraucht aussehen, die sind die teuersten. Früher, zu unserer Jugendzeit, hatte man gesagt, man soll die neuen Jeans anziehen und damit in die Badewanne mit Kaltwasser steigen, um sie schliesslich am Körper wieder trocknen zu lassen. So würden sie am besten sitzen, behaupteten Kenner der Materie. Aber was damals "sitzen" hiess, ist wohl heute ziemlich locker.

In einem italienischen Lokal habe ich eine Pizza gegessen, die echt gut war. Na ja, vielleicht hat mein Hunger noch einiges dazu getan. Aber ich hatte wirklich den Eindruck, sie sei ausgezeichnet. Und für diese Gegend auch nicht teuer. Wenn ich nochmals in diese Gegend komme, werde ich noch eine versuchen. Sie haben verschiedene Sorten, mit Spinat, Broccoli, Tomate, Pilzen. Und irgendwie schaffen sie es, dass diese Zutaten obendrauf ganz frisch wirken, nicht wirklich ausgebacken und trocken. Das macht es saftig und locker. Also, einfach exzellent. Man könnte dazu "Santa Lucia ... " singen.
Als ich dann um 6 p.m. ungefähr wieder bei der Central Station war, war ich todmüde. So bin ich in die Empfangshalle des grossen Hyatt Hotells und habe mich in einen dieser weichen Plüschsessel fallen lassen. Man muss einfach etwas cool und gelangweilt in die Welt schauen, dann kann man sowas tun. Ich habe sogar die Füsse auf das kleine Tischchen gelegt, um echt amerikanisch und etwas ungehalten auszuschauen, eben wie jemand, den man viel zu lange warten lässt. Ich glaube, ich habe ein kleines Nickerchen gemacht in allerbester Atmosphäre. Und dann habe ich eine Ecke der Halle gezeichnet und mein Tagebuch etwas nachgeführt. Unterdessen hatte sich rund um mich eine Runde von Schwarzen niedergelassen, die sich für den Ausgang verabredet hatten. Sie waren alle nett angezogen und in bester und irgendwie hungriger Stimmung. Ich glaube, man sollte sich diese Hotel-Lobbies einfach im Hinterkopf merken. Man kann dort sehr gut Treffpunkte abmachen, denn sie sind 1. eindeutig, 2. vor allfälligem Regen geschützt, 3. ohne Konsumzwang, 4. gute Adressen, 5. hübsch zurecht gemacht und gepflegt sowie 6. eben für solche Dinge wie Treffen und Verabredungen gemacht. Wenn wir uns mal irgendwie und irgendwo im Leben treffen sollten, dann - meine liebe Marlena - wird es in einer Hotel-Lobby sein, darauf kannst Du Gift nehmen. Es ist einfach kein Vergleich zu einer windigen Strassenecke. Und ich bin überzeugt, die Hotels haben absolut nichts dagegen. Sie würden sich eher Sorgen machen, wenn ihre Lobbies leer blieben.
Als ich dann wieder etwas Kraft in den Beinen hatte, bin ich noch nach Osten zur UNO gepilgert. Das war ich S. schuldig. Schliesslich hatte sie mal bei dieser Bude gearbeitet, und ebenso ihr Vater. Ich glaube, es war damals im Iran ein erstklassiger Arbeitgeber. S. hatte für ihr Alter einen riesigen Lohn. Und eine Rente in Dollars, wie das mein Schwiegervater hatte, und die Schwiegermutter heute noch geniest, das ist bei den Inflationsraten des Rials ein Geschenk des Himmels. Doch das UNO Gebäude lag im Wochenend-Schlaf. Keine Fahnen, ausser die blaue Unoflagge. Vielleicht haben sie die Fahnen auch zur Trauer zurückgenommen. Das weiss ich nicht. Das lustigste war, dass ein Bettler, ein Penner, ein homeless - wie sie hier sagen - mit einem Wägelchen und einem riesigen schwarzen Plastiksack über die Strasse kam. Du lachst, aber er sah wirklich aus wie Kofi Annan, wenn er morgens noch ungewaschen und ungekämmt aus dem Bett steigt. Ich musste lachen, als ich den Kerl sah.

Und so habe ich auch meinen 5. Tag hinter mir. Die Zeit fliegt . Aber ich merke auch, dass ich etwas schneller müde werde als am Anfang. Deshalb ist es gut, wenn der Kurs beginnt. So kann ich mich richtig ausruhen. Das hört sich vielleicht komisch an. Aber Trance-Kurse sind die einzigen, die ich kenne, die so entspannend und beruhigend sind. Deshalb bin ich ja schliesslich - unter anderem - nach N.Y. gejätet. Ich bin gespannt, welche Art von Leuten sich im Kurs zeigen werden. ich weiss nur von der Kollegin aus Genf, die kommen wird. Wir haben uns geschworen, wir würden Europa bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigen. Und das tun wir für Euch dort drüben, hinter dem Ozean.
Ich wünsche Dir ein gutes Wochenende. Es freut mich zu hören, dass Du wieder im Element bist und das Du es geniesst. So soll Arbeit sein: Spass machen. Na ja, zumindest mehrheitlich.
Mit lieben Grüssen und so
...



Times Square und Metoprolitan Museum ...


Datum: den 23 augusti  14:39


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Im Moment ist kurz nach 7 Uhr samstag Morgen. Ich glaube nicht, dass die New Yorker schon auf sind. Es ist hier alles noch still. Die Nachbarin hat noch kein Licht in der Kueche. Und hier, wo ich zum naechsten Haus hinueber sehe, ist auch keine Seele auszumachen. ..
*
Times Square ist wirklich wie ein elektrisierter Ort. Diese Lichtreklamen, die ich sonst nirgendwo in solch grosser Konzentration gesehen habe, machen, dass sich diese Kulisse rundum in Bewegung haelt. Und weil die Strassenkreuzung in X-Form verlaeuft, ist gleichzeitig viel Verkehr auf dem Platz. Besonders abends mit den Schlusslichtern der Fahrzeuge wird das deutlich. Es gibt dort ein Hotel Marriot oder aehnlich genannt. Die haben im 48. Stock ein Restaurant. Ich bin mit dem Expresslift hochgeduest und habe mir die Aussicht auf Manhattan kurz angeschaut. Aber die Sonne war schon vorbei. So wirkte alles etwas blass und dunstig. Man sollte bei klarem Sonnenschein dort oben einen dry Martini trinken. Aber das Liftszstem des Hochhauses ist phaenomenal. Du kannst Dir das Haus vorstellen wie eine hohe Kartonschachtel. Mitten drin steht ein Rohr. Dieses traegt die Lifts. Aber sie sind wie ein Kranz ausserhalb des Rohrs, gut sichtbar, angebracht. Sie sind wie kleine Kaeseglocken, die im Eiltempo hoch- und herunterfahren. Und wenn man im Lift steht, faehrt man an den Stockwerken vorbei, die wie Galerien nach innen offen oder verglast sind. Da gab es etwa im 12. Stock ein Fitnesscenter. Irgendwo ein Restaurant und so weiter. Und du faehrst wie in einer Rakete daran vorbei in die Hoehe und kannst alles sehen. Das Konzept ist wirklich gut ausgedacht.

Der Amerikaner, den ich gestern mit Frau und Tochter im Metropolitan Museum getroffen hatte, klang sehr patriotisch. Er hatte eine Idee von Amerika als einer Art Weltdoktor, der unseren Planeten von allen Geschwueren und Krankheiten zu heilen hat. Zu hohen Kosten, notabene. Es klang irgendwie alles mit karitativem Unterton. Es ist vielleicht so, wie die Katholiken frueher die Welt missioniert haben, um das Seelenheil der Menschen zu retten. Die Amis denken, sie bringen uns wirklich nur Gutes. In einem einzigen Punkt waren wir uns sehr einig. In der Tatsache naemlich, dass ein guter Staat einen grossen Mittelstand braucht. Wenn es nur Arme und nur Reiche gibt, laeuft es auf einen Krieg zwischen den beiden Klassen hinaus. Aber der Mittelstand ist das tragende Element des buergerlichen Staates. Damit hat er mich mit einer sehr schweizerischen Idee getroffen.
Er hat mir auch einiges von Frank Loyid Wright erzaehlt. Offenbar ist in der Naehe seines Wohnortes (ich erinnere mich nicht mehr, woher er kam) dieses beruehmte Haus on the waterfall von Wright. Er war ein bisschen irritiert, dass ich das Haus schon kannte. 



In meinen Architekturjahren hatte ich natuerlich einige Bilder davon gesehen. Und im Metropolitan Museum gab es einen Raum, der von Wright eingerichtet worden war. Deshalb sage ich, dass dieses Museum fuer uns Europaer etwas unordentlich wirkt: es gibt neben Rubens-Bilder einen Wohnraum eines beinahe zeitgenoessischen Architekten. Es gab auch viele Moebel und Dinge, die wir eher in einem Voelkerkundemuseum unterbringen wuerden. Es gab zahlreiche alte Ruestungen aus dem Mittelalter, Objekte fuer Rituale in fremden Kulturen.,und daneben Statuen von Rodin. Die beruehmten "Buerger von Calais", die auch in Basel im Hof des Kunstmuseums stehen, standen auch hier mit ihren tragischen Gesten. Wer hat da wohl von wem geklaut :--)? Ich habe keine Ahnung, wieviele Kopien es davon gibt. Wahrscheinlich schon einige. Es gab einige schoene Bilder von Pisarro. Dabei habe ich an Dich gedacht. Es gibt nicht viele Personen, die ich kenne, und die gleichzeitig Pisarro kennen. Wir sind sozusagen seine gemeinsamen Bekannten. Weisst Du, was an Pisarro besonders ist? Seine Palette ist so unaggressiv, so milde und ein klein bisschen mystisch. Er wirkt durch seine Bilder wie ein aelterer, abgeklaerter Herr., der der Welt Frieden und Ruhe bringen moechte. Und das war er auch unter den Impressionisten. Er hatte in seiner Diskretheit einen grossen Einfluss auf viele seiner Malerkollegen. Ich glaube, er hat Monet zum Impressionismus bewegt. Und das ist doch eine kunsthistorische Tat, die man nicht unterschaetzen darf. Ich fuele mich ihm ein bisschen verwandt. Und dann gab es noch zwei oder drei Sisleys. Sie sind immer schoen und harmonisch. Er steht Pisarro sehr nahe. Seine Palette ist ein bisschen heller und unbeschwerter. Wir haben gelacht bei einer kleinen Skulptur von Degas. Sie stellte eine Frau dar, die sich einen Fuss waescht.


 
Na ja, irgendwie hat es gewirkt, als ob sie sich an der Fusssohle kratzen muss. Dabei ist sie auf einem Bein frei gestanden, hat mit dem anderen Arm ausbalanciert. Es war eine lustige Pose, aber sehr gut erfasst. Der nach innen gewoelbte Ruecken mit den hervorstehenden Schulterblaettern, das Rueckgrat, das in einem leichten Bogen zum Po fuehrte, dort aber  eine verstaerkte Kruemmung die eine Anstrengung signalisierte, weil die Figur ja mit dem Arm ihren Fuss zu erreichen hatte, so dass das Becken rechts etwas hervorstand, und dann die Gewichtsverteilung auf bloss einem Bein, das war alles meisterhaft. Es sah so leicht und ein bisschen komisch aus, aber es war genial, denn die Pose war ungeheuer schwierig zu modellieren. Degas war ein Meister der Damentoilette. Man koennte denken, er waere als Kind der Chefin eines Beauty-Salons aufgewachsen. Aber man sieht auch, dass die Frauen, die er sich vornimmt, nicht von hoher sozialer Klasse sind, manchmal eher einfache und etwas einfaeltige Geschoepfe.

Soweit meine Impressionen. Nebenbei: ich hatte versucht, meiner Begleiterin die Begriffe Impressionismus und Expressionismus zu erklaeren. Soll ich Dir sagen, wie ich es versucht habe? Na ja, ich kann das nur, soweit ich es selbst begreife. Dem Impressionismus liegt ein sinnliches Konyept der Wahrnehmung zugrunde. Ich habe kuerzlich einen Artikel (NZZ) gelesen ueber die physioligische Forschung von Helmholtz in Deutschland und das Wahrnehmungsverstaendnis der Impressionisten. Also: Impressionismus ist sinnlich, Expressionismus ist gedanklich. Oder wenn man vor dem Bild steht: ein impressionistisches Bild zieht dich als Betrachter in sich hinein, ein expressionistisches Bild springt dich an.

Soweit meine meine Impressionen.
Ich gehe jetzt duschen und dann nichts wie los.

Und wuensche Dir ein schoenes Wochenende.
Mit Gs und Ks a la carte
...

Samstag, 6. September 2025

Midtown

 

Ämne: 3. Tag
Datum: den 22 augusti  07:40


Liebe Marlena
Heute hatte ich mir Midtown vorgenommen. Ich bin zu Fuss bis hinauf zur Grand General Station gepilgert. Auf dem Weg gab es einige Kleinigkeiten wie das Flatironhaus, das man immer wieder abgebildet sieht, den Washington Square Park, wo der alte George auf einem Gaul sitzt und locker-lässig die rechte Hand ausstreckt, um den nachkommenden Generationen den Weg zu weisen. Er macht es - das wollen wir nicht unterschlagen - ein wenig Marc Aurel auf dem Kapitol in Rom nach. Der Union Square scheint das Billighotell der Stadt. Es gibt auf den langen Bankreihen jede Menge Penner, die noch nicht alle so früh Tagwache haben. Oft haben sie ihre ganze Habe in Plastiksäcken rund um die Beine stationiert, was wahrscheinlich auch hilft, das Terrain abzustecken. Aber Penner, die wirklich was auf sich geben, schlafen nicht hier, sondern in der Park Avenue. Die hat ein anderes Niveau. Der kleine Gramercy Park war mit einem eisernen Geländer umgeben und noch geschlossen. Offenbar können die Anlieger mit einem Schlüssel eintreten. Zwei Damen haben dort ihren Morgenkaffee getrunken. Und rundum haben die Hörnchen gespielt und sind übermütig herumgetollt. Es ist lustig, sie ziehen den Schwanz steif hinter sich her wie eine Schleppe, die sie knapp über den ungeschnittenen Rasen schweben lassen. Sie sehen eigentlich aus wie unsere Eichhörnchen. Nur die Schwänze sind ein bisschen schlanker und ihre Farbe geht ins Grau. Am Rande des Madison Square Garden haben zwei Fensterputzer die hohen Scheiben im ersten Stock gereinigt. Das sah aus wie eine Zirkusnummer. Die Stangen aus Aluminium haben sich gebogen, und immer mussten sie diese überlangen Dinger herunterkippen, um sie im Wasser zu spülen. Die Grand Central Station habe ich mir ausgiebig angeschaut. Dort kommen die Vorortzüge zusammen und auch die Busse von Newark kommen hier an. Es gibt Läden mit allen Köstlichkeiten, Kioske, Restaurants, Bars, Schuhputzer und Refreshment Rooms. Auch die Polizei ist präsent, immer mindestens zu zweit, eine Patrouille mit Hund. Ich habe mir verkniffen, hier eine NY Times zu kaufen. Ich wollte mich nicht für Stunden beschäftigen und damit ablenken. Dann bin ich nochmals in die Public Library, die ganz in der Nähe ist, und habe mich im Lesesaal für eine halbe Stunde abgekühlt. Sie sind großzügig hier, machen nur eine Eingangskontrolle. Aber dann lassen sie dich gehen, wohin du willst. Nur, wenn du den Lesesaal verlässt, schaut einer in die Tasche, ob Du den Schwarten Krieg und Frieden nicht doch mit eingepackt hast. Hinter der Bibliothek, die übrigens gleich neben dem Eingang eine Statue von Sokrates zeigt, wie er im Nacken einer Sphinx sitzt und etwas ratlos ins Wasser des kleinen Brunnens vor sich stiert. BUT ABOVE ALL TRUTH BEARETH AWAY THE VICTORY. Der schöne Spruch stammt natürlich noch aus dem Gutenberg/Galaxy, aus jenen alten Zeiten, als Schriftliches sich noch als Wahrheitsquelle herausgestellt hatte. Das ist heute vorbei. Aber der etwas pathetische Spruch ist ganz schön. Die Astors werden irgendwo in der Bibliothek verdankt. Offenbar haben sie viel Geld gestiftet. Der erste Astor ist aus Deutschland eingewandert, hatte zwar nicht als Tellerwäscher, sondern als Verkäufer in einem Pelzgeschäft gearbeitet und nach wenigen Jahren selbst ein Geschäft geführt, mit dem er dann zu seinen Millionen gekommen sein soll.
Auf dem Platz hinter der Bibliothek ist ein Konzert im Gange. Das gilt den vielen Büroangestellten, die hier ihren Picknick nehmen und sich die blassen Wangen sonnen. Ich setze mich in den Schatten und zeichne ein bisschen, bis mich die Lust auf einen Kaffee zum Buchhändler gegenüber lockt. Meist haben sie in einer Ecke des Ladens ein kleines Kaffee, wie das ja auch der Jaggy in Basel gemacht hat. Ich lese das Gratisblatt, das dort aufliegt, und schnuppere in einer Biografie über Susan Sontag. Sie habe an der Sorbonne Vorlesungen bei Simone de Beauvoir besucht. Später wurde sie von einem Professor eingeladen, eine Vorlesung über Fotografie mitzuverfolgen. Doch das war wieder in Amerika. Sie ist ja wirklich ihr ganzes langes Leben von Europa beeinflusst geblieben und ihm treu geblieben. Ich erinnere mich, wie heftig sie sich gegen den Irakkrieg gewehrt hatte.

Im Trump Tower bin ich dann später wieder in einen tiefen Sessel gesunken und habe mich eine gute halbe Stunde mit diversen Kleinigkeiten beschäftigt. Das Trump-Gebäude ist luxuriös, mit goldenen Einfassungen überall und mit rotem Marmor. Eine Wand herunter rinnt über 3 Stöcke eine Wasserfläche, die, weil einige Steine etwas hervorgesetzt sind, unruhig spritzt und nicht aufhört, zu rauschen. Auch hier habe ich eine kleine Zeichnung gemacht. Das ist die einfachste Art, sich umzuschauen.

Kurz und gut, es war ein harter Tag und NY ist - unter uns gesagt - ein hartes Pflaster. Ich habe bestimmt 20 bis 30 km gemacht. Manchmal vergesse ich beinahe, dass es noch eine Subway gibt.
Morgen wird es regnen, wurde mir gesagt, und deshalb gehe ich in die Met. Sie liegt am Rande des Central Parks. Der wirkt übrigens so lebendig und natürlich, weil er rundum von den riesigen Häusern so bedrängt ist. Die Luftaufnahmen zeigen das noch markanter.

Abends dann ein koreanisches Essen hier bei meinen Landlords. Hat gut geschmeckt. Eine nette Japanerin war dazu eingeladen, mit der ich mich sehr gut unterhalten habe. Sie hatte ein gutes Verständnis und hat jeweils blitzschnell verstanden. Das mag ich sehr. Sie ist Kunstschmiedin von Beruf und entwirft selbst Schmuck. Der hat mir nicht so sehr zugesagt, aber Schmuck ist ohnehin nicht meine Sache.
Ich wünsche Dir noch einen guten Abschluss der ersten Woche
und küsse Dich aus den Fernen Landen.
Mit lieben Grüssen
...




Gunnar Ekelöf

 



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Diesen Artikel aus NZZ Online, der Website der Neuen Zürcher Zeitung,
sendet Ihnen ...er.priv@gmail.com
mit der Mitteilung:
schönen Gruss
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Die Leere zwischen den Dingen

Strahlend und strömend - der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf


Die letzten Fotografien zeigen ihn meist im Schlafrock. Ein schmaler Herr mit schwarzer Mütze, der sich in seinem Sessel durch einen Bildband blättert. Zwischen all den Decken und Kissen ist das hagere Gesicht kaum zu sehen, nur das Licht gibt Nase und Stirn ein wenig Kontur. Ein Schmerzensmann, ein Asket, so scheint es, der erlebt, von was die Gedichte sprechen: «Viel ist nicht / von mir übrig . . . / Ich habe kein Gefühl mehr für mein Ich, mein Gewicht / Ich verliere den Halt, ich schwebe hinaus / Ich werde allmählich unsichtbar.»
Auch wenn er über die Kunst des Verschwindens schrieb, hielt sich der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf stets an die Wahrnehmung und an das Körperliche des Lebens, an jenen «Sinnengenuss», der für ihn zu jeder echten Literatur gehörte. Die Fülle der «Farben und Formen» war ihm Fluchtpunkt seines Schreibens, sie machte es ihm erst möglich, das Gedicht als «Magie und Beschwörung» zu verstehen, als einen Weg, das Sichtbare nach und nach zu übersteigen. «Du siehst, und sehend spürst du / wie sich alles zu Asche verwandelt / wie der Blick sich verwandelt / und aufhört zu sein / gleichwohl aber bleibt -», heisst es in einem der späten Werke.


DIE ERFAHRUNG DER SCHWEBE
Die Texte dieses grossen Dichters, die Gedichte ebenso wie die Essays, die Briefe oder die schmalen Prosastücke, entwickeln sich allesamt jenseits eines Denkens in blossen Gegensätzen. Dem «sterilen Reich» aus Licht und Schatten, Gut und Böse, Wirklichkeit und Traum hält Gunnar Ekelöf die Erfahrung der Schwebe vor, tastet sich vorwärts an Fluchtlinien und Konturen oder gibt sich in den Zwischenräumen der Wörter zu erkennen. Hier entpuppt sich das feste Ich als Chimäre und die Wirklichkeit als etwas durchweg Flüssiges. Diese «dritte Seite des Lebens» ist keineswegs mit naivem Einheitsdenken oder einer Art Natürlichkeit zu verwechseln. Vielmehr hat der ungerade, «einsame Mensch» die dualistische Welt des Rationalismus bereits durchwandert und setzt bewusst auf das Unbestimmte, Unvermessene, «jenseits aller Wahrheiten und Lügen».
So anspruchsvoll diese philosophischen Überlegungen auch klingen mögen - Gunnar Ekelöfs Gedichte sind doch angenehm frei von allen überdehnten Begriffen. In seinen leicht gebauten Versen versetzt er die Sprache in jene Schwingung, die er selbst einmal als «Radioaktivität» bezeichnet hat, als eine Strahlung, die sich erst nach Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden abschwächt: «Diese Radiowellen hat das Gedicht weniger durch den Inhalt erhalten als durch das Spannungsverhältnis zwischen den Wörtern, die den Inhalt ausmachen, durch die Fähigkeit des Dichters, die Wörter und Bedeutungen in ein solches Reibungs- und Nuancierungsverhältnis zueinander zu setzen, dass die Leere weiter nachbebt, lebt, ausschlägt, ‹sendet›, eine Art von magnetischem Gewebe aus unsichtbaren Fäden, Kraftlinien, die sich gegenseitig anziehen oder abstossen.»
Die Leere zwischen den Dingen, seinen «Singsang vom anderen» hat Gunnar Ekelöf immer wieder in grossen Meeresbildern oder Ausflügen in karge Landschaften ausgebreitet. Am Grunde vieler Gedichte wird die schwedische Natur mit ihrer stets gleichen Folge von Hochwäldern und Tundra erahnbar. Und so wie dort die monotone Dünung der Telegrafenmasten im Vorbeifahren sinkt und steigt, sinkt und steigt, so schneiden auch die Verse den Strom des Lebens immer wieder in handliche Augenblicksbilder. Doch nicht nur in seiner Heimat konnte der 1907 geborene Ekelöf die Bekanntschaft mit den elementaren Formen der Landschaft machen. Schon in jungen Jahren nimmt ihn die Mutter mit auf Reisen, wie überhaupt das Leben jener Zeit einer unruhigen Wanderschaft gleicht: 1911 geht es nach Deutschland und in die Schweiz, einige Jahre später sind die beiden in Frankreich unterwegs.


IM KINDERHEIM
Dazwischen liegt der Tod des Vaters, der seinen Beruf als Bankier wegen einer «geheimen Krankheit» vorzeitig aufgeben musste. In der äusserst detailgenauen Prosaskizze «Eine Photographie» beschreibt ihn Ekelöf als «lebenden Leichnam», der in seinem Sessel zwischen Stapeln von Polstern und Decken vegetiert. Ebenso prägend für Ekelöf dürften die Aufenthalte in Heimen gewesen sein, auch wenn sie im Rückblick zunächst ihre hellen Seiten offenbaren: «Ich meinerseits wurde häufig in Kinderheime verschickt, wo es mir rein materiell nie schlecht erging. Im übrigen ist es durchaus so, dass die Kindheit, selbst die schutzloseste und schmerzlichste, stets genügend lichte Erinnerungen aufweist, denn man braucht ja so wenig: eine sonnige Lichtung, unbekannte Blumen und Tiere, das Land, das Vergnügen am Badestrand können die Fremdheit rasch überdecken.» Die nächtliche Einsamkeit mit mancherlei angsteinflössenden Bildern lässt sich gleichwohl nicht verleugnen, ebenso wenig die bohrende Seh!
nsucht nach Briefen oder einem Lebenszeichen.
Trotz diesem «Kindheitstrauma», wie Ekelöf es in einer autobiografischen Notiz nicht ohne Koketterie nennt, findet er seinen eigenen Weg, der ihn zunächst nach London und Uppsala führt. Die Studien in Orientalistik und Persisch bricht er bald schon wieder ab, beschäftigt sich aber weiterhin mit östlichen Weisheitslehren und islamischer Dichtung. Überhaupt sind es die Erfahrungsweisen der Mystik, die ihn nachhaltig beeindrucken. Dazu kommen die somnambulen Nachtbilder der Romantik und jener Surrealismus, den er während seiner Zeit in Paris Ende der zwanziger Jahre kennen lernt. Mit dem geplanten Musikstudium will es nicht recht klappen - «ich hatte das Pech, in eine Wohnung mit papierenen Wänden zu geraten, in der ich der Nachbarn wegen nicht wagte, ein Instrument zu spielen». Auch verliert er seinen Anteil des familiären Vermögens im Wirrwarr der Weltwirtschaftskrise. Unterkriegen lässt sich Ekelöf freilich nicht. Zurück in Schweden, gründet er eine avantgardistische Zeitsch!
rift und arbeitet an den eigenen Gedichten. Sein lyrischer Erstling «spät auf erden» erscheint 1932.
Als Dichter ist Gunnar Ekelöf erst recht spät bei uns angekommen. Hans Magnus Enzensberger hatte einige Gedichte in sein «Museum der modernen Poesie» aufgenommen, ehe Nelly Sachs 1962 unter dem schlichten Titel «Poesie» eine kleine Auswahl bei Suhrkamp herausbrachte. Seit 1991 arbeitet man beim Kleinheinrich-Verlag in Münster an einer bibliophilen Werkausgabe, deren Übertragungen von Klaus-Jürgen Liedtke besorgt werden, einige wenige auch in Zusammenarbeit mit Manfred Peter Hein. Bisweilen hat Liedtke die Ruppigkeit der Verse im Deutschen allzu sehr abgemildert, seine Übersetzungen überzeugen aber dank der grossen rhythmischen Kraft. Mit dem Erscheinen der letzten beiden Bände ist die Edition nun vollständig.
Von Beginn an als zweisprachige Leseausgabe konzipiert, lässt sich über Auswahl und Anordnung naturgemäss streiten. Vielleicht hätte man auf das eine oder andere von Ekelöfs Nonsens- Gedichten verzichten können, vielleicht der berühmten «Mölna-Elegie» mit ihren vielen Flüsterstimmen ein wenig mehr Platz einräumen müssen. Auf jeden Fall hätte eine Ausweitung des Kommentarteils nicht geschadet. Die bei aller Kürze doch kundigen Nachworte des Ekelöf-Forschers Anders Olsson sind einzig um eine Handvoll Anmerkungen ergänzt, die meist noch vom Dichter selbst stammen. Bei einem derart belesenen Autor wie Gunnar Ekelöf, der sich auch in den Sprachwelten von Comics bestens auskannte, reicht das nicht immer aus.
Umso raffinierter scheint die Gesamtstruktur der sieben Bände, die sich vom grossen Spätwerk, der mystisch durchströmten «Akrit»-Trilogie, hin zu den ersten Lyrikbüchern zieht. Dazu gibt es einen eigenen Band mit Essays, Skizzen und Briefen, der zeigt, wie genau Gunnar Ekelöf auch das Prosafach beherrschte, die Kunst vor allem, Gedanken über das eigene Schreiben in kleine Szenen und Schilderungen einzulagern. So kann man sich als Leser zurückarbeiten zu den Anfängen des Werks - dem Spiegelpoeten Ekelöf hätte diese Verkehrung der gewohnten Ordnung gewiss gefallen. Am Ende der Ausgabe stehen die Texte aus dem Nachlass und jene Gelegenheitsgedichte, die Ekelöf in Zeitschriften oder Tageszeitungen veröffentlichte; sie sicherten ihm lange Zeit gemeinsam mit Rezensionen und Stipendien ein Auskommen.
Es ist ein weiter Weg, der nach mehr als einem Dutzend Gedichtbänden im reifen Triptychon des Akrit-Zyklus mündet. Gleichwohl werden schon früh einige bleibende Motive in den Windungen der Ekelöfschen Verse erkennbar. In seinem Début «spät auf erden» versucht sich der Dichter noch als lyrischer Wanderer, der die «buchstabennissen zwischen den zähnen knackt». Fast im gleichen Atemzug sieht er sich aber als «blinder Sänger», der zwischen allerlei Erinnerungen jene «grosse Gebärerin Nacht» erwähnt, die im Spätwerk so strahlende Bedeutung gewinnen wird. Hier entwirft Ekelöf das Bild einer gütigen, allmächtigen weiblichen Gestalt, die einmal als Jungfrau, einmal als Mutter erscheint. Ihre Anrufung verspricht die ersehnte Einheit der «dritten Seite des Lebens», eine mystische unio. Die Suche nach «Nicht-Begierde», nach einem «anderen Licht» ist nicht in einem weltfremden Jenseits angesiedelt. Mit Paradoxien, Fragen und überaus sinnlichen Bildern beschwören Ekelöfs Gedichte ein ums!
andere Mal das, was er «Lebensekstase» nennt: «In meine Seele / grubst Du die Spuren / kleiner Füsse, kleiner Zehen / wie in den feuchten Sand / eines Strands.»


HÖLLENBILDER UND MEERESSTÜCKE
Zu den motivischen Spuren, die sich schon in den frühen Gedichtsammlungen entdecken lassen, gehören neben zahllosen Höllenbildern vor allem die Augen, das genaue Sehen, das nach und nach in den gnostischen Blick übergeht. «Gib mir die Augen der Sepien / die sanften nach innen blickenden / als hörten sie Musik», heisst es 1941 in einem der vielen Meeresstücke dieser Zeit, die einen schön schwingenden Freivers kultivieren. So ist der Lyrikband «Fährgesang» tatsächlich die Überfahrt in die Welt einer anderen poetischen Wahrnehmung, in die des «einsamen Menschen». Dort angekommen, versucht sich Ekelöf auch in der leichteren Kunst von Unfug-Gedichten, wobei er seine poetische Linie nie aus den Augen verliert: «Wenn man es soweit gebracht hat wie ich in der Sinnlosigkeit / wird jedes Wort erneut interessant: / Fundstücke im Erdreich / die man mit archäologischem Spaten wendet.»
Als man Gunnar Ekelöf 1966, zwei Jahre vor seinem Tod, den Literaturpreis des Nordischen Rates verlieh, konnte er wegen Krankheit schon nicht mehr anreisen. In einer verlesenen Dankesrede lässt er seine späten Werke vor den Augen und Ohren der Zuhörer noch einmal aufleben - doch der resignative Grundton dieser Zeilen ist überdeutlich. Die Strahlung seiner Verse indes wird noch lange spürbar sein, sie mag nun Radiowellen gleichen oder der Strömung eines Ozeanriesen, der weit draussen vorüberzieht: «Und wir wissen nichts von ihm / ehe die Bugwelle uns am Ufer erreicht, / erst die eine, und noch eine und immer mehr / die anbranden, sich brechen, bis alles geglättet ist / wieder wie vorher. - Und doch ist alles verändert.»


Gunnar Ekelöf: Färjesng/Fährgesang. Gedichte 1932 bis 1951. Schwedisch - deutsch. Ausgewählt und übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke. Kleinheinrich-Verlag, Münster 2004. 317 S., Fr. 54.25.
Gunnar Ekelöf: En trasig liten ask av trä / Ein zerbrochenes Kästchen aus Holz. Gedichte aus dem Nachlass. Verstreute Gedichte. Schwedisch - deutsch. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Klaus-Jürgen Liedtke. Kleinheinrich-Verlag, Münster 2004. 293 S., Fr. 54.25.

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Donnerstag, 4. September 2025

In zwei Welten zugleich

 

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"Als ich dann um 6 p.m. ungefaehr wieder bei der Central Station war, war ich totmuede. So bin ich in die Empfangshalle des grossen Hyatt Hotells und habe mich in einen dieser weichen Plueschsessel fallen lassen. Man muss einfach etwas cool und gelangweilt in die Welt schauen, dann kann man sowas tun. Ich habe sogar die Fuesse auf das kleine Tischchen gelegt, um echt amerikanisch und etwas ungehalten auszuschauen, eben wie jemand, den man viel zu lange warten laesst. ..."

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Lieber ...,
Es ist Sonntagabend und ich bin wieder allein. Habe gerade nochmals deine beiden letzten Mails durchgelesen und genossen. Du bist im Moment ganz unwiderstehlich. Nie habe ich dich so frei und unbeschwert erlebt. Und natürlich musste ich auch lachen. Sehe dich vor mir "cool und gelangweilt" in einem dieser riesigen Fauteuils eines Hotel-Lobbys, wo du dann noch dazu einschläfst..
Aber du musst ziemlich gepflegt ausgesehen haben denke ich, sonst hätte man vielleicht doch reagiert.

Du schilderst Dinge, wie sonst niemand das tun kann und somit lässt du mich doppelt leben. Das habe ich heute wieder gemerkt, als ich im Wald Preiselbeeren pflücken war. Ich liebe es  im Wald zu sein. Es riecht so herrlich und die Luft ist erfrischend. Man spürt fast wie wohltuend sie ist. Und dort, umgeben von Preiselbeerkraut mit herrlich rot leuchtenden Beeren (man möchte fast glauben jemand hätte sie auf Hochglanz poliert) dachte ich plötzlich wie komisch es ist so ganz in der Natur zu sein und sich gleichzeitig in einer grossen Weltstadt zu befinden. Du machst mir das möglich, mein Liebling, und ich bin dir unendlich dankbar dafür.



Ach, ich habe doch nichts dagegen, dass du dir ein wenig Gesellschaft leistest dort in der Fremde. Aber ich bin eben ein bisschen eifersüchtig auf diese Person, die das Vergnügen hatte von dir in einem Museum unterhalten zu werden. Deine Definition von Impressionismus und Expressionismus finde ich übirgens sehr gut. Es ist wirklich so, wie du sagst. Ich werde nie meinen ersten Kontakt mit den Impressionisten vergessen. Es war im Jeu de Paume in Paris. Ich war 19 Jahre alt und hatte nicht allzugrosse Erfahrung von Kunst. Und dann stand ich da plötzlich vor einem Bild von Monet und war wie verhext davon. Wie du so richtig sagst: das Bild "zieht dich in sich hinein" und ich musste mich mit Gewalt losreissen. So war es damals. Auch dieses "der Expressionismus springt dich an" finde ich gut formuliert. Wir könnten uns lange darüber unterhalten.

Schau mal hier, was Monet einmal gesagt hat:
"Everyone discusses (my work) and pretends to understand, as if it were necessary to understand, when it is simply necessary to love."

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Kurs vorüber

 

Datum: den 30 augusti 01:38

Liebe Marlena
Jetzt ist der Kurs vorueber und - Du wirst staunen - ich habe ihn bestanden. Es gibt ein schoenes Zertifikat des Institutes hier in New York. Allein das ist eine Reise wert. Und wie es nach einem Kurs so ist, alle sind ein bisschen aufgeweicht und versprechen sich ewige Liebe und Freundschaft. Na ja, es hatte ein paar nette Leute, und frueher oder spaeter werde ich mit einigen per Mail Kontakt aufnehmen. Aber ich kann meinen Adressenkreis nicht beliebig erweitern. Meine Kapazitaeten kommen langsam an ihre Grenzen.
Der letzte Tag war gefuellt mit Uebungen. Und es ist interessant, wie man in diese Art von Sprache hineingeraet, die automatisch in die Trance fuehrt. Natuerlich kann man bei diesen Leuten, die hier waren, im Moment mit den Fingern schnalzen, und alle sind weg. Na ja, sie sind nicht weg, sie sind in Trance. Sie sind es so gewohnt. Aber das aendert sich in den naechsten zwei oder drei Wochen.

Heute habe ich irgendwie eine kleine Erkaeltung. Ich weiss nicht, woher sie stammt. Gestern war es keineswegs kalt. Es gab ein MTW Konzert in Rockefeller Center. Und wir haben gesehen, wie die Saenger eingefahren ist. Du weisst sicherlich, wie das ist. Ich kann mich erinnern, dass ich sowas erstmals im den 70er Jahren in England am Fernsehen gesehen habe. Die Stars waren die Beatles und die Rolling Stones. Soviele junge Leute hatte man vorher in der Geschichte wohl niemals gesehen Und das Fernsehen zeigte sie in den Hauptnachrichten, die vielen jungen Maedchen, die kreischten, ausser sich waren, die Fassung verloren und manchmal ohnmaechtig hinsanken. Ich erinnere mich, wie sehr ich sprachlos war, und wie sehr ich auch das Gefuehl hatte, ich gehoere zu dieser Jugend. Es war schoen damals, jung zu sein. Und es gab eine Aufbruchstimmung ueber die Musik, die die alten ueberhaupt nicht verstanden. Es war sozusagen ein Angriff der Jugend von hinten. Aber weil es soviele Leute gab, konnte man nichts sehen. Auch die einzelnen, die ihre Digitalkamera in die Hoehe hielten, um im Display etwas zu sehen, auch das half nichts. So sind wir im Kaufhaus in den 4.Stock gefahren und haben heruntergeschaut. Da konnte man - von weitem - ein bisschen was sehen. Dann sind wir ueber Times Square zurueckgekehrt. Dort sind die Theater, wo die vielen Musicals laufen. Aber ich habe mich nicht entschliessen koennen, in ein Musical zu sitzten. Mit der W bin ich dann zurueckgekehrt und habe nich mein Pensum geschrieben.
Ich habe gestern auch erstmals ein Sandwich gegessen, Corned Beef Sandwich, wenn ich mich nicht irre. Das war eine ganze Platte mit viel Fleisch, oben und unten eine scheue, weisse Brotscheibe, und dazu French Potatoes. Hatten die Amis nicht beschlossen, die French Potatoes umzubenennen? Also wenn sie die Dinger umbenennen, schadet das absolut nichts. Das waren keine Frites, sondern Kartoffelstreifen von der Konsistenz verkochter Pasti. Weich und lahm waren sie. Man haette genauso Pellkartoffeln beigeben koennen, das waere besser gewesen. Aber ich habe mir gesagt, man muss alles probieren, und so habe ich fast den ganzen Teller gegessen. Eine lange Tranche saure Gurke war auch noch drauf. Sie war aber nicht sauer, sondern vor allem salzig. Na ja, es war alles gut gemeint, und ich bin sicher, jeder normale Theaterbesucher haette diesen Teller in hoechstem Masse genossen. Ich habe dem Barmann ein gutes Trinkgeld gegeben, so wie man ueberall in den Touristenfuehrern angewiesen wird. Und er hatte mich angeschaut, als waere er Europaer. Vielleicht Tscheche oder sowas? Es ist schoen, bei diesem milden Klima abends, wenn es dunkel ist, zu Fuss heimzuschlendern. Im Village ist ohnehin noch viel los. Und man sieht soviele Dinge. Aber wiederum habe ich meine Tuere verpasst und bis bis zur 1. Avenue gegangen.

Und heute morgen bin ich via Washington Square zum Kurs gegangen. Auch dort haben sie ein Gaertchen, fuer die Hunde. Und schon morgens frueh - natuerlich vor der Arbeit - sitzen sie dort mit ihren Vierbeinern und lassen sie austoben. Und weiter unten hatte es Tische mit einem eingearbeiteten Schachbrettmuster. Bereits drei Typen sassen da, als ob sie dort uebernachtet hatten, hatten schon die Steine aufgestellt und einer forderte mich in morgenlichem Uebermut auf, mit ihm eine Partie zu machen. Ich glaube, sie machen das gegen Bezahlung. Auch vor der Public Library gab es solche Spieler. Idelerweise melden sich zwei, die spielen wollen. Wenn nur einer kommt, muessen sie den Sparringpartner abgeben. Dort oben hatten sie auch Backgammon gespielt. Hier aber war kurz nach 8h, und kein vernuenftiger Mensch spielt morgens um 8 im Washington Square auf einem kalten und eher etwas schmutzigen Steintisch eine Partie Schach. Ausser vielleicht eines dieser Hoernchen. Die waren schon auf und hatten ihre grosse Zeit. Sie pfluegen sich wirklich zu Dutzenden durch das Gras. Und auf einer anderen Grasflaeche hatte ein Schwarm Tauben ihre Fruehmesse. Sie haten sich getrennt voneinander, die Tiere, denn sie lieben die Ordnung. Und dann kommte ich wieder zu einem hohen Gitter, dreimal so hoch wie jenes, worin die Hunde spielen. Das ist fuer die kleinen Kinder. Dort drin wie in einem Raubtierkaefig stehen die Muetter und sehen zu, wie lange es dauert, bis die kleine Sally genug geschaukelt hat. Der Boden ist geteert, aber dort, wo die Kinder meist herumtollen, ist der Teer mit einer Gummimatte bedeckt. Es sieht einfach komisch aus, die kleinen Kinder hinter diesen grossen Gittern. Man denkt natuerlich - oder vielleicht denken wir Europaer so - das Gitter soll uns vor den Kindern schuetzen. In Wirklichkeit denken die Amerikaner wohl, das Gitter soll die Kinder vor den Homophilen schuetzen. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen. Hier die kleinen Kinder, dort drueben die Hunde. Einziger Unterschied: beim Hundezwinger gibt es noch eine Schleuse, dh einen kleinen Vorraum, wohl um dem Tier die Leine umzuhaengen oder zu loesen. Das ist aufwendig, aber praktisch gedacht. Wenn du also einen Wunsch hast, in NY, dann waehle Hund und besser nicht Kind zu sein.
Ich ueberquere jeden Tag den Broadway, um zum University Place zu kommen. Allein das ist ein gutes Gefuehl, obwohl der Broadway eigentlich hier eine ganz gewoehnliche Strasse ist. Sie ist sogar ein bisschen enger, hat aber einen gepflegteren Gehsteig.
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Ich bin gerade unterbrochen worden. Ch. ist mit ihrer japanischen Freundin gekommen. Japaner, so habe ich festgestellt, sind sehr nett. Sie machen eine nette Konversation. Das einzige Problem liegt darin, dass man sie schlecht versteht. Sie haben eine Aussprache, die vom Englischen wirklich weit entfernt scheint. So muss ich meist vieles erraten. Aber so genau muss man die Dinge meist auch gar nicht verstehen. In einem small talk genuegen ein paar Stichworte. Darin aehnelt der Small Talk der Trance.
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Jetzt muss ich mir rasch ein Alkaseltzer + Cold holen. Ich fuehle, dass etwas im Anzug ist. Und vielleicht ist es besser vorzubeugen, bevor es richtig einschlaegt und ich im Flugzeug von einer Stewardess individuell gepflegt werden muss.

Ich geh mal schnell zum Deli, um ein Alkasetzer zu holen.
Bis spaeter
Gruss
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Dienstag, 2. September 2025

Down Town heute

 Datum: den 20 augusti

Liebe Marlena
Na ja, wenn Odysseus einen Laptop gehabt hätte, wäre die Geschichte nicht halb so melodramatisch herausgekommen. Stelle Dir vor, wie die arme Penelope ihre Freier hingehalten hat, und das, obwohl sie nicht wusste, ob und wann er kommt. Es ist die ewige Geschichte der Hausfrau, die mit dem Nachtessen auf den Mann wartet, der einfach nicht von der Arbeit loskommt. Mit Laptop würde sie vielleicht doch herausbekommen, dass er drüben mit Circe in der Bar sitzt.
Ja, wir haben hier 6 Stunden Differenz. Aber mein Jetlag war eigentlich kaum spürbar. Man hatte mir gesagt, ich solle viel trinken. Und das tue ich unablässig, wenn ich hier bei meinen Bekannten bin. Und man soll am ersten Tag erst um Mitternacht ins Bett. Auch das habe ich getan. Wir haben gestern noch einen Spaziergang hier im East Village gemacht und die Bar besucht, die sie jeden Abend besuchen. Sie kennen dort viele Leute und bekommen die meisten Drinks gratis serviert, so dass sie bloss noch ein Trinkgeld bezahlen. Ich habe bis 24h durchgestanden, obwohl von der Air Condition her eine herbe Brise wehte. Und nachher hatte ich dann davon auch etwas Kopfweh. Aber die Müdigkeit war stärker.
Heute habe ich Down Town besucht. Das ist das Geldzentrum mit der Wallstreet, dem Ground Zero, dem Finance Center, also eigentlich der unterste Zipfel der Insel. Man sieht von dort schön auf die Freiheitsstatue, die nicht müde wird, ihr Corne mit Softice hoch zu halten. Ich bin mit der Ferry nach Staten Island hinüber gefahren, um von dort eine schöne Sicht auf Manhattan zu haben. Es war so, wie man es auf den Fotos sieht. Sie brauchen kaum zu retouchieren, es sieht bei Sonnenuntergang einfach grandios aus. Und als guter Katholik habe ich auch die Trinity Church besucht, die gleich neben Ground Zero liegt. Sie ist ein neugotisches Kirchlein, wo wir Europäer sofort uns zuhause fühlen. Und auch das Kirchlein ist wunderbar airconditioned. Und hinten, neben der Sakristei, gibt es auch Erfrischungsräume für uns Gläubige. Ich habe mich ins Gästebuch eingeschrieben. Hinten, in der letzten Rubrik, wo man eine Mitteilung eintragen konnte, kam ich ein bisschen in Verlegenheit. Und so dachte ich, es würde einen sehr guten Eindruck machen, wenn ein Schweizer aus der Schweiz "God save America" hinschreibt. Ich hoffe, die Amis werden mir das nicht vergessen!
Es ist ziemlich warm in der Stadt, weil auch die Luft feucht ist. Wenn ich Schweiss im Rücken spüre, dann suche ich eine von diesen riesigen Buchhandlungen. Sie sind nicht so kalt conditioned wie andere Räumlichkeiten, wahrscheinlich, weil sonst die Bücher schimmeln würden. Bei angenehmer Frühlingstemperatur lese ich dann ein oder zwei Kapitel aus Tolstois Krieg und Frieden. Dann bin ich wieder auf Normaltemperatur. Es ist wirklich sehr angenehm. Und sie haben riesige Ledersessel, dass man sich wie zuhause fühlt.
Im Finance Center habe ich einen Kaffee getrunken. Es gibt dort einen schönen Wintergarten mit 16 Palmen. Der Starbucks Kaffe wurde mir in einem XL/Becher gereicht, gut ein Viertel Liter. Und dann stülpen sie über den Becher so einen Deckel, damit man wie ein Baby daran saugen kann. In der Schweiz nennen wir sowas Schoppen. Ich musste das Gebräu allerdings in einem kleinen Laboratorium gleich neben der Theke noch nachkorrigieren. Dazu habe ich reichlich Zucker und Milch beigegeben.
Es gibt viele schöne Frauen in NY. Der Grossteil sind Latinas, also wohl von Mittel/ und Südamerika. Die Amerikanerinnen selbst sind nicht so besonders, meist unelegant und etwas massig. Aber ein paar sind dann, um den Durchschnitt zu heben, wirklich Klasse. Ich war abends noch rasch in den Central Park gefahren. Dort hat ein Zeichner mit Kohle eine junge Frau porträtiert. Und natürlich hat sich hinter seinem Rücken eine Traube gebildet. Ich glaube, es waren zwei Schwedinnen, die neben mir standen. Sie waren jung, hübsch und und unschuldig, also süss. Der Zeichner hat übrigens seine Kohle mit dem Pinsel aufgetragen. Ich glaube, er mischt Kohlestaub mit einer Flüssigkeit, vielleicht Terpentin. Und dann kann er damit arbeiten wie mit Schuhwichse. Er hat das Gesicht gut getroffen, nach meinem Geschmack einfach zu sehr sich mit kleinen Nuancen und Details beschäftigt. Aber die Leute mögen es ja, wenn das Bild fotoähnlich rauskommt.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, heute auch ab und zu ein bisschen zu zeichnen, oder skizzieren. Aber es gab soviel zu sehen, ich habe das schlicht vergessen. Und beim Sitzen war ich - wie gesagt - mit der Überdosis Kaffee beschäftigt.

East Village

Morgen will ich die Villages besuchen: Greenwich Village, Eastern Village, SoHo. Das ist alles hier in der Nähe und bildet den mittleren Teil Manhattans. Hier gibt es keine hohen Gebäude, sondern oft noch die alte Grundstruktur, also Backsteingebäude mit diesen Eisentreppen und Feuerleitern, wie man sie in den Filmen sieht. Übrigens erinnert mich die Strasse, in der ich wohne, an jene, die man gleich anfangs im Film Mrs Dalloway sieht. Und mein Gastgeber hat mir erzählt, dass diese 9th Street oft gesperrt bleibt, weil man Filme dreht. Die Polizei habe eine eigene Abteilung, die damit beschäftigt ist.
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Und Du bist bühnenhungrig, "schulgeil" würden wir hier - etwas grob - vielleicht sagen. Das zu hören hat mir gefallen. Das zeigt Deine Energie. Das ist "die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter", würde Handke es formulieren. Aber es ist doch gut, dass Du etwas zu tun hast, was Dich in Schuss hält, nicht wahr? Du bist ja doch eine Vollblutlehrerin. Ich glaube, Du gehst in Deinem Beruf sehr gut auf. Und das weisst Du auch, obwohl es - wie in jedem Job - einiges zu beklagen und zu bemängeln gibt.
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So ist das doch ein ziemlich ausführliches Mail geworden. Das hatte ich eigentlich nicht geplant. Aber meine Gastgeber sind auf Tour. Sie treffen sich mit ihren Freunden in den Bars. Und so sitze ich hier allein in Bs. Arbeitszimmer und trinke das Reservoir an Wasser im Kühlschrank leer.
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Ich wünsche Dir einen allerbesten Arbeitsanfang und eine gute Zeit.

Mit allerliebsten Grüssen aus der Ferne
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