Liebe Malou
---
Hier ist es deutlich wärmer geworden. Aber im Moment hat es angefangen, zu regnen. Ein echter Frühlingsregen, der dann alles ins Kraut schiessen lässt. Ich glaube, die Natur mag sowas. Die Natur lechzt nach solchen Drinks und Cocktails. Und ich hatte glücklicherweise einen kleinen Regenschirm bei mir, um die paar Schritte vom Bahnhof bis hier trockenen Hauptes zu bewältigen. Es ist schade, dass man als Erwachsener die Regengüsse nicht mehr so entgegennehmen kann, wie man dies in der Jugend tat. Dieses feuchtwarme Gefühl in den Kleidern, wenn alles nass war. Vielleicht das tropfende Gras in den Füssen, wenn man barfuss unterwegs war? Ach, damals waren wir noch irgendwie mit der Natur in Kontakt, und nicht wie heute, wo wir alle sozusagen hinter Cellophan leben. Ich habe das immer geliebt. Allerdings muss ich sagen, dass der Regen im Wallis doch eher eine Ausnahme war. Der Boden war meist trocken und - fast immer - ziemlich staubig.
---
Im Übrigen fühle ich die Frühjahrsmüdigkeit. Man sagt ja doch von den Staatsangestellten, die purzelten direkt aus dem Winterschlaf in die Frühjahrsmüdigkeit. Und ich glaube, ich tue das ganz besonders intensiv. Gestern bin ich auch nicht laufen gegangen. Wenn die Pollen in der Luft sind, tut mir das nicht sonderlich gut. Dann bleibe ich lieber in den eigenen vier Wänden. Ich habe in den letzten Tagen einen Roman von Genazino gelesen. Aber den fand ich äusserst fade und schal. Er handelt von einem alternden Typen mit zwei Freundinnen, der sich nicht entscheiden kann, welche von beiden er wirklich fallen lassen sollte, um sich bei der anderen fürs Alter einzunisten. Wirklich kein grosses Kunstwerk. Das erstaunt mich etwas, denn bisher habe ich Genazinos Texte meist geschätzt. Na ja, der Titel heisst auch "Liebesblödigkeit". Vielleicht ist der Titel die Entschuldigung für das Buch?
Und dann sollte ich ein paar Cartoons zeichnen für eine Kollegin. Sie sind daran, für eine Zeitschrift ein paar Artikel zum Thema Schulschwänzen (verstehtst du das Wort), dh. Absentismus zu schreiben. Und dazu wünschen sie sich ein paar Bilder. Ich habe mir die kleine Studie einer der Leute vorgenommen und angefangen, darin zu lesen. Aber es ist ein wenig kraftlos geschrieben. Immerhin versuche ich, zum Thema ein paar visuelle Ideen zu entwickeln. Ich habe beim Schuleschwänzen sogar eigene Erfahrungen. In der Primarschule habe ich ein oder zweimal Krankheit vorgeschützt. Ich glaube, ich habe sogar den Thermometer ein bisschen in die Höhe geschraubt. Aber damals in Visp haben wir gleich neben dem Schulhaus gewohnt. Und in der 10Uhr Pause bin ich natürlich oben am Fenster gestanden und habe diskret hinuntergeschaut. Ich musste doch beobachten, wie sich das alles ausmacht, wenn ich nicht dabei bin. Es ist ein herrliches Gefühl. Man fühlt sich - kann man sagen - ein bisschen wie ein Engel. Man sieht, wird aber selbst nicht gesehen. Das ist wirklich engelhaft und insgesamt eine erstklassige Unterhaltung.
Du siehst, ich bin wieder bei den Engeln. Wirklich schade, dass sie so aus der Mode gekommen sind. Ich finde es nützlich, zu glauben, man hätte einen Schutzengel wenigstens. Oder man kann glauben, dass ein persönlicher Engel stehts für mich unterwegs ist. Das ist doch ein prima Gefühl, nicht wahr. Und wenn man nur genügend daran glaubt, so werden sich die Dinge schon eher zum Guten wenden. Garantie!
MLG