Subject: Sonntagnachmittagsgeflüster ...
Liebste Marlena
Noch immer sitze ich hinter meiner Zeitung. Es ist empfindlich frisch geworden bei uns, und es weht ein kühler Wind. Aber der Himmel ist blau, hellblau, mit etwas verblasenen Wolken. Doch im übrigen ist jetzt jeder sicher, dass der Sommer vorbei ist. In dieser Zeit sehne ich mich am meisten nach dem Wallis.
Dort gibt es tagsüber noch viel Wärme, und es riecht nach Herbst und die Lärchen brillieren wie Gold in der Sonne. Ach, manchmal habe ich wirklich Heimweh nach diesen Bergen und vor allem natürlich nach den alten Orten. Aber es ist immer auch eine Sehnsucht nach der Jugend.
Ich war ja etwa 8 Jahre alt, als wir ins Wallis umzogen. Ich weiss noch ziemlich genau, es war um Weihnachten. Ich musste irgend ein kleines Weihnachtsgeschenklein früher beenden, weil es sonst nicht mehr gereicht hätte. Und die Lehrerin händigte es mir allein aus. Und dann fuhren wir mit dem Zug durch die Winterlandschaft und dann in diese hohen Berge hinein. Dort gab es mehr Schnee. Und in Visp, da hatte es echt hohe Schneehaufen auf den Gehsteigen und von den Dächern hingen die eiseren Zapfen. Die Häuser waren mächtig, mit schweren Platten bedeckt. Das wirkte auf mich immer italienisch. Und dann brachte uns der Vater zum ersten mal in die neue Schule. Ich war total enttäuscht. All diese Kinder waren in ein kleines Zimmerchen gezwängt. Bank stand neben Bank. Unter den Fenstern glühten die Öfen. Und der Peter W. blödelte mit Manuela H. herum. Und alle trugen diese Finken, die wir sonst nur zuhause, aber doch nicht in der Schule getragen hatten. Aber hier, auf diesem Parkett, konnten sie richtig gleiten in den Hausschuhen. Und die alte Lehrerin, sie war wirklich dünn und steinalt, hatte eine grosse Brille auf der Nase. Und wenn sie Geschichten erzählte und fast mehr in Begeisterung fiel, als wir es als Kinder konnten, dann blib an ihren Lippen die Spucke hängen und zog so Fäden. Und das störte mich sosehr, dass ich in den Geschichten gar nicht mehr richtig folgen konnte. Und in gewissen Stunden verschwanden die Buben unter den Bänken und gingen hinaus in den Gang, wo ein WC war, bloss um dort ein bisschen zu blödeln. Manchmal war praktisch die halbe Klasse, dh. Klassen 1 bis 4, weg. Und sie merkte es nicht. Sie war sosehr in ihren Unterricht vertieft, dass sie nicht merkte, wenn die Klasse auswanderte. Och, sie war keine schlechte Lehrerin. Aber sie war ein bisschen parteiisch. Und vor allem hatten wir einen Deutschen, der manchmal in Lederhosen kam, und so einen blonden Schnitt hatte, wie man die Haare einfach hier im Wallis nicht zu tragen hatte, und mit ihm war sie manchmal sehr hart und streng.
So hasste ich anfangs die Zeit im Wallis. Und ich schaute der Eisenbahn nach, die am gegenüberliegenden Berghang voranfuhr Richtung Bern und Zürich, also L letztlich. Und ich hasste die Schule, weil es keine anständigen Schulzimmer hatte und alle so zusammengepfercht in einem normalen Raum untergebracht waren. Und die katholischen Kinder, die in der öffentlichen Schule waren, warfen Steine nach uns, wohl weil wir für sie Heiden waren. Und im Winter hatte es stehts viel Schnee und er blieb lang bis weit über Ostern hinaus. Und dann wurde es nass und pflotschig. Und im Sommer war es heiss und windig, aber es gab nicht einmal ein Bad. Man konnte einfach nichts Vernünftiges tun, als an den hohen Bergen entlang zum Himmel hinaufschauen. Oben, an den Berghängen, hockten die weissen Wolken, die Schönwetterwolken. Und im Himmel gab es manchmal Militärflugzeuge, die sehr tief über Visp einen Bogen flogen, so dass es richtig donnerte, um dann in Raron zu landen. Dort gab es nämlich einen Militärflugplatz, den mein Onkel noch mitgeholfen hatte zu bauen. Er war als Ingenieur im Krieg dort tätig gewesen. Und manchmal fuhr ich später mit meinem Velo auf der Hauptstrasse die 6 oder 7 km hinunter nach Raron. Dort hatte ich einen Schulkameraden, dessen Vater einen grossen Bauernhof hatte. Und dort konnte ich sehen, wie man Kartoffeln erntete, und wie der Stier auf die Kuh steigt und wie junge Ferkel aussehen, und wie drüben, etwa in 200m Entfernung, diese Venoms und Vampires landeten und starteten und einen höllischen Lärm machten, so dass die Hühner ganz unruhig auf dem Hof herumgingen.
Aber es brauchte ziemlich viel Zeit, bis ich mich dort in Visp heimisch fühlte. Eigentlich war es dann erst, als ich ins Gymnasium kam und mit den einheimischen Jungen Kontakt hatte. Da fühlte ich mich erst richtig zuhause, als ich anfing, Fendant und Bier zu trinken und mich nach den Mädchen umschaute, die dort alle sehr brav, aber auch nicht so hässlich waren. Ach, vielleicht ist es doch eher das Heimweh nach der Jugend, und weniger nach Visp.
Wenn ich heute nach Visp gehe, dann finde ich das alles so eng und klein, und zwischen die Berge eingeklemmt. Und ich spaziere herum und es ist irgendwie frustrierend, weil ich das Gefühl habe, ich wäre hier zuhause, und doch ist mir alles fremd. Die Strassen sehen anders aus, neue Häuser, Fussgängerzonen, Unterführungen, Überbauungen. Sie haben alles neu gemacht, ohne mich auch nur zu fragen, ob ich einverstanden sei! Ach es ist kaum mehr auszuhalten! Es ist Visp und es ist doch nicht Visp.
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Wo bist Du aufgewachsen, Marlena. Das war in Uppsala, oder? Aber doch auch nicht Deine ganze Jugend? Es ist doch merkwürdig. Wenn man jung ist, denkt man, die Erwachsenen sind weit weg, sie haben keine Ahnung von der Jugend. Sie sind letztlich fremde Wesen. Und wenn man dann erwachsen ist, merkt man, wie nah einem die Jugend immer ist, und wie all diese Erinnerungen noch frisch sind und in uns weiterleben. Aber vielleicht haben wir diese Beziehung zur eigenen Jugend mehr, als sie frühere Generationen hatten?
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Ich wünsche Dir noch einen schönen Sonntag Abend. Ist es stiller geworden zwischen uns? Ich merke es nicht. Meine Gedanken kreisen immer noch um Dich, wie um einen "alten Turm" .. oder so ähnlich.
Ich küsse Dich, Marlena
Und ich wünsche Dir einen guten Wochenanfang
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PS Ich habe gestern schon ein Mail geschrieben, aber vielleicht an eine andere Adresse. Schau mal überall nach.