Montag, 31. Juli 2023

Hör mal zu ..

 meine kleine Patientin: Vor Jahren hatten wir ein Auto, das nicht mehr das neueste Modell war. Es war schon über 10 Jahre alt, hatte einen guten Motor und recht viel Platz. Eigentlich waren wir damit zufrieden. Zudem war dieser Audi silbergrau, was in jenen Tagen wirklich eine ziemlich aktuelle Farbe war. Dieser unser Audi hatte nur ein kleines Handicap. Wenn man den Zündschlüssel hineinsteckte und drehte, so gab es Zeiten, wo der Schlüssel klemmte. Irgend etwas im Schloss ragte dann so gegen den Schlüsselbart, dass man nicht drehen und den Motor starten konnte. Anfangs war das weiter nicht schlimm. Man drehte ein zweites oder ein drittes Mal und dann sprang der Motor an. Doch dieser Makel verschlimmerte immer mehr. Es konnte jetzt schon 3 oder gar 5 Minuten dauern, bis es gelang, den Schlüssel zu drehen. Schon wenn man in den Wagen stieg, spürte man einen leichten Ärger hochkommen, besonders wenn man in Eile war. Später ging es soweit, dass man vielleicht 10 Minuten mehr berechnete, weil jeder wusste, dass der Motor nicht sofort starten würde. Kurz und gut, es wurde immer schlimmer und ärgerlicher. Und ich ärgerte mich schon, wenn ich nur daran dachte, das Auto zu nehmen. Ich ärgerte mich sosehr, dass ich irgend einmal dachte, etwas dagegen unternehmen zu müssen. Den Schlüssel ölen? Ein neues Zündschloss?

Ein neues Auto?

Irgend einmal in der Not fing ich an, den Audi zu bitten, doch bitte so gut zu sein und anzuspringen. Ich begann vorsichtig, seine bisherigen guten Dienste und seine Zuverlässigkeit zu loben. Ich sprach mit ihm in beruhigenden und zärtlichen Worten. Und siehe da: der Motor sprang an. Irgendwie hatte ich die Seele meines Audis getroffen. Und fortan stellte ich mich von Anbeginn darauf ein, die alte Karre mit Respekt, mit Ehrfurcht und mit Liebe zu behandeln. Und jedesmal, wenn ich starten wollte, redete ich ihm zuerst gut zu. Und siehe da, der Motor sprang meist ziemlich rasch und zuverlässig an. Im Nu hatte dieser Audi seine schlimmsten Spleens und schlechten Launen verloren. Sicherlich, manchmal hatte er noch Mühe und zeigte einen Moment des Unwillens. Aber jeder konnte sehen, dass das nur ein Anflug war, wie man es bei pubertierenden Jugendlichen manchmal beobachtet, und dass sich dieser alte Audi wirklich Mühe gab und anzuspringen bereit war, wann immer ich es wollte. Es wurde eine ziemlich treue Kameradschaft, die wir zusammen hatten. Plötzlich hatte ich mich mit der Seele dieses alten und teilweise schon etwas rostigen Wagens verstanden. Und er fühlte sich – so muss ich annehmen – schlussendlich respektiert.

So haben wir es beständig mit den Seelen zu tun, mit den unseren und mit den anderen. Und manchmal fliessen sie ineinander und vollführen einen wahren Seelentanz.

Ich wünsche Dir gute Besserung und viel heissen Tee, und deinem lieben kleinen Manual einen herzlichen Dank.

Gruss ...

Sonntag, 30. Juli 2023

Sich kennenlernen ..

  



Subject: Wie schön!!
Date: Mon, 21 Feb 

Lieber ... !

Ich habe mir gerade ein paar Bilder von Visp angeschaut. Sehr schön! Fährst du noch manchmal dorthin?
Schicke dir als Kostbrobe 2 von den Bildern und die Adresse wo du deine Heimatstadt sehen kannst falls die Sehnsucht mal zu gross wird ;-)
Ich habe eine schwere Erkältung und kann nicht viel unternehmen im Augenblick. Deshalb habe ich mich noch mehr über dein gestriges Mail gefreut. Mit mails von dir wird mir die Zeit nie lang.. :-)
Ich werde dir später heute nochmals schreiben.
Bis dann liebe Grüsse
Marlena

Re: Vespia nobilis

Liebe Marlena
Du bist also in Visp gewesen? Ich bin wirklich erstaunt, was du mir hier alles zeigtst, Marlena. Visp ist eigentlich ein nicht zu grosser Ort. Aber wenn Schnee liegt, dann schaut es ganz sauber und ziemlich angenehm aus. In einem Bild siehst du weit hinauf ins Tal. Dort hinten, in der Ferne, am Fusse des schneebedeckten Berges, dort bin ich zur Schule gegangen. Und etwas rechts oben an den Hängen sind wir an den freien Mittwoch Nachmittagen Skilaufen gewesen, bei eben diesem Schönwetterhimmel, den du auf dem Foto siehst. Ich habe übrigens ein ganz ähnliches Foto in meinem Büro hängen, das ich einmal aus der Zeitung ausgeschnitten habe. Allerdings ist mein Heimweh heute nicht mehr so stark, und etwas allgemeinerer Art. Ich wünschte nicht mehr, in Visp zu leben. Ich glaube, es würde mich dort rasch und stark langweilen. Aber in einem allgemeineren Sinn zieht es mich ins Wallis, wegen der Landschaft allgemein, wegen der Leute, und wegen des Weines. Du siehst im Vordergrund die Rebberge von Visp. Dort wächst zwar kein Spitzenwein, aber immerhin Wein.


Du bist lieb, mir einen solchen heimatlichen Anblick zu ermöglichen. Die Wehmut, die mit diesen Bildern aufsteigt, hängt weniger an den Bildern selbst, als vielmehr an den Erinnerungen der Jugend, den Jugenderlebnissen, dem offenen jugendlichen Lebensgefühl, die so intensiv, überwältigend, weit und lang andauernd sind. Die engen und unangenehmen Erfahrungen, die Ängste und Sorgen, sie sind weggeschmolzen wie Schnee vom letzten Jahr. Wenn ich ab und zu in diesen Teil des Wallis zurückkehre, dann bin ich beleidigt, weil man überall neue Gebäude, Strassen und Mauern gebaut hat, ohne mich zu fragen. Ich fühle mich verletzt, weil man meinen Erinnerungen unrecht gibt. Wo ich doch felsenfest überzeugt bin, dass es anders gewesen war und immer noch anders sein müsste. An jeder Ecke beweist mir die Realität, dass ich mich irre, dass ich falsch habe. Und das schon in der Tatsache, dass alles viel kleiner ist, als ich es mir in der Erinnerung vorgestellt habe. Ach, ich kann die alten Leute verstehen, die unter uns leben, aber sich kaum mehr zuhause fühlen, weil sich in den 70 oder 80 Jahren ihres Lebens wirklich alles verändert hat. Gefühle sind sehr konservativ. Gefühle sind geradezu reaktionär.

Es ist wie in deiner wunderschönen Geschichte, wo die Schwarzen auf ihre Seelen warten. Die Seelen sind immer etwas hinterher, brauchen Zeit und trödeln in der Gegend herum. Ich habe diese Geschichte schon gehört oder darüber gelesen, aber ich habe sie mittlerweile wieder vergessen. Sie ist in der Tat gut, und als Psychologe sollte man sie nicht vergessen. Ich danke Dir dafür. Wenn man, auf dem Bild mit Blick ins Tal, wenn man hinten beim Schneeberg nach links weiter das Tal hinauffährt, so kommt man schliesslich in ein wunderschönes Hochtal. Es ist als Gebiet für den Langlauf (nordisches Skilaufen) bekannt und hat viele Loipen. Dort oben leben die Menschen ausschliesslich in Holzhäusern, die aus festen und dicken Stämmen gebaut sind. Und in alten Häusern gibt es unter der Decke der Stube einen kleinen Holzladen, den man öffnen kann und der ins Freie geht. Die Leute haben ihn geöffnet, wenn ein Familienmitglied gestorben ist. Dieser kleine Laden wird deshalb „Seelen-Laden" genannt. Er dient dazu, die Seele der Verstorbenen entwischen und zum Himmel aufsteigen zu lassen.

Ich erzähle dir auch eine kleine Geschichte, Marlena, die sich mir selbst zugetragen hat. Hör mal zu  ...

Sonntag, 23. Juli 2023

Ach, das war von Erich Kästner!

 

 


das junge Paar

Liebe Marlena

Ach, das war eine Geschichte von Erich Kästner! An ihn hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht. Kästner war nun ja in der Tat einer, der viele heimliche und unheimliche Geliebten hatte. Zu Kästner, respektive zu seinem Sohn, kann ich dir eine kleine Anekdote erzählen.
Wir waren vor etlichen Jahren zur Hochzeit von Stefan Kästner eingeladen. Seine Braut war die Tochter einer Freundin meiner Frau, und weil die Hochzeitsfeier in der Nähe von Zürich stattfand, luden sie uns dazu ein. Kästner selbst war ja nun schon lange tot. Aber seine Frau, respektive Freundin, also die Mutter des Bräutigams war natürlich zugegen. Wir haben dem jungen Paar damals ein Bild geschenkt, das ich selbst gemalt hatte. Ich glaube zwar nicht, dass sie dieses Bild heute noch in ihrer Wohnung hängen haben. Aber immerhin haben sie damals gute Miene zu diesem etwas subjektiven Geschenk gemacht. Nun hat S's Freundin, also die Brautmutter uns erzählt, wie die ganze Familie vor dem Hochzeitstag auf Nägeln gesessen ist und in Angst und Spannung der Dinge harrten, die da kommen sollten. Denn alle fürchteten, dass Stefan Kästner im letzten Moment einen Rückzug machen würde, weil er sich vor einer wirklichen Bindung fürchtete. Er hat es dann offensichtlich nicht getan und das Paar bezog dann eine gemeinsame Wohnung in München. Der junge Käster arbeitete dort damals als Pianist. Seine Frau war eine hübsche Jüdin mit schwarzen Haaren, dunkeln Augen und einem Teint. Der Bräutigam glich überigens seinem Vater ziemlich stark. Vor allem die starken Augenbrauen, wie ich fand, waren wie die seines berühmten Vaters. Und er war scheu und war auch etwas klein, wohl wie es sein Vater gewesen sein musste.
Erich Kästner, den ich im Übrigen sehr schätze, hatte nun bestimmt seine Probleme mit den Frauen. Es ist bekannt - und sicherlich weißt du das auch Marlena - dass er einen echten Mutterkomplex hatte. Man kann das ja in seinen Kinderbüchern nachlesen, wie der Mustersohn sich um seine tüchtige und sich aufopfernde Mutter bemüht. Kästners Mutter, das muss seine unheimliche Geliebte gewesen sein. Noch in fortgeschrittenem Alter hat er ihr täglich geschrieben, täglich, meine Liebe, und hat ihr seine schmutzige Wäsche geschickt und über all seine Liebschaften offenherzig erzählt. Er konnte wunderhübsche, charmante Briefe schreiben, unser Erich Kästner. Und so hat er sein Leben lang nicht geheiratet. Ich habe mal ein Büchlein rezensiert, in welchem seine Freundin Kästners Briefe an sie und ihren Sohn aus dem Tessin veröffentlicht hat. Kästner hatte Alkoholprobleme und war im Tessin zur Kur. Allerdings hat er sich dort regelmässig den Whisky im Teeglas servieren lassen.
Diese Briefe, so kann ich mich erinnern, waren sympathisch und lebendig, wie man sich Kästner nun mal vorstellt. Aber eines hat mich gestört. Er hat seiner Freundin und Mutter seines Sohnes immer wieder Geld geschickt in kleinsten Portionen und hat immer wieder von diesem Geld gesprochen. Das fand ich echt kleinbürgerlich und irgendwie knauserig. Er war doch damals kein armer Mann mehr! Aber sonst ist er schon ok, unser Kästner, ein grosser Humanist und ein guter Pädagoge.
Es gibt eine eindrückliche Stelle in seinem biographischen Buch "Als ich ein kleiner Junge war", wo er beschreibt, wie für ihn das Weihnachtsfest stets eine Marter war. Die Mutter hatte Geschenke für ihn und der Vater hatte Geschenke für ihn. Und er als sensibles Kind hatte den Hochseilakt zu bestehen, seine Dankbarkeit und seine Aufmerksamkeit auf beide Elternteile gleichmässig zu verteile, um nicht den einen vor dem anderen zu vernachlässigen. Er muss das gewesen sein, was wir in der Familientherapie ein drianguliertes Kind nennen, also ein Kind im Dreieck mit seinen Eltern, parentifiziert und schwer mit Erwachsenenproblemen belastet. Es gibt ja heute noch die Hypothese, dass er vielleicht ein unehelicher Sohn, das Kind mit dem Hausarzt der Familie, gewesen sein könnte, dass also sein Vater, ein einfacher Handwerker, nicht wirklich sein Vater gewesen wäre. Aber, das wollen wir diesem guten Erich Kästner lassen, er hat das beste daraus gemacht. Seine Jugendbücher sind heute noch wundervoll zu lesen. Kürzlich gab es eine Fernsehsendung, in der einige ehemalige Geliebte Kästners zu Wort kamen. Sie sind heute alle Damen in hohem Alter und sehen nicht mehr allzu blühend aus. Aber alle haben über ihn mit viel Respekt und Begeisterung gesprochen, keine schien mir irgendwie enttäuscht oder beleidigt gewesen zu sein. Er muss sie wirklich verwöhnt haben und muss ein charmanter Liebhaber gewesen sein. Er wäre darin wirklich ein gutes Vorbild für mich.
Dass sich also Kästner in seiner Geschichte als Künstler mit einer deutlich jüngeren Frau beschäftigt, ist durch sein Leben gut motiviert. Ich denke, die Frauen waren ihm insgesamt etwas unheimlich und überwältigend. Und so ein junges hübsches Fräulein war leichter zu "apprivoiser", zu einem Teil seiner selbst zu machen. Er gibt seinem schweigsamen Fräulein zum Schluss der Geschichte unendlich viel Macht. Je weniger sie sagt, desto mehr ist er ihr ausgeliefert und mit ihr verstrickt.
Was sagen denn deine Schüler zu dieser Geschichte? Was sagen die emanzipierten jungen Schwedinnen und jungen Schweden zu einer solch ungleichen Paarung? Man kann die "Szenen einer Ehe"(das ist der deutsche Titel von Bergmans Film) schon im voraus riechen, die aus dieser Paarung entstehen werden, nicht wahr?


Und die Moral der Geschichte? Soll ich mich hüten, mich in Zukunft zu sehr in Texten, Gedanken und Erzählungen zu verausgaben? Vielleicht muss ich mich mehr zurückhalten, mich mehr auf die Zeichnung konzentrieren, und die grossen Worte beiseite lassen. Doch irgend einmal wird die Zeichnung zu Ende sein. Und dann werden wir sie über dem Sofa aufhängen. Über welchem Sofa, das wird dann die grosse Frage sein!
Weißt du, warum ich Zeichnen und Malen sosehr mag? Weil man dabei einen sogenannten "Flow" erleben kann. Ich vergesse die Zeit, ich kann so vertieft sein in das, was ich tue, dass ich in einen paradiesischen Zustand gerate. Es ist wie eine Ekstase, ein Art von Somnambulismus, oder wie kann man das nennen? Das gelingt nachtürlich nicht jedesmal. Manchmal bin ich auch sehr unzufrieden und verärgert, wenn mir das Werk nicht gelingen will. Das geschieht vielleicht noch häufiger als dieser Flow. Doch letzeres ist eine Art Jungbrunnen. Du fühlst dich nachher so, wie du dich nach der Sauna fühlst, oder nach einem Autogenen Training oder einer Akupunktursitzung. Du fühlst die ganze Leichtigkeit des Seins.

 

"Das schweigsame Fräulein"

 

Subject: Nichts Persönliches - oder doch?

Lieber ... !
Ein bisschen Literatur für den Abend. Es ist ein Text den ich manchmal in der Schule verwende. Vielleicht gefällt er dir auch.
À bientôt
Marlena

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Das schweigsame Fräulein

Sie war sehr jung, sehr unerfahren und sehr wissbegierig. Er war genau so wissbegierig, nicht eben unerfahren und fast zwanzig Jahre älter. Trotzdem hätte er von ihr manches lernen können; denn sie war, wenn auch ein Mädchen, eine Frau, und er, wenn auch ein Mann, ein Kind. Aber sie kamen nicht auf diesen naheliegenden Gedanken. Oder scheuten sie sich darauf zu kommen?
In den Tagen, da sie ihn heimlich besuchte, damit er ihr schönes Gesicht wieder und wieder zeichne, um den Zauber ihrer Züge aufzuspüren, sagte er gelegentlich: "Sie dürfen getrost sprechen, während ich arbeite. Ich will sie ja nicht photographieren. Reden Sie getrost, mein Kind."
"Ich bin kein Kind", antwortete sie dann ruhig. Und so redete er statt ihrer, indes sein Blick gespannt zwischen dem Gesicht und dem Block hin- und herwanderte. Sie schwieg, schaute ihn unverwandt an und sagte nur manchmal: "Aha." Oder: "Ja, ja." Oder: "So, so."
*
"Lesen Sie zuweilen Liebesromane?" fragte er eines Tages. Und als sie, wie gewöhnlich, schwieg, fuhr er fort: "Lassen Sie's sein. Man kann nichts daraus lernen, mein Kind."
"Ich bin kein Kind", sagte sie ruhig.

"Nirgendwo", sagte er, "wird so viel niederträchtig geheuchelt, nirgends werden Wirklichkeit und Wahrheit so kaltblütig unterschlagen wie in den Liebesromanen. Wenn ein Schriftsteller beschreiben will, wie jemand jemanden umbringt, oder in kleine Stücke schneidet, oder sich selbst aufhängt, oder eine Stadt anzündet, oder ein Tier quält, sind seiner Genauigkeit keine Grenzen gesteckt. Niemand käme auf die Idee, ihm seine Gründlichkeit zu verübeln. Keine Behörde würde versuchen, sie ihm zu verbieten. Manche Romane sind wahre Handbücher für angehende Räuber und Mörder. Unterfängt sich aber ein Dichter, Dinge der Liebe zu schildern, die ja doch das grösste, wenn nicht das einzige Glück für uns Menschen bedeutet, ist er so gut wie verloren. Er täte besser, sich umzubringen, bevor es die anderen tun. Das Scheusslichste darf er entschleiern. Das Schönste mit Worten auch nur anzudeuten, ist ihm verwehrt. Es dennoch zu versuchen, wäre Todsünde. Die Grundlagen des Staates, der Kirche und der Gesellschaft würden sonst wanken. Und die Gebäude, die darauf errichtet worden sind, müssten einstürzen wie Kartenhäuser. Die Hüter der Konventionen zittern Tag und Nacht vor der elementaren Gewalt des Glücks und der Liebe."
Sie sah ihn unverwandt an und murmelte: "Aha."
*
"Im Grunde", sagte er ein andermal, "ist es zwei Menschen, die sich lieben oder sich doch zu lieben glauben, völlig unmöglich, einander wahrhaft nahezukommen. Vermutlich werden Sie diese Behauptung bezweifeln, mein Kind."
"Ich bin kein Kind", erwiderte sie sanft.

"Ein französischer Dichter unserer Tage", fuhr er fort, "hat die Unmöglichkeit, einander vollkommen zu begegnen, in einer recht düsteren Allegorie zu anschaulichen versucht. Jeder der beiden Liebenden, meint er, sei wie in einem groben Leinensack eingenäht, so dass er nichts sehen und sich kaum bewegen könne. In dieser betrüblichen Verfassung stünden sie sich nun gegenüber, spürten die beglückende Nähe des anderen, fühlten die Welle der ans schmerzliche grenzenden Zuneigung, sähen Dunkelheit, Leinwand rühre täppisch an Leinwand, unbeholfen und unzulänglich, und keiner der beiden wisse eigentlich, wer denn nun und wie in Wahrheit der andere sei.

- Der Vergleich klingt nicht sehr poetisch und nicht gerade tröstlich, aber ich befürchte, dass er zutrifft. Es heisst in der Bibel, dass schon Adam und Eva den Apfel vom Baume gepflückt und verzehrt hätten. Ich halte das für eine Falschmeldung. Man hat nur vergessen, sie zu dementieren. Er hängt noch immer hoch oben im Baum, der geheimnisvolle Apfel, und ist den Menschen ewig unerreichbar."
Sie schaute ihn unverwandt an und sagte leise: "So, so."

*
"Man verfällt nur allzu leicht - was man doch längst weiss, vergessend - der Meinung", sagte er eines schönen Nachmittags, "die hierzulande offizielle Ächtung der Liebe sei alt wie die Welt. Wie aber verhält es sich denn wirklich? Wurde die Liebe immer und wird sie etwa überall versteckt, als sei sie eine Sünde und Schande? Als gehöre sie ins Gefängnis, und man täte recht, von ihr zu schweigen wie von einer Verwandten, die silberne Löffel zu stehlen pflegt? Es war nicht immer so, das weiss jedes Kind."

"Ich bin kein Kind", antwortete sie ruhig.

"Es war nicht immer so", wiederholte er. "Denken Sie nur an die alten Griechen, die der leiblichen Schönheit in den Tempeln anbetend huldigten. Es war und ist nicht überall so. Denken Sie nur an die indischen Lehrbücher der Liebe. Und vergessen Sie nicht die natürliche, offenherzige Auffassung des Japaners, die er von Dingen und Vorgängen hat, die man im heutigen Abendlande in geradezu kindischer Manier totschweigt oder unappetitlich bekichert. Wie aber, frage ich, kann man denn aufrichtig vom seelischen, vom himmlischen Anteil der Liebe sprechen, wenn man die irdische Liebe verachtet, ächtet, und sich ihrer schämt? So wird nicht nur ein Teil, so wird das ganze zur Lüge."
Sie blickte ihn unverwandt an und sagte: "Ja, ja."

*
So und ähnlich redete er, während er sie immer und immer wieder zeichnete. Und so und ähnlich schwieg sie dazu. Bis dann jener Nachmittag nahte, da er, den Kopf schief haltend, die letzte Zeichnung prüfte, dem Blatt ein wenig zunickte und sagte:
"Besser kann ich's nicht, mein Kind."
Sie schwieg.

"Es wäre leichtfertig", fuhr er fort, "Sie weiterhin um Ihre Besuche zu bitten. Die Zeichnung ist, an meinem Talent gemessen, nicht übel. Wollen Sie sich das Blatt ansehen, mein Kind?"

Sie stand schweigend auf und trat hinter ihn.

Er räusperte sich. Dann fragte er: "Darf ich's Ihnen schenken - mein Kind?"

"Nein", sagte sie. "Wir hängen es dort drüben übers Sofa."


Er drehte sich erstaunt zu ihr um. Sie lächelte ein wenig, blickte sinnend von einem Fenster zum andern und meinte: "Neue Vorhänge sollten wir besorgen.

Wenn es - dir recht ist."

Er sah sie unverwandt an und murmelte, nach ihrer Hand greifend:

"Oh, ich Kind."

Samstag, 22. Juli 2023

Beim Umzug meiner Bücher ...



Subject: Kästner nochmals und viele Zitate



Liebe Marlena

Beim Umzug meiner Bücher habe ich ein paar Sachen gefunden, die ich kürzlich gesucht hatte. Beispielsweise das kleine Bändchen Erich Kästner "Briefe an die Doppelschätze".

In einem Hinweis steht zum Schluss: "Am 15. Dezember 1957 wurde Friedel Sieberts und Erich Kästners Sohn Thomas in München geboren. Im Januar 1962 muss Erich Kästner das Lungensanatorium in Agra aufsuchen. In den Jahren 1962 und 1963 entstand das Kinderbuch "Der kleine Mann", das die "Gute-Nacht-Geschichten" enthält, welche Erich Kästner seinem Sohn Thomas erzählt hatte. 1962-63 lebte Friedel Siebert mit Thomas in Küsnacht bei Zürich. Im Jahre 1963 erschien das Buch "Der kleine Mann". Im September 1963 kann Erich Kästner nach München zurückkehren, und im Januar 1964 zieht es auch Friedel Siebert mit ihrem Sohn dorthin. Vom Januar bis August 1964 kommt Erich Kästner zum zweitenmal nach Agra. Im Herbst 1964 zieht Friedel Siebert mit Thomas nach Berlin. Anfangts 1966 muss Erich Känstner noch einmal zur Kontrolle nach Agra. Ende April 1966 kehrt er nach München zurück."

Und als Einführung gibt es im Büchlein einen kleinen Kommentar von Horst Lemke. Ich glaube, das war der Illustrator seiner Bücher, nachdem der berühmte Walter Trier in der Hitler-Ära nach Kanada emigriert war, wo er genauso viel Erfolg hatte wie in Europa. Von dort illustrierte er noch einige Bücher für Kästner, das letzte war das Bilderbuch "Die Konferenz der Tiere". Dann starb er unerwartet. Lemke schreibt etwa über Kästner:

"Er liebte seine gewohnte Umgebung, sein Haus, seinen Platz am Fenster mit dem Blick in seinen Garten, die Schreibmaschine vor sich auf dem Fensterbrett, sein Café (ich glaube, es war das Café "Leopold"), in dem er jeden Tag zur gleichen Zeit erschien, um seine Korrespondenz zu diktieren, seine Taxifahrer, seine Nacht-Clubs."

"Kästner war ein stiller, ja ein schweigsamer Mensch, und es war nicht einfach, ihm näherzukommen oder gar seine Freundschaft zu gewinnen. Und je gefeierter er wurde und je mehr ihn Journalisten und durchreisende Bewunderer belästigten, desto zurückgezogener wurde er."

"Kästner fuhr nicht Auto, hat auch nie eines besessen, und als ich mir Sorgen machte, wie er zu unseren Treffpunkten kam, meinte er, ich solle mir mal keine Sorgen machen, bisher sei er immer noch dahin gekommen, wo er hinwollte. Und da er ein Gentleman war, immer sehr gepflegt angezogen und immer einen Homburg trug, und sehr grosszügig war, werden sich die Taxifahrer und Kellner von Lugano noch deutlich an ihn erinnern."

"Sein Café in Lugano, in dem er eigentlich jeden Tag erschien, las und schrieb, war merkwürdigerweise der Kursaal.

Merkwürdig, weil es ein besonders altmodisches Café war, im Stil der alten Grand-Hotels, mit einer grossen Terrasse und innen so gross wie eine besonders geräumige Bahnhofhalle. E.K. sass immer drinnen. Aber es hatte etwas von der alten Pracht der Côte d'Azur, wahrscheinlich liebte er das daran.

Den Kellnern war er in kürzester Frist vertraut, nicht nur wegen seiner Persönlichkeit, sondern auch wegen seiner fürstlichen Trinkgelder.

Ohne zu bestellen, wurde ihm ein Whisky im Teeglas serviert. Der Whisky war ihm wohl vom Doktor untersagt, aber er dachte gar nicht daran, von der liebgewordenen Gewohnheit abzugehen, genauso wenig wie er zu bewegen gewesen wäre, auf eine seiner starken Camel-Zigaretten zu verzichten".

"Wenige Jahre vorher hatte ihm seine Freundin einen Sohn geboren. Für ihn schrieb er dieses Buch, für ihn erfand er Mäxchen Pichelsteiner. Dass Mäxchen klein war, so klein sogar, dass er in einer Streichholzschachtel schlafen konnte, war auch kein Zufall: Kästner war auch klein, und er hat bei vielen Gelegenheiten betont, dass die meisten grossen Männer, Alexander der Grosse, Cäsar, Friedrich der Grosse, Napoleon, nur als Beispiele, klein von Statur waren."




"Unsere Treffen beendeten wir meistens in dem Café Ristorante San Gottardo, hundert Meter vor dem Sanatorium, das häuptsächlich von Patienten und Besuchern bevorzugt wurde. Dort war am Abend munteres Treiben, und es war schön mitanzusehen, wie beliebt Kästner bei allen Patienten war, trotz seiner stillen, zurückhaltenden Art. Und da waren sicher auch Leute darunter, die sonst nicht seine Kragenweite gewesen wären, aber er war zu allen freundlich. Und wenn er sich zu einem Gespräch nicht äussern wollte, pflegte er nur ein gedehntes "na - ja" zu sagen, und für ihn war der Fall erledigt, und er nahm noch einen kleinen Schluck aus der Whisky-Teetasse".

Soweit also Lemke, in seinem einführenden Kommentar. Und das ein Briefbeispiel Kästners vom 12. 4. 62 aus Agra:

"Meine Doppelschätze, mein Wiesengrund, verehrter Herr Napfkuchen (damit meint er spielerisch seien Sohn Thomas), liebe Frau Venusbruuust,

ich sitze beim Toni und denk an Euch. Und schreib ein paar Zeilen. Den Brief, mit einem Schein beschwert, werf ich dann am Nachmitag in den Briefkasten beim Vanini (Piazza di Riforma). Anschliessend spazier ich zu den Zitronenbäumchen im Kurpark. Dann setz ich mich in den Kursaal und mach Notizen, da stört mich die Kapelle überhaupt nicht. Na ja, und gegen 19h greif ich mir ein Taxi und rutsch wieder nach oben. Venedey ist noch krank. Stattdessen macht der Chefarzt, der "steile Erich", Visite, mit seinem vor lauter Hemmungen strengen Gesicht.

Heute war Badetag, und ich bin aufs zweckloseste sauber wie ein frisch ins Bett gebreitetes Frottiertuch.

Wenn ich mir die Notizen anschaue, die ich in den letzten Tagen gemacht habe, stell ich fest, dass man das nie im Leben drucken kann! Nun, ich mach sie trotzdem. In Stenografie. Zur Pflege des Gedächtnisses.

So. Jetzt hops ich auf den Balkon und spiele Liegekurfürst.

Viele Küsse

Euer Erich

Und Papa




Sonntag, 16. Juli 2023

"literarisches Kolloquium"


Lass mich dir auch ein Rilkegedicht zitieren, das mir sehr gefällt, weil ich dabei immer an meine beiden Töchter denken muss.
Es geht so:

Die Schwestern
Sieh, wie sie dieselben Möglichkeiten
Anders an sich tragen und verstehen,
so als sähe man verschiedne Zeiten
durch zwei gleiche Zimmer geh n.

Jede meint, die andere zu stützen,
während sie doch müde an ihr ruht;
und sie können nicht einander nützen,
denn sie legen Blut auf Blut,
wenn sie sich wie früher sanft berühren
und versuchen, die Allee entlang
sich geführt zu fühlen und zu führen:
Ach, sie haben nicht denselben Gang.

Dazu muss ich sagen: Das letzte Wort des ersten Abschnitts schreibe ich geh n, weil mein Schreibprogramm das Wort stets korrigiert und "gehen" daraus machen will. Diese Computerprogramme sind echt stur und naiv, muss ich schon sagen! Offensichtlich haben sie nie was von Poesie gehört!!!
"die Allee entlang sich geführt zu fühlen und zu führen", dieses feminine üüüüü finde ich so zart schwebend und fein, dass es mich rührt, zusammen mit diesem bei Rilke häufigen Bild der Allee, des Weges an sich. Und dann diesen Schlusssatz, der alles wieder öffnet. Wenn man schon meint, man hätte die Wahrnehmung der Geschwisterlichkeit erfasst, so ist doch plötzlich alles wieder offen und überraschend und das Leben bricht herein. Auch schön und festgefügt die Symmetrie der ersten und der letzten Zeile: Sieh, wie sie, .........Ach, sie haben .... Ich bin ja nun kein Literat und kann nicht erklären, was denn daran so genial ist. Es berührt mich einfach, und manchmal werde ich wirklich neidisch, wenn ich höre, wie er das sagen kann. Obwohl ich bei Rilke nicht wirklich höchst neidisch werde. Er ist dann doch etwas feminin. Aber beispielsweise bei John Updike er muss Holland stämmig sein, wie ich annehme, und litt früher sehr an Neurodermitis, wie ich in einem Interview gelesen habe) oder in jüngeren Jahren gelegentlich bei Günter Grass (unser neuer deutscher Nobelpreisträger) konnte mich der blanke Neid überfallen, weil ich einen Gedanken, eine Beobachtung mitsamt ihrer Formulierung einfach genial und einmalig und unwiederholbar fand. Updike ist ja nun wirklich ein begnadeter Erzähler mit einem Charme und einer Eloquenz, die man nur beneiden kann. Grass ist dagegen etwas gröber und eckiger, ...

Damit muss ich nun unser literarisches Kolloquium definitiv beenden. Es ist schon spät, aber nicht abends, wie bei dir meist, sondern morgens, und die Arbeit wartet ungeduldig auf mich.
Ich wünsche Dir alles Schöne, meine liebe Marlena
Gruss ...

Samstag, 8. Juli 2023

Stille

 



Foto: Chris



Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.

Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen—:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.


(Rilke)

.

Freitag, 7. Juli 2023

Rat an die Götter

(R)  

...

Also, ich bin sehr freidenkerisch, ungefähr so wie Rilke, schätze einen tüchtigen Engel oder einen Gott, um mit ihm zu rechten. Ich sage immer, die Götter sollen diese Differenzen und Unterschiede in ihren Doktrinen selbst und unter sich ausmachen. Ist doch nicht das Problem der Menschen, oder?

Wenn die Götter Konkurrenzprobleme haben, sagen wir Allah und der liebe Gott und Jehova, oder wie er heissen mag, so bitte, sollen sie sich in Ruhe zusammensetzen und die Sache gütlich regeln. Sie könnten beispielsweise eine rotierende Präsidentschaft einrichten. Oder sie könnten mit Konsens entscheiden.

Aber was rede ich da den Göttern hinein? Die Kerle dort oben können das selbst wissen, sonst sollen sie ihre Frauen fragen!


Re: 

.. und mein Rat an die Menschen:

Benehmt euch so, dass ihr die Bezeichnung Mensch verdient!

/M

 

Mittwoch, 5. Juli 2023

Professor Oggier. Eine Berufsstudie.

 ...

Heute nachmittag habe ich mich an meinen Franz-Lehrer im Gymnasium erinnert. Ich sende dir den Text. Ist sozusagen eine Berufsstudie. Prof. Oggier ging die Kunde voraus, dass er eigentlich in seiner Jugend einmal hätte Priester werden wollen. Er war schon im Priesterseminar und es kursierte irgendwo ein Foto, wo man den jungen Oggier in der Sutane sehen konnte, mit einem noch etwas jugendlichen und fleischigen, aber doch auch grüblerischen Gesicht.

Es war etwa im 4. Jahr, dass wir Oggier für Französisch hatten. Also in der Grammatik, so hiess die Klasse. Er pflegte in einem dunkeln Anzug daherzukommen. Und in den letzten Jahren trug er auch eine grosse, schwarze Sonnenbrille. Wir dachten immer, dass er damit einen Scherz treiben wolle. Und weil er, wenn er mit seiner Mappe daherkam, etwas steif ging und den Kopf nicht links und nicht rechts drehte, so sah er aus wie ein Maffia Boss. Unter jungeren Schülern erregte das einen gewissen Respekt, eine Art Ehrfurcht, wenn nicht fast Angst, weil man bei Oggier, wenn er daherkam in seinen etwas kurzen Schritten, weil man nie genau wusste, wohin er blickte. Man wusste nicht, zu welchem Zeitpunkt man wirklich grüssen sollte. Und es gab die Anweisung, dass man die Lehrer grüssen musste. Man sollte sogar die Studentenmütze vom Kopf ziehen. Aber da wir diese ohnehin nie trugen, erüberigte sich diese noble Geste. Schaute er jetzt schon oder schaute er noch nicht? Es gab immer dieses Moment der Unsicherheit. Und ich für mich war sicher, dass Oggier dies ganz bewusst und willentlich so einsetzte. Ich glaube nicht, dass er diese Brille seinen Augen zuliebe auf die Nase setzte. Er brauchte sie bloss, um uns Schüler zu beeindrucken.

Denn er setzte durchaus auf Eindruck. Die Stunden mit ihm waren fantastisch unterhaltsam. Er kam in eiligem Schritt herein. Meist riss er die Türe richtiggehend auf, dass man erschrecken konnte. Ich glaube, er wollte schockieren. Dann zückte er sein Buch und machte eine sogenannte Blitzprobe. Das hiess, er fragte aus der letzten Lektion vielleicht 6 Wörter oder Begriffe oder französische Redensweisen, die wir behandelt hatten. Wir mussten sie aufschreiben und den kleinen Zettel mit Datum und Name sofort abgeben. Dann stand er am Pult und korrigierte in Windeseile diese kleinen zerknitterten Zettel. Für 6 richtige Lösungen gab es eine 6. Für 5 eine 5. Und so weiter. Ich war sehr oft ungenügend, weil ich diese Französischlektionen nicht konsequent vorbereitete. Und Oggier pickte wirklich die Schwierigkeiten aus dem Buch, er wählte nicht einfach irgendwelche Fragen, die man ohnehin oder zufällig vielleicht beantworten konnte. Man musste lernen, wenn man hier eine 6 zu erreichen die Absicht hatte. Andererseits wusste jeder von uns Gymnasiasten, dass er diese Noten nicht fürs Zeugnis zählte. Also, was sollte es? Wie oft hat er mich abschätzig angeschaut, weil ich eine ungenügende Note hatte!!!

Und dann folgte der Unterricht. Er nahm die nächste Lektion gemäss Buch in Angriff. Meist beinhaltete dies eine Regel, eine grammatikalische Form oder so etwas. Und in dieser Phase seiner Lehrätigkeit war Oggier Spitze. Um uns diese Regel so anschaulich wie möglich zu machen, hatte er eine kleine Geschichte, einen Sketch oder auch bloss einen Dialog erfunden. Den spielte er uns jetzt vor, indem er sich richtig rührte und bewegte und heftig gestikulierte, fast wie auf einer Bühne. Er hatte echt schauspielerische Qualitäten. Und es war sehr vergnüglich, ihm zuzuschauen, er hatte - was im Unterricht sonst selten ist - 100% Einschaltquoten. Und die Quintessenz seiner Bühnendarstellung war dann dieser Satz, der die behandelte Regel erfüllte, dieser alles illustrierende, vor allem die Regel illustrierende Satz. Dieses Satzbeispiel konnte man beim besten Willen nicht mehr vergessen, weil man sonst das ganze Theater rundum auch hätte vergessen müssen. Und das war schlechterdings unmöglich. So hämmerte uns Oggier die Französische Grammatik mit seiner Schauspielerei in unsere zerstreuten Köpfe ein. Ich habe ihn oft bewundert, ob seiner Originalität und auch ob seiner Energie, die er darauf verwendet hat.

Einmal hatte ich mit Oggier einen Riesenkrach. Das kam so. Unser schauspielerischer Professor war wütend, ob unserer schlechten Leistungen in einem seiner Blitztests. Und so entschloss er sich, uns die Noten, die wir am Schluss des Semesters zu erwarten hätten, uns diese Noten coram publicam sozusagen vorzulesen. Und er begann gleich mit Ammann, der nun wirklich der schlechteste Schüler in Französisch war, der arme Kerl, der, obwohl er gleich neben der Sprachgrenze wohnte, seine Zunge einfach nicht nach diesem fremdländischen Muster biegen liess. Oggier kramte also seine Zettel hervor und wollte Noten vorlesen. Da habe ich protestiert und habe ihm gesagt, uns würden die Noten der Mitschüler absolut nicht interessieren. Noten seien jedermanns persönliche Sache. Da stieg Oggiers Blutpegel langsam, er holte Luft, sein Hals wurde dicker und dicker, die breite Stirn immer röter und dann schrie er mich an, dass ich es wage ..., und ich hätte auch schlechte Noten ..., und ich sollte bloss nicht meinen ...., und überhaupt. Ich erschrak zu Tode, denn ich hatte nicht gedacht, dass meine kleine Intervention ein solches Spektakel abwerfen würde. Und nun stieg meinerseits der Blutpegel und ich merkte wie ich heisser und heisser und röter und röter wurde. Ich weiss nicht mehr, wie lange dieser Blitzkrieg dauerte. Auf jeden Fall kam er nie mehr auf seine Noten zurück. Andererseits nahm ich es ihm nicht übel, dass er mich vor der Klasse solcherart angeschrieen hatte. Und wir lebten friedlich nebeneinander weiter. Ich grüsste ihn immer höflich hinter seiner Mafia-Brille und er grüsste mich zurück. Und man wird es glauben oder nicht. Bei der Französisch-Abiturprüfung hatte Oggier zufällig Aufsicht. Er wanderte unruhig im Zimmer auf und ab. Und drei oder vier mal hielt er hinter meinem Rücken und zeigte stumm und ohne dass ich ihn ansehen konnte da und dort auf einen Fehler, den ich in meinem Text hatte. Er half mir ein bisschen vorwärts, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hätte mein Abitur auch ohne Oggier bestanden, aber immerhin, er meinte es gut mit mir.

Ja, er war eine merkwürdige Gestalt, dieser Professor Oggier. Viele zogen ihn bei Diskussionen heran als Musterbeispiel und legendige Verwirklichung eines echten Neurotikers. Doch andererseits war er in Sprachen sehr begabt, und in Brig, wenn immer jemand eine italienische oder eine französische Rede zu halten hatte, holte sich seinen Rat bei Heinrich Oggier. Er hatte manche dieser Reden selbst geschrieben, aber sie wurden dann von anderen gehalten. Und später hatte ich irgend einmal herausgefunden, dass er als Sternzeichen den Skorpion hatte. Behüte Gott, ein Skorpion!

Du siehst, die Skorpione.

Dienstag, 4. Juli 2023

Mailpartner?

Liebe Marlena

Mit einem lieben Gruss von deinem Mailpartner

(klingt wie eine offizielle Funktionsbeschreibung zuhanden der Steuerbehörde.
Hat mich sehr erstaunt, deine Anrede! Wie bist du dazu gekommen?)
...


Mailpartner???

Lieber ... !
Was ist eigentlich falsch an dem Wort "Mailpartner"? Klingt es als eine zu nahe Relation dieses Wort Partner? Im Snail-mail hätten wir vielleicht Brieffreund gesagt :-) Aber du hast Recht: "lieber Brieffreund" wäre auch etwas komisch gewesen. Sorry!

Keine Angst, ..., ich verstehe Spass. Du spielst mit Worten und Gedanken und ich freue mich darüber und lache herzlich. Nur muss ich sagen wenn du mich so "weiterbaust" wie du es im Moment tust dann kannst du mich bald in einem Museum ausstellen. ;-)

Ich bin doch ein moderner Mensch und kümmere mich eigentlich sehr wenig um Vorschriften und Regel die mir nicht gefallen. Gewiss, meine Erziehung war eher altertümlich aber von Verwöhnen war nie die Rede. Aber du hast Recht. Meine Tante wollte sicher eine kleine Prinzessin aus mir machen und war mächtig stolz wenn sich Leute umdrehten und das süsse Kind kommentierten. Trotz dieser Erziehung und vielleicht gerade deswegen mache ich heute meist was mir selbst passt und gefällt. Ich verstosse gern gegen Vorschriften. Das schlimmste von allem ist wohl dass ich sogar ...

Wir beiden, du und ich, hätten uns natürlich in einem französischen Salon kennenlernen müssen und nicht im Swisstalk (wie schrecklich eigentlich!!??) aber ich protestiere wild wenn du deine Mails als "Hamburger mit Ketchup und Zwiebeln" vergleichst. Nein, das sind sie auf keinen Fall. Trotz des Mediums (PC) sind es köstliche Mahlzeiten mit einem ausgezeichneten Wein dazu und sie werden in Ruhe an einem schönen Ort genossen. Immer gibt es auch ein leckeres süsses Dessert das den Genuss noch erhöht ..

Ob das Mailen kultiviert ist oder nicht, darüber möchte ich kaum diskutieren. Es liegt eben in der Zeit und ist sehr bequem und zeitsparend. Dagegen bin ich ziemlich überzeugt davon dass es lebensgefährlich ist ... ;-)

Ich muss wieder an die Arbeit gehen. Man verlangt dass ich eine Budgetprognose für die nächsten drei Jahre morgen bereit habe. Voriges mal hat meine Schätzung (48.000 Kr./Jahr) ganz gut gestimmt aber mit dem neuen Gymnasium das diesen Herbst startet wissen wir noch nicht wie viele Schüler das Fach Deutsch wählen werden und deswegen ist es eben eine richtige Sisyphusarbeit.

Ob es den Handkuss bei uns noch gibt? Im Bekanntschaftskreis meiner Eltern gab es noch Männer die ihn ausübten (aber immer mit einem kleinen schelmischen Lächeln auf den Lippen). Ältere vornehme Damen küssen sich manchmal bei der Begrüssung auf die Wangen (sie machen es eben den Franzosen nach) das ist nämlich schick.. Sonst gibt man sich die Hand oder sagt nur "hej".

Und wie soll ich mich nun von dir verabschieden? So wie es sich gehört? Oder so wie ich es lieber tun möchte? Ich überlasse es dir :-)

Lass bald wieder von dir hören (ich werde langsam mailsüchtig)
Marlena

Sonntag, 2. Juli 2023

Re: Fragmente.. :-)


Liebe Marlena
Das war ein wunderhübscher Brief am 2.2., „Fragment“ genannt. Ich sage mit Absicht Brief und nicht Mail. Mails sind anders. Würdest Du diesen Unterschied auch unterschreiben? Mails sind etwas kurz angebunden, tendieren zum Slang, zum raschen Sprung, zur direkten Rede, zu Abbreviaturen.
Aber ein Brief nimmt sich Zeit, ist vielleicht manchmal etwas umständlicher, erzählt in grösseren Kreisen. Briefe sind gewissermassen heute etwas altmodisch geworden. Das 19. Jahrhundert war die Zeit des Briefes, die Zeit der Erforschung des eigenen Selbst. Es gab sogar einige Romane in Briefform damals. Wenn ich mich nicht irre, war Goethes Werther einer der ersten. Also Deines war ein Brief, mit der Ruhe eines Briefes und der Atmosphäre eines Briefes. Ich danke Dir dafür, Marlena.
Richtig, ich bin im Wallis aufgewachsen. Wie Du diesen Namen hinschreibst, macht mich glauben, Du weißt, was das Wallis ist. Nun muss ich Dir sagen, dass ich etwa 9 Jahre alt war, als unsere Familie ins Wallis zog. Ich war in der 2. Klasse der Grundschule. Ich kann mich noch bestens erinnern. Meine Familie ist protestantisch, und das Wallis ist nun ein sehr katholischer Kanton, einer der konservativsten. Wenn man die Schweiz mit Frankreich vergleicht, so wäre das Wallis die Provence. (was die Religion gerade betrifft, hinkt der Vergleich mit Frankreich.) Also, das Wallis ist erzkonservativ, erzgebirgig und hat einen äusserst eigenartigen Dialekt. Eigentlich hat jedes Seitental des grossen Tales der Rhone einen eigenen Dialekt (und der untere Teil ist französisch sprechend, wie Du wahrscheinlich weißt). Wenn ich einen Walliser höre, kann ich ziemlich genau sagen, aus welchem Tal er kommt. Hier also bin ich ab meinem 9. Lebensjahr aufgewachsen.
Das war anfangs ziemlich schwer, denn wir Protestanten, alles Kinder von Chemikern und Akademikern in der grossen Firma (Lonza), wir hatten eine eigene kleine Schule. Und so waren wir den einheimischen Kindern fremd und sie waren misstrauisch, weil wir besser gekleidet waren und uns freier bewegten. Erst ins Gymnasium gingen wir dann zusammen mit den Jungen aus dieser Gegend. Das war natürlich ein katholisches Gymnasium, damals noch sehr streng und ohne Mädchen. Meine Schulkollegen im Internat klagten jede Menge über Essen und Schlafen und Langeweile und Heimweh. Und in der ersten Zeit hatten sie noch die Pflicht, jeden Morgen zur Messe zu gehen. Und wir paar „Ungläubigen“ benutzten das bisschen Zeit, die Lateinvokabeln zu üben oder die Mathematik Aufgaben in Windeseile zu kopieren.
Wenn ich den Unterschied zwischen katholisch und protestantisch hier betone, so meint das nicht, dass ich sehr religiös bin. Meine Frau kommt aus dem Islam. Sie ist auch nicht religikös in dem Sinne. Wir können doch bei dieser Kulturgrenze, die bei uns mitten „durch Tisch und Bett“ (wie die Juristen sagen) geht, nicht auch noch Religionskriege brauchen. Also, ich bin sehr freidenkerisch, ungefähr so wie Rilke, schötze einen tüchtigen Engel oder einen Gott, um mit ihm zu rechten. Ich sage immer, die Götter sollen diese Differenzen und Unterschiede in ihren Doktrinen selbst und unter sich ausmachen. Ist doch nicht das Problem der Menschen, oder? Wenn die Götter Konkurrenzprobleme haben, sagen wir Allah und der liebe Gott und Jehova, oder wie er heissen mag, so bitte, sollen sie sich in Ruhe zusammensetzen und die Sache gütlich regeln. Sie könnten beispielsweise eine rotierende Präsidentschaft einrichten. Oder sie könnten mit Konsens entscheiden. Aber was rede ich da den Göttern hinein? Die Kerle dort oben können das selbst wissen, sonst sollen sie ihre Frauen fragen!
Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei meiner Gymnasialzeit und dem Wallis! Ich habe also in der Provence der Schweiz gelebt, mit einer provenzalischen Sprache, die sich gewaschen hat. Viele Schweizer haben damals die Sprache des Wallis nicht verstanden. Heute hat sie sich durch die Mobilität und den Tourismus natürlich etwas assimiliert und ist nicht mehr so extrem. Aber immer noch kann ich hier in Basel vor Leuten Heiterkeitserfolge feiern und Applaus bekommen, wenn ich eine kleine Sage oder eine Anekdote in Walliserdeutsch erzähle.
Wir haben im grossen Rhonetal gelebt. Da waren die Winter nicht gar so lange wie oben in den Bergen. Das Haupttal hat ein sehr südliches Klima, hat viele Rebberge (und damit natürlich eine grosse Weinkultur), viel Sonne und sehr warme Sommermonate, meist mit einem angenehmen Wind. Die Walliser sind südliche Typen, mit Herzenswärme und einer hitzigen Streitlust, wenn es sein muss. Das war es wohl auch, was Rilke hier geschätzt hat, obwohl er wohl mit den Einheimischen kaum Kontakt gehabt hat. Er hat ja ständig Briefe an irgendwelche adelige Freundinnen geschrieben, an die Gräfin Thurn und Taxis, in deren Schloss von Duino er eine zeitlang war. Das Wallis hat eine südliche, sagen wir provenzalische Landschaft, die Rilke an Südfrankreich oder an Spanien erinnert hat. Es gibt in der Nähe Muzot einen grossen und wilden Wald, der – so haben die Forscher festgestellt – eine Vegetation zeigt, wie man sie sonst nur in Regionen viel weiter südlich findet. Die Walliser, das sind meine Brüder sozusagen, mit denen ich aufgewachsen bin. Wenn ich Dir von ihnen erzähle, dann kommt mir – angesichts der Parallele mit Frankreich – Cézanne in den Sinn. Weißt Du, welch Hitzkopf  C. war? Er war auch solch ein provenzalischer Typ, verbohrt und eigensinnig. Und von Cézanne gäbe es ja dann auch wieder eine Linie zu Rilke. Alle Wege führen nach R-om (-ilke). Ich bin dann erst endgültig aus dem Wallis weggezogen, als ich in Zürich die Universität besucht habe. Auch meine Eltern leben heute nicht mehr dort. Ich habe kaum mehr viel Kontakt. Aber einige meiner alten Freunde sehe ich gelegentlich. Und, wie gesagt, mein Bruder lebt immer noch im Wallis. Und manchmal beneide ich ihn darum. Das Wallis ist heute gute zwei Autostunden von hier. Das ist nicht alle Welt, gut erreichbar für ein Wochenende. Früher hatte ich mit der Eisenbahn fast 4 Stunden Reise, um übers Wochenende mit der Bahn heimzukommen.
Schön, wie Deine Freundin sich gemeldet hat. Es ist gut, ein paar gute Freunde rundum zu wissen. Aber die heutige Welt ist so, dass wir nicht mehr erwarten können, sie würden gleich um die Ecke wohnen. Heute wohnen sie etwas entfernter, wenn überhaupt im selben Land, manchmal auf einem anderen Erdteil. Aber dazu haben wir heute Internet und diese neue Mail-Kultur. Was Deine Freundin betrifft, so nehme ich die Konkurrenz (ich würde vorziehen, von Nachbarschaft zu sprechen – aber du hast das ja auch nicht so ernst gemeint, nicht wahr?) gerne an. Ich bin nun ja kein Schriftsteller. Und was meinen Roman betrifft, so warte ich einfach auf den Plot, den du mir zuschicken wirst. Aber ich bin sicher, du wirst mir mal eine ihrer Kurzgeschichten ins Deutsche übersetzen. Natürlich eine, worin man auch Dich verewigt findet.
Ich muss hier auch etwas unvermittelt aufhören, obwohl ich noch stundenlang dahinplaudern könnte. Nochmals Marlena, ich danke Dir herzlich für Deinen Brief. Ich fühle mich eigentlich als Glückspilz, in diesem unendlich weiten und unendlich kalten und nebeligen  Norden gerade Dich gefunden zu haben, der mir dort oben ein Licht zündet und die Lebenskultur näher bringt.
Was Dein Privatleben, Deinen Mann und die Familie betrifft, liebe Marlena, so erzähle nur, was Du wirklich mitteilen willst, auch wenn ich danach frage. Ich will diese Sphäre respektieren, soweit Du das wünschst. Ich glaube, Du weißt schon, was ich meine.
Mit einem lieben Gruss ..

...

Fragmente

 

Subject: Fragmente.. :-)

Lieber   !
Du hättest meine erstaunte Miene sehen sollen und meine Freude als ich dein Mail entdeckte. Aber du darfst nicht übertreiben wenn du mein Deutsch lobst denn so gut wie du glaubst ist es nicht. Ich verstehe zwar sehr gut aber kann mich nicht so ausdrücken wie ich es eigentlich möchte.

Von Rilke sind mir vor allem die Gedichte in Erinnerung geblieben und ich trage sie wie kostbare Juwelen in meinem Inneren. Wir werden sicher wieder auf ihn zurückkommen Ich habe mir übrigens im Internet seinen Grabstein und die Kirche von der du sprichst angeschaut. In Gedanken konnte ich vor mir sehen wie du dich dort als Student amüsiert hast. Ist es nicht komisch dass solche Erlebnisse aus unserer Jugend so stark in uns weiterleben.

Du bist also aus dem Wallis. Ich glaube das ist einer der schönsten Kantone in der Schweiz.. Aber immer lange Winter, oder? Dann müsstest du wohl eigentlich an Kälte gewöhnt sein. Wenn du in Stockholm Schnee gesehen hast dann hattest du Glück denn an Schnee hat es uns dieses Jahr wirklich gefehlt. Heute war es ganz weiss draussen und noch dazu blauer Himmel. An solchen Tagen braucht man nicht viel mehr um glücklich zu sein.

In deinem Mail hast du so viele Fragen gestellt dass ich ich nicht weiss wo ich anfangen soll. Aber einige kann ich schnell beantworten. Ich war also etwas mehr als zwei Jahre im Ausland. Später einmal werde ich dir ausführlicher davon erzählen.

Allein leben = trendy? Ja, viele meiner Kollegen finden es sehr "modern" und interessant dass wir uns nur am Wochenende treffen. Und alle machen sich falsche Vorstellungen davon und sind sogar neidisch. Junggeselle und verheiratet zugleich muss doch das Paradies auf Erden sein, meinen sie. Nun, allein bin ich ja eigentlich nie denn Anna wohnt bei mir, aber es ist wie du sagst kein normales Familienleben. Vielleicht erzähle ich dir einmal mehr davon..

Nein, im Winter spiele ich nicht Tennis. Nicht einmal besonders oft im Sommer.. obwohl es immer grossen Spass macht wenn ich dazu komme. In den Ferien bin ich am liebsten am Meer oder an einem See. Ein paar Wochen verbringen wir immer oben im Norden wo wir unser Sommerhaus haben. Es liegt 70 km nördlich von Luleå an einem Strom. Werde dir mal ein Bild davon schicken auf dem du sehen kannst wie schön es ist.

Vor einer Stunde hat mich meine beste Freundin angerufen (sie arbeitet auch als Journalistin und Studienrätin). Leider ist sie mit ihrer Familie vor ein paar Jahren nach Südschweden gezogen. Nun wollte sie mir mitteilen dass ihr Mann endlich wieder Internet zu Hause installiert hat und so habe ich ihr sofort eine Hotmail-adresse gemacht damit sie eine eigene hat. Manchmal wenn sie was für Zeitungen schreibt ruft sie an und liest es mir zuerst vor.. was mich natürlich sehr stolz macht. Sie schreibt auch ab und zu Kurzgeschichten und es kommt vor dass sie Dinge aus meinem Leben verwendet. Aber sie fragt mich zuerst ob sie das tun darf. Du bekommst also ein wenig Konkurrenz jetzt ;-)

Meine Hobbies? In meiner Freizeit bin ich am liebsten in der Natur. Hier gibt es Wald ganz in der Nähe. Ich singe und höre sehr gern Musik. Lese auch gern, aber dazu fehlt mir heute oft die Zeit. Und wie alle Frauen liebe ich es mein Heim schön zu machen mit allem was dazu gehört. Gartenarbeit macht mir auch Spass obwohl mein Mann der eigentliche "Gärtner" von uns ist. Wir haben liebe Nachbarn (sind auch Freunde und Kollegen von mir).Sie sind Volkstänzer und im Sommer wenn ausländische Volkstanzgruppen zu Besuch kommen helfe ich ihnen dolmetschen. Das ist immer sehr nett und interessant.

Mein Gott, ich habe die Zeit vergessen :-) Du bekommst eben dieses mal ein zwar langes aber doch halbes Mail.

Gute Nacht (oder guten Morgen)
wünscht dir
Marlena



Tema: Bücher

 Liebe Marlena

Da sieht man nun, Du kennst die romantischen Gedichte der deutschen Literatur besser als ich. Habe ich nicht mehr gewusst, dass es von Hesse ist. Und auch nicht, dass es so triste endet. Hingegen war Hesse doch kein Kind von Traurigkeit. Er hat später im Tessin gelebt und es gibt viele Fotos, worauf man ihn mit kurzgeschnittenen Haaren und runder Biedermeier Brille sehen kann. Er sieht da keineswegs traurig aus. So muss die Einsamkeit wohl mehr am Nebel als am Menschen liegen. Was weiss man schon so genau?

*

Ich habe mich hier noch ein wenig überschüttet mit Aufgaben. Neben meiner kleinen Bücherliste, die ich mir für den Iran vorgenommen habe, bin ich gestern noch in der Basler Bibliothek gewesen und habe mir 45 (fünfundvierzig) Bücher zur Rezension geholt. Richtig, das ist gigantesk, wie Du letztes mal sagtest, so dass ich schmunzeln musste. Aber ich nehme mir für diese gigantische Aufgabe Zeit bis in den Herbst. Es gibt sonst offensichtlich niemanden, der dort soviele Bücher bespricht. Und der verantwortliche Bibliothekar und sein Chef geben mir überall kleine Privilegien und machen Ausnahmen, um mir entgegenzukommen. Dieses Mal habe ich eigentlich noch Gaarders "Maya" zuhause, dessen Rezension ich noch nicht gemacht habe. Und im Grunde dürfte man erst neue Bücher holen, wenn man die alten vollständig erledigt hat. Ach, die Maya ist ein wenig dick, und nach dreimaligem Anlauf bin ich nicht über die ersten 20 Seiten hinausgekommen. Nun ja, es ist für sie auch sehr oekonomisch, wie ich es mache. Ich habe schon Rezensenten und -innen gesehen, die haben 2 oder 3 Stunden in der Bibliothek gesucht und herumgeschnüffelt, um dann zwei oder drei Büchlein mitzunehmen. Ich schau mir bloss die Titel an, die Bilder, den Verlag, kurz den Beschrieb auf dem Deckel. Dann nehme ich oder lasse es sein. Ich glaube, die erste Vorentscheidung fällt mit den Bildern, mit dem auf dem Deckel oder wenn es denn gibt, mit jenen im Buch. Manchmal sieht man, dass das Buch sehr modern und unkonventionell gemacht ist, schon den Bildern an. Solche Exemplare nehme ich gerne. Aber es gibt auch konventionelle, etwa die Bücher Kästners mit den Illustrationen von Trier, die nehme ich auch. Das sind die Klassiker. Und wenn man sie verschenkt, gibt es selten das Risiko, daneben zu greifen.

*

Letzte Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Um 3h bin ich wieder aufgestanden und habe in Schwanitz gelesen. Aber diesmal im anderen Schwanitz, mit dem Titel "Bildung".



Er spricht dort über die Bedeutung der Sprache für die Bildung, über das metaphorische Verhältnis von Inhalt und Form in der Sprache der Dichtung, über die Logik der Sprache und also über die Unmöglichkeit, am Fernsehen Bildung zu kriegen. Er hat eine gute pragmatische Denkart, und, wie mir scheint, den Mut zum Angriff auf Taboos. Sowohl in "Männer" wie in "Bildung" hat er einige Fragen aufgegriffen, die man sonst lieber im Nebel stehen lässt. Doch für einen Abiturienten ist das zweite Buch (eigentlich als ersteres, vor "Männer" erschienen) sicherlich hilfreich, weil es diese mit grossen und idealistischen Worten gekrönte Aura Bildung auf den Boden herunter zieht. Es sieht zum Schluss wirklich alles recht einfach und machbar aus. Kurz und gut, ich möchte Dir dieses zweite Buch auch noch gerne für die Ferien aufdrehen. Aber soweit kann man denn wohl nicht gehen, ohne den Anstand zu verlieren.

Gruss

...



Samstag, 1. Juli 2023

Olten und Romantik

 

Liebe Marlena

(...)

Heute bin ich unterwegs. Morgens in Basel, nachmittags in Olten, jener kleinen Stadt, wo ich früher einmal für 5 Jahre gelebt habe. Olten ist der Verkehrsknotenpunkt der Schweiz. Hier kreuzen sich eisenbahnmässig die Achsen Basel - Chiasso und Genf - Romanshorn. Mit andern Worten Nord-Süd und Ost-West. Früher, als die Leute noch mit der Bahn reisten, wusste jeder, dass er früher oder später den grossen Oltner Bahnhof durchqueren würde. Natürlich mit einem Halt, zum Umsteigen. Jeder kannte also die Ortschaft, aber keiner war wirklich je in der kleinen Stadt gewesen. Und dabei ist es eine recht lebendige Stadt mit einer sehr hübschen Altstadt direkt am Fluss, mit einer romantischen alten und gedeckten Holzbrücke. Mein Büro war auch direkt an diesem Fluss, wunderschön gelegen.



Nur dass Olten im Winter jeweils etwas nebelig war. S mochte das gar nicht. Ich fand es hingegen phänomenal, bei dichtem Nebel durch die Strassen zu gehen. Alles erscheint dann so nah und intim, es ergibt ein merkwürdiges Gefühl. Sicherlich gibt es darüber einige romantische Gedichte. Eines, so erinnere ich mich, beginnt wie: "Seltsam, im Nebel zu wandern ...". Gerade gestern habe ich im Gestell ein Büchlein gefunden mit Gedichten deutscher Romantik. Doch ich habe dieses eine Gedicht nicht gefunden. Vielleicht handelt es ja auch nicht hauptsächlich vom Nebel, diesem diffusen und höchst beliebten Szenenbild der Romantik, sondern von Naturerlebnissen oder Sonnenaufgängen oder geheimer Liebe, wie sie die Romantik ja auch nicht verachtet hat.

Erst in den letzten Jahren habe ich entdeckt, wie wichtig die Romantik noch für unsere Tage ist. Sie hatte wirklich einen nachhaltigen Einfluss auf unser Denken und Fühlen. Die Gedichte wirken heute, neben ihrer Süsslichkeit und ihrem Pathos, etwas ekstatisch. Das Romantische ist eine "Gemütserregungskunst", hat Novalis gesagt. Und das kennst Du ja bestens, Marlena. Nun ja, über Romantik muss ich Dir wirklich kaum etwas erzählen.

Ich wünsche Dir einen schönen Tag.

Mit einem lieben Gruss  ...


Re:

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Ja, das schöne kleine Gedicht von Hesse habe ich noch in guter Erinnerung. Es hat mir auch sehr gefallen. Aber es ist ein trauriges Gedicht. Es endet mit den Worten:

Seltsam im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
jeder ist allein.


Alltag

 


Lieber ..,

Faul und spannungslos, so mag ich dich vielleicht am besten. Und dein "schlappes kleines mail", wie du es nennst, hat mir ein wenig extra Wärme geschenkt in diesem immer noch ausgekühlten Haus. Die Heizung ist nur provisorisch gerichtet und hat noch nicht ihre volle Kapazität aber morgen werden Teile davon ersetzt. Dann werde ich mich wieder wohl fühlen wie eine Katze in der Ofenecke.

Es ist herrlich so frei zu sein wie jetzt und auch ich nehme die Tage wie sie kommen. Heute abend habe ich im Fernsehen etwas aus der Schweiz gesehen. Einen Dokumentarfilm mit dem Namen "Bollywood in der Schweiz". Vielleicht kennst du ihn schon. Er handelt von indischen Filmmachern die die Schweiz entdeckt haben für ihre schönen Liebesszenen. Seitdem sie nicht mehr in der Gegend von Kashmir filmen können haben sie in den Alpen eine ähnliche Natur gefunden.. Ich habe sehr aufmerksam hingeschaut um nicht ein einziges Stück von deinem schönen Land zu verpassen. Die Schweiz ist laut diesen Programms das beliebteste Reiseziel der Inder geworden. Alle wollen die Stellen sehen wo die schönen Szenen gedreht worden sind. Arme Schweiz!!! Aber die betroffenen scheinen nicht allzu traurig darüber zu sein denn es bringt viel Geld ein. Und der Buschauffeur aus Zweisimmen, der sie ursprünglich in seinem Bus herumtransportiert hat und ihnen ein wenig zurecht geholfen hat, besitzt nun ein ganzes Unternehmen das nur dazu da ist den indischen Filmherren alle ihre Wünsche zu erfüllen. Und sie haben unendlich viele.. nur eben bei 14 Tagen ohne Regen.. da muss er sich auf Gott verlassen. In einer kurzen Szene hat man auch gesehen wie es zu Konflikten kommen kann mit den Bauern wenn die Leute des Filmteams ihren Besitz unerlaubt betreten. Na ja, das ist etwas milde ausgedrückt denn eigentlich kommen sie mir vor wie ein Schwarm Heuschrecken.... 

Es hat mich auch daran erinnert dass man bei euch nicht unser "allemansrätt" (Recht zum Gemeingebrauch) habt. Hier kannst du dich überall frei bewegen so lange du nichts zerstörst.

 *

Es ist bereits nach 23.00 Uhr und ich werde noch ein wenig lesen vor dem Einschlafen. Und an einen Mann denken in Pantoffeln und Morgenrock.. :-) Aber vielleicht schläfst du schon süss.

Tschüss bis morgen