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Stell Dir vor, Malou, da kommt mir eine barbarische
Weihnachtsgeschichte in den Sinn. Es war in der 4.
Primarklasse, würde ich sagen. Ich hatte eben die Rolle
als Joseph im Weihnachtsspiel erhalten und wusste noch
nicht recht, ob das eine Auszeichnung oder eine Strafe
sein sollte. So nebenbei hatte ich mitbekommen, dass ein
dünnes und langes blondes Mädchen Maria spielen sollte.
Aber ich habe nicht erkannt, was das wirklich bedeuten
sollte. Erst um 12 Uhr, als wir über den Schulhof nach
Hause zum Mittagessen schlenderten, versuchten andere
Schüler mich (oder vielleicht uns) zu necken, weil wir doch
nun Maria und Joseph, also ein Paar wären. Das war mir
nun aber absolut peinlich, gegen meinen Willen verheiratet
zu sein. Und demonstrativ stiess ich die arme Maria von
mir, so dass sie gegen einen Zaun taumelte. Sie war sehr
betrübt, weinte, wenn ich mich recht erinnere.
Doch ich erinnere mich ebenso, dass sie nicht aus körper-
lichem Schmerz weinte,sondern wegen des Unrechts, das
ihr geschehen war. Ich glaube, sie war sehr verwirrt, dass
ich so reagiert hatte. In meinem Kopf wollte ich keine
Maria an meiner Seite und ich hatte sie nicht gewählt.
Aber ebenso war es auch nicht sie gewesen, die diese
Konstellation geschaffen hatte. Das empfand sie wohl
als brutale Ungerechtigkeit. Und recht hatte sie damit.
Wir haben dann, so muss ich annehmen, unseren Part im
Weihnachtsspiel sehr unterkühlt und distanziert gespielt.
Ich weiss noch, wie ich in der Kirche mit dem langen Bart
in der Gegend herumgestanden habe, und wie der Lehrer
der Oberstufenschüler mir deswegen zugezwinkert hatte.
Aber ich war mir dessen kaum bewusst, dass ich einen
solchen langen weissen Bart trug, und ich hatte wohl auch
keinen Gedanken an meine Maria verschwendet.
Ich glaube, sie musste eine Gummipuppe im Arm wiegen,
eine Puppe, wie sie auch meine Schwester besass, mit
einem kleinen Mundloch, so dass man ihr erst die Flasche
geben konnte, um ihr nachher die nassen Windeln zu
wechseln zu können. Mädchen fanden das damals herrlich.
Mit einem solchen kleinen Ding und einem blauen
Überwurf musste Maria mitten in der Kirche sitzen
und mit langsamen Bewegungen zeigen, dass diese
Gummipuppe sozusagen heilig war.
Nicht alles, aber diese kleine Drink- und Piss- Puppe
fand ich echt dämlich. Ich konnte mir schlichtweg nicht
vorstellen, dass das Jesuskind das Getrunkene ohne
irgend eine Zutat in die Hosen laufen liess. Ich meine,
wie kann man sich bei einem heiligen Menschen so was
Tierisches vorstellen? Das war doch irgendwie widerlich.
Auch bei einem Jesus.
Aber ich glaube, wir haben die Szene dann irgendwie hinter
uns gebracht. Ich hatte nicht viel zu sagen, ein oder zwei
Sätze, entäuschend wenig, angesichts des langen Bartes,
der mir beinahe bis zu den Schuhen reichte. So kam es,
dass die Gruppe mit den Blockflöten anfing, Stille Nacht
zu pipsen. Und so konnte ich wenigstens diesen pissenden
Jesus etwas vergessen.
Soweit meine Joseph-Rolle. Überigens hatte ich immer
gewusst, dass dieses Jesus- Puppen- Kind nicht von mir
stammen konnte. Damit hatte ich einfach nichts gemein.
Und dass der liebe Gott seine Hand im Spiel gehabt hatte,
das wollte mir weder die Maria noch meine Lehrerin sagen.
Sie haben mir das Wichtigste einfach verschwiegen, Malou!
Ich bin praktisch hintergangen worden! Man hat mir ein
pissendes Kind untergeschoben. Wenn Du weißt, was
ich meine.
*
Nun bin ich etwas vom Thema abgekommen. Das Thema
war
Gewalt unter Jugendlichen. ...
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