Montag, 30. Januar 2023

"Ein Mausleben" - real life?

(R)




Mein lieber Mausfreund!

Vielleicht wartest du auf ein langes Mail von mir und weisst nicht dass ich mich schon seit Stunden mit dir unterhalte in meinen Gedanken. Ich spreche mit dir, erzähle dir alles Mögliche, stelle dir Fragen (die man nur einem Mausfreund stellen kann) und nun endlich sehe ich ein, dass du davon nichts wissen kannst wenn ich mich nicht wirklich an den PC setze. Diese kleine Geste aus dem realen Leben braucht es doch um ein Mausleben führen zu können.
Ein Gedicht von Rilke ist mir heute öfters in den Sinn gekommen. Ich erinnerte mich nur an einige Strofen und natürlich an den Rythmus, der es irgendwie atemlos und dramatisch macht. Nach einigem Suchen habe ich es wiedergefunden. Es ist sehr schön und doch musste ich plötzlich lachen als ich dachte was du wohl denken würdest wenn ich es dir schicke. "Brich mir die Arme ab.." Ich will ja schliesslich nicht dass du mich verstümmelst .. ;-)

Aber abgesehen davon ist das Gedicht sehr schön:

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füsse kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.


*
Es ist bald Abend. Anna hat heute den ganzen Tag Generalprobe gehabt und jetzt ist sie bei der ersten Vorstellung des Musicals in dem sie Klavier spielt im Orchester. K sieht sich Pferderennen an und ich wollte eigentlich (das Los der Frauen) einen Haufen Wäsche bügeln. Zum Glück gibt es einen Mausfreund damit ich es noch etwas hinausschieben kann.
Deine Mails sind so schön! Ich kann nicht genug kriegen davon. Immer wieder suche ich nach neuen Mails von dir. Manchmal komme ich mir vor wie eine Harroinsüchtige die fiebrig auf die nächste Droge wartet. Ich weiss, du hattest mich gewarnt..
*
Es ist erstaunlich welche Macht Wörter haben. So bin ich dir z.B. dankbar dass du das Wort "Mausfreund/in" erfunden hast. Ein Mausleben kann doch nichts anderes als schön, leicht und unkompliziert und erlaubt sein.. Es ist wie ein Lieblingsbuch auf dem Nachttisch. Man kann hineinschlüpfen und den Alltag für eine Weile vergessen. Man kann ein Kapitel darin lesen und nachher gestärkt in das "real-life" zurückkehren. Ist es so für dich?

(Oder ist mein "real-life" das Buch, in dem ich ab und zu ein Kapitel lesen muss? Sicher wird dich diese Frage provozieren und du wirst mir eine strenge Rede halten :-)
Aber sag mir. Was ist mein wahres Leben? Wenn ich z.B. wäsche bügle und dabei in Gedanken mit dir die Champs-Elysées runtergehe, wer könnte dann behaupten mein Leben sei langweilig? Welche von den beiden Aktivitäten gilt?
*
Es ist inzwischen Abend geworden. Anna ist wieder zu Hause von dem Musical. Es war wieder ein grosser Erfolg. Morgen werden noch zwei Vorstellungen gegeben.
K spielt seine Musik (im Moment solche die du nicht magst). Sie gefällt mir, aber sie passt nicht zu meiner Stimmung und ich kann mich nicht dagegen abschirmen denn es gibt keine Tür zu schliessen. Das "Allrum" ist nur durch eine Treppe mit der unteren Etage verbunden. Ich liebe solche offene Planlösungen aber es hat nicht nur Vorteile. :-)
*
Sonntag Morgen.
Ich war gerade im ST und habe ein kleines Mess von dir gefunden. Genau eine halbe Stunde nach dir. Dabei erinnerte ich mich dass du ja jetzt deinen Laptop zu Hause hast und vielleicht ein Mail von mir erwartest.
So schicke ich diese erste Hälfte (?) meines Mails jetzt schon ab.
Fortsetzung folgt..
Liebe sonnige Grüsse
Marlena

2 KOMMENTARE:

  1. ... ein wundervolles Mausleben...ich lese, vertiefe mich darin, finde Parallelen, lächel und habe auch Tränen in den Augen... und ich staune...

    Du Liebe, geht es dir gut? Ganz sicher!!!!

    Eine gute Zeit wünscht dir
    herzlichst, Edith

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Edith,
    Ganz herzlichen Dank für deine lieben Worte.
    Ich wollte eigentlich nur ein wenig mein Deutsch üben, und bin unversehens in dieses wundervolle Mausleben hineingerutscht.

    Auch dir wünsche ich eine gute Zeit.
    Von Herzen
    Malou

Dienstag, 10. Januar 2023

Sufismus

 

Liebe Marlena

Sufismus ist sozusagen die innere Dimension des Islam, eine - oder besser - viele mystische Strömungen, wie sie sie auch im Christentum gibt. Der Sufismus hat viele Fazetten und stellt sich poetischdar in Hafis Versen als blühender Garten, duftende Rosen, klagende Nachtigallen, Symbole der göttlichen Schönheit und Sehnsucht der Seele, die sich in trunkender Gottesliebe wiegt. Europa hat die Sufis, oder Derwische, wie die Perser sie gerne nennen, um 1800 entdeckt. Damals sind sie ihnen vor allem aufgefallen als seltsame Gestalten, oft unter Drogen und im Herzensgebet. Sie schienen in Opposition zum Scharia-gebundenen Islam. Aber im Grunde kommt der Sufismus aus dem Islam und ist an ihn gebunden. Ein Sufi ist der einsame Meister ebenso wie der begnadete Lehrer, die simple Seele, der geschulte Denker oder gottestrunkene Sänger. Jeder kann ein Sufi sein.

"Der Sufi ist jemand, der nicht ist", ist offenbar ein altes Zitat. Es spielt an auf die totale Hingabe an Gott. Meister Eckhart, der europäische Mystiker hat auch von "entwerden" gesprochen, vom aufgehen im göttlichen Wesen wie der Tropfen im Ozean. Die Sufis wollen nicht intellektuelles Wissen, sie warnen immer wieder vom Buchwissen, sondern sie streben nach existenzieller Erfahrung. In den Büchern suchen sie "das Weisse zwischen den Zeilen" zu lesen (was wir eigentlich alle tun; heisst ja 'intellegere'). Russi sagt: Sufi ist "Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt".

Na ja, in Europa sagt man, Philosophie sei, sterben zu lernen. Das ist ja wohl nicht so weit davon entfernt.

Gruss an meine Sufia

....



Donnerstag, 5. Januar 2023

"... wie in alten Briefen"

 


Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.


Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.


Rainer Maria Rilke  (1875-1926)

Aus: Das Stundenbuch / Buch vom Mönchischen Leben (1899)