Lieber ...,
---
Ach nein, du langweilst
mich doch nicht. Im Gegenteil. Ich finde es interessant, was du mir von
Petrarca erzählst. Ich bin dann auch zu unserem alten Lexikon gegangen
und habe nachgesehen, was sie über P schreiben. Und wenn ich dieses alte
Buch konsultiere dann glaube ich zu verstehen was du meinst. Denn
obwohl das Buch so spät wie 1915 geschrieben ist, so überrascht es mich
immer, wie anders man damals mit den Worten umging. Alles scheint so
ganz konkret und ohne Verstellung geschrieben. Man nennt Dinge bei ihrem
richtigen Namen. Heutzutage muss man den geheimen Code kennen um die
wirkliche Bedeutung eines Textes verstehen zu können.
Ich lese u.a.
”Nach dem Vorbild von Cicero und Seneca hob er das Briefschreiben zu
einer wirklichen Kunst; man schätzte sich glücklich Briefe von ihm zu
erhalten ...” Ich glaube du bist ein moderner Petrarca. Weisst du
übrigens, dass P. und sein Bruder beide geistliche waren. Aber das war
zu einer Zeit, wo man als Geistlicher keineswegs auf weltlichen Genuss
verzichten musste.
Nein, mein lieber Maufreund, ich habe nichts
dagegen, dass du mich ins späte Mittelalter zurückführst und mit P
bekannt machst. Ich verstehe deine Begeisterung.
(---)
Es
gibt übrigens eine deutsche Übersetzung von Petrarcas Gedichten an Laura. Aber sie soll nicht besonders gelungen sein. Ich wäre bereit Italienisch zu lernen nur um sie im Orginal lesen zu können. So sage ich
auch manchmal meinen Schülern: der äusserste Sinn des Sprachenlernens
ist, dass man Poesi in der Originalsprache lesen kann. Andere Dinge kann
man meistens gut in Übersetzungen lesen.
Ich grüsse dich lieb und wünsche dir einen schönen Wochenanfang.
Marlena
Sonntag, 22. November 2020
Ach nein ...
Petrarca
Liebe Marlena
Ja,
diese Biographie über Petrarca ist interessant. Ich hatte wirklich
nicht allzu viel über ihn gehört bisher. Ps Bruder war Geistlicher.
Petrarca selbst war eigentlich Jurist, hat aber sein Studium, das er in
Monpellier angefangen und in Bologna fortgesetzt hat, nicht beendet.
Durch den frühen Tod seines Vaters sind die beiden Brüder dann reich
geworden. Und so konnte Petrarca sich dieser Briefschreiberei widmen.
Er war oft Berater von hohen geistlichen Würdenträgern und hatte
freundschaftliche Beziehungen zu vielen grossen Leuten in Europa. Und
Cicero ist wirklich eines seiner grossen Vorbilder.
Am
interessantesten finde ich die Änderungen seines Weltbildes vor dem
Hintergrund jenes Dantes, wie er es in der Divina Commedia dargestellt
hat. Beide, Petrarca und Dante, waren von ihrer Abstammung her
Florentiner. Und beide lebten im Exil sozusagen. P hat immer wieder
gegen dieses Avignon gewettert und alle seine Bemühungen in den Versuch
gesteckt, einflussreiche Männer zu gewinnen, damit die Kurie der
katholischen Kirche zurück nach Rom gehe.In seinem Herzen lebte er für
Rom. Gegenüber Dantes vertikalem Weltbild, das durch die Perspektive
der göttlichen Allmacht gesehen ist, gibt sich Petrarcas Weltbild
horizontal. Es ist wie eine Landschaft, in der man dahinpilgert, und
immer neue und verschiedene Erfahrungen macht. Das Wesentliche ist in
Petrarcas Welt die Vielheit, gegenüber jener der Einheit bei Dante. Die
vielen neuen Erfahrungen, die neuen Dinge, die im Horizont auftauchen,
zeigen eine Art Unübersichtlichkeit, wie wir sie heute wieder
konstatieren. Individuelle Perspektivität ist das neue Charakteristikum
der Weltsicht. Und das ist nun wirklich sehr modern.
Donnerstag, 19. November 2020
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ..
(Rilke)
Dienstag, 17. November 2020
Sonntagabend
(R)
Lieber ...,
Es
ist ein kühler Morgen. Ein dichter Nebel gibt mir den Eindruck auf
einer Insel zu sein. Es wird ein schöner Tag werden. Das Licht deutet es
an.
(---)
Nun
ist K wieder abgereist und ich werde mich eine Weile mit Vorbereitungen
für Morgen beschäftigen. Ich muss lachen, wenn du von einem ”alten
General” sprichst. Wenn er wenigstens alt wäre. Aber er ist jünger als
ich und wie du sagst, sehr unerfahren in der Pädagogik was ihn auch zu
einer leichten Beute aller Bluffer macht. Mehrere Kollegen haben schon
diese Befürchtungen geäussert wenn sie sehen von welchen Leuten er sich
beeinflussen lässt. Aber man weiss ja nicht was er im Inneren denkt,
obwohl er schon ein paar Mal Ideen hervorgebracht hat, die uns den Atem
stocken liessen. Du brauchst mich also nicht um meinen Chef zu beneiden.
Dagegen würde ich Dir so liebe Kollegen wünschen wie ich sie in meiner
Nähe habe. Wir verstehen uns und leiden zusammen. Vielleicht ist deshalb
unser Umgang so fröhlich und lustvoll.. weil wir ganz einfach dem
Schweren etwas entgegensetzen müssen.
Jetzt
beginne ich langsam eine Erleichterung zu spüren in meiner Arbeit. Die
kommende Woche sind 2 von meinen Klassen auf ”Pryo” (Berufsorientierung) und ich werde die freie Zeit benutzen um ein wenig
Ordnung in unserer Institution zu schaffen und natürlich auch hier zu
Hause.. à la Feng Shui.. ;-)))
Ach,
chéri, ich muss lachen über deine wilden Vermutungen. Wenn ich eine
Leidenschaft finde dann werde ich Dir gern darüber berichten. Erzählst
du mir von deiner???
Nein, weisst du, ich suche nichts Aufregendes mehr im Leben.. ich wünsche mir Stille und Harmonie.. aber...
als ich gestern nach ein paar Gedichten von Paul Celan suchte (er ist im Moment auf der Tapete, wie wir sagen) fand ich ein anderes kleines Gedicht von einer mir unbekannten Dichterin.
---
O sag es meinen Augen nicht,
Dass du sie suchst - sonst könnt es sein,
Indes der Herbst schon Kränze flicht,
Bräch’ einmal noch der Lenz herein!
O sag es meinen Träumen nicht,
Dass du sie kennst - sonst könnt es sein,
Nach allem lächelnden Verzicht
Käm einmal noch des Wunsches Pein!
O sag es meinem Herzen nicht,
Dass du mich liebst - sonst könnt es sein,
Ich liess noch spät im Abendlicht
Des Glückes ganze Torheit ein!
Gisela von Berger
---
Freitag, 13. November 2020
Manganelli - Menschen?
Liebe Marlena
Lass mich dir noch eine kleine Geschichte zitieren. Sie hat mit dem
Vorhergehenden nichts zu tun. Sie stammt von einem Italiener. Ich gebe
dir hier die biographischen Daten: Giorgio Manganelli, der zu den
bedeutendsten zeitgenössischen Autoren der italienischen Literatur
zählt, wurde 1922 in Mailand geboren. Er studierte englische Litertur
und lebte in Rom, wo er 1990 starb. Die "Irrläufe" sind das heiterste
und charakteristischste Buch Manganellis. Hundert höchst unterhaltsame
Mini-Romane erzählen von Mord und Totschlag, Liebe und Eifersucht, Lug
und Trug - so wie es sich für Romane gehört.
In einer Art künstlerischem Zirkus wird mit hunderterlei
Darstellungsweisen jongliert, und selbstverständlich ist das auftretende
Personal recht unterschiedlich: Damen und Herren, Drachen und
Dinosaurier, Himmelskörper und Astrologen, schwarze Schwäne und
Architekten, Gespenster, Schatten und Schreie. Manganelli hat ein
unbegrenztes Reich möglicher Kombinationen geschaffen. Schon eine
"Pille" genügt, den Leser in den Rausch der fortspinnenden Phantasie zu
versetzen.
Geschichte 53: Es handelt sich nicht um einen eigentlich menschlichen Ort
- in dem Sinne, dass seine Bewohner keine menschlichen Wesen sind und
von Menschenwesen nur unbestimmte, durch alte Fabulisten überlieferte
oder von Kaufleuten, Geographen und Fotografienfälschern erfundene
Kenntnisse besitzen. Viele, die einen relativ hohen Bildungsgrad
erreicht haben, glauben nicht mehr an die Existenz menschlicher Wesen.
Sie sagen, dass es sich um einen alten und ziemlich törichten
Aberglauben handle und dass die Überzeugung, sie seien existent, in
Wirklichkeit hauptsächlich in den unteren Schichten verbreitet sei. Auch
die Kinder glauben an die Existenz menschlicher Wesen, was zu einer
reichen Märchendichtung geführt hat, deren Hauptfiguren die Menschen
sind. In diesen Märchen tun die Menschen lustige und doch auf ihre Weise
unheimliche Dinge; sie spinnen unsinnige und sinnvolle Ränke. Aber die
eigenartigste und regste Industrie, die sich rings um die Tradition der
Menschenwesen herum entfaltet hat, ist die der Masken und Marionetten.
Das sie wertvolle Objekte darstellen, werden sie nicht nur zum Vergnügen
der Kinder hersgestellt und verkauft, sondern gleichzeitig als
Schmuckgegenstände in Wohnungen und Häusern verwendet, auch von solchen,
die studiert haben, und deshalb nicht an die Existenz von Menschen
glauben.. Natürlich können diese Masken und Marionetten nicht die
Gesichtszüge menschlicher Wesen tragen, die ja niemand je gesehen hat
und die es womöglich gar nicht gibt. Man stützt sich deshalb auf die
Traditionen, auf alte und absurde illustrierte Bücher und schliesslich
auf die eigene Fantasie. So haben die Gesichter der menschlichen Wesen
stets Löcher zum Sehen, im allgemeinen zwei, aber an irgendeiner Stelle,
eins ganz oben und eins an den Füssen oder auch in der Mitte, sozusagen
im Bauch. Die Menschen haben ein rundes oder quadratisches Oberteil, an
dem bisweilen noch ein weiteres Teil hängt, und unten haben sie
Glieder, die zum Greifen und Gehen dienen. Von irgendeinem Teil her
stossen sie Laute aus - und hier lassen die Künstler ihrer Phantasie
meist freien lauf; so zeichnen sie etwa Trompeten, die ganz oben in
Büscheln emporwachsen, oder kleine Löcher wie bei Flöten und Okarinen.
Zum Hören haben sie eine Art von Knorpeltrichter, der irgendwo
eingesetzt wird. Besonders beliebt sind Marionetten, die "kranke"
Menschenwesen darstellen - obwohl es schwierig ist, sich eingebildete
Krankheiten auszudenken. Manche werden über und über mit Pusteln oder
Wunden versehen und sondern Lebenssäfte ab. Sie haben Öffnungen, aus
denen sie nicht sehen; Flöten, die abgebrochen sind und nicht klingen;
Glieder, die nicht tasten, nicht greifen und nicht gehen. Trotzdem
halten manche die Menschenwesen für unsterblich; sie bringen jenen
Masken Ehrerbietung entgegen; und jene, welche sie für unvollkommen und
unehrerbietig erachten, werden von ihnen barmherzig verbrannt.
Soweit Manganelli, er ist modern in seiner virtuellen Welt, noch fast virtueller als unsere Mails.
Donnerstag, 12. November 2020
Gedanken über das Beten
Lieber ...,
Du sprichst von Beten in deinem Mail und ich bin nicht sicher ob du das ernstlich meinst
oder
ob du nur Spass machst. Betest du wirklich?
Re:
Liebe Marlena
Ja, es hilft auch bei jenen, die nicht daran glauben. Wir haben die
Resultate zwar noch nicht bekommen, aber wir beten immer noch. Und
wenn ich sage "beten", dann meine ich irgendwie eine wohlwollende
Gedankenflut in die richtige Richtung. Ich glaube auch nicht, dass der liebe
Gott durch unsere Gebete wie mit einer Feder im Nacken gekitzelt wird und
dann aufmerkt. Und bei Allah glaube ich es noch weniger. Na ja, vielleicht
würde, von der feinen Feder gekitzelt, der liebe Gott aufschrecken und auch
Allah wecken, der im Nebenzimmer vor sich hindösen scheint, und gemeinsam
würden sie sozusagen den Wind in die richtige Richtung lenken. Das wäre
natürlich schon möglich. Doch sooooo glaube ich nicht dran. Aber natürlich
weiss ich auf eine Art, dass meine Gedanken irgend etwas in der Welt
verändern, wenigstens doch an mir selbst. Es gibt diesen englischen Forscher
Sheldrake, der sich mit Phänomenen dieser Art auseinandersetzt. Ich habe mal
ein Buch über ihn gelesen. Muss ein lustig-komischer Kerl sein.
Wenn ich also "beten" sage, so meine ich eine Art Fürbitte, wie die
Katholiken das doch stark haben. Und auf irgend eine geheimnisvolle Weise
nehme ich an, dass meine Gedanken ein bisschen etwas erleichtern können.
Oder vielleicht können sie es auch nicht. Das spielt eigentlich keine Rolle.
Vielleicht könnte ich sagen, ich wünsche es mir einfach. Es ist ein Wunsch
in die frische Luft hinaus. So etwa! Ein Wunsch wie ein Ruf in die Berge
hinein, in der Hoffnung, es kommt ein Echo zurück. Manchmal kommt auch
keines. Ob die Götter wegen meiner Wünsche auch noch Wolken verschieben und
an den langen Fäden des Schicksals herumzerren, das überlasse ich ihnen. Das
weiss ich nicht, denn sie haben es mir ja nie verraten. Aber wenn sie es
denn nicht tun, so ist es doch für viele Menschen eine tröstliche
Vorstellung.
Gerade gestern habe ich gehört, dass in Spanisch Schutzengel Angelo della
guardia oder so heisst. Eigentlich also Wachengel. Über diese Idee haben wir
doch sicherlich auch schon diskutiert. Es ist eine schöne Vorstellung, einen
Schutzengel zu haben. Und ich erinnere mich an die kleine Anekdote, die
meine Mutter erzählt hat. Als die kleinste Schwester noch sehr klein war,
wurde sie im Kinderbett und angesichts der Engelchen ermahnt, ruhig zu
bleiben und zu schlafen. Sie hat sich beschwert und ihrer Ungeduld heftig
Ausdruck gegeben und gesagt, sie könne dieses nächtliche Geflatter der Engel
rund um ihr Bett ohnehin nicht ertragen.
Liebe Marlena, ich muss kurz bleiben. In einigen Minuten fahre ich ab zu
einem Termin an der örtlichen Schule hier. Und da darf ich nicht zu spät
sein. Ich wünsche Dir einen schönen Tag.
Mit einem lieben Gruss
...
Sonntag, 1. November 2020
Romantisches Programm - Novalis
Liebe Marlena
...
Gerade habe ich einen Artikel über Novalis gelesen. Ich würde wetten,
dass Du ihn kennst. Der Exponent der Romantik und der Taufpate Deines
eigenen Denkens. Es gibt ja auch dieses berühmte Abbild, wo er aussieht
wie ein Mädchen, mit einem feinen Gesicht und süssen Lippen. Novalis,
der in seinen "Hymnen an die Nacht" und dem unvollendeten Roman
"Heinrich von Ofterdingen" die Romantik inkarniert hat. Romantik, das
ist die erste Avantgardebewegung. Novalis ist der Dichter der Romantik
schlechthin.
In seinen "Blütenstaub"-Fragmenten schreibt er, und da spricht er Marlena aus dem Herzen:
"Wir träumen von Reisen durch das Weltall:
ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen
wir nicht. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends
ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft".
Ja ich finde in diesem ausgezeichneten Artikel von Bohrer sogar ein
romantisches Programm, was ich in den letzten paar Jahren immer gesucht
habe.
"Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn,
dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde
des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Anschein gebe so
romantisiere ich es".
Das ist, kurz gesagt, Werbung. In den letzten Jahren hatte ich immer
stärker den Eindruck, die Romantik sei eine besonders starke Bewegung
der Moderne. Vor allem auch in der Psychologie spielt sie eine wichtige
Rolle. Aber ich hatte darüber nur ein diffuses Gefühl, keine wirklichen
Informationen. Nur da und dort, da ich etwas gelesen habe, hat sich mir
die These erhärtet.
Bohrer ist Professor für deutsche Literatur und Spezialist für Romantik,
soviel ich weiss. Ich habe zwei Bücher von ihm, aber ich habe etwas
Mühe, sie zu lesen, denn sie sind ziemlich komplex.