Sonntag, 22. November 2020

Ach nein ...

Lieber ...,
---
Ach nein, du langweilst mich doch nicht. Im Gegenteil. Ich finde es interessant, was du mir von Petrarca erzählst. Ich bin dann auch zu unserem alten Lexikon gegangen und habe nachgesehen, was sie über P schreiben. Und wenn ich dieses alte Buch konsultiere dann glaube ich zu verstehen was du meinst. Denn obwohl das Buch so spät wie 1915 geschrieben ist, so überrascht es mich immer, wie anders man damals mit den Worten umging. Alles scheint so ganz konkret und ohne Verstellung geschrieben. Man nennt Dinge bei ihrem richtigen Namen. Heutzutage muss man den geheimen Code kennen um die wirkliche Bedeutung eines Textes verstehen zu können.
Ich lese u.a. ”Nach dem Vorbild von Cicero und Seneca hob er das Briefschreiben zu einer wirklichen Kunst; man schätzte sich glücklich Briefe von ihm zu erhalten ...” Ich glaube du bist ein moderner Petrarca. Weisst du übrigens, dass P. und sein Bruder beide geistliche waren. Aber das war zu einer Zeit, wo man als Geistlicher keineswegs auf weltlichen Genuss verzichten musste.
Nein, mein lieber Maufreund, ich habe nichts dagegen, dass du mich ins späte Mittelalter zurückführst und mit P bekannt machst. Ich verstehe deine Begeisterung.

(---)

Es gibt übrigens eine deutsche Übersetzung von Petrarcas Gedichten an Laura. Aber sie soll nicht besonders gelungen sein. Ich wäre bereit Italienisch zu lernen nur um sie im Orginal lesen zu können. So sage ich auch manchmal meinen Schülern: der äusserste Sinn des Sprachenlernens ist, dass man Poesi in der Originalsprache lesen kann. Andere Dinge kann man meistens gut in Übersetzungen lesen.


Ich grüsse dich lieb und wünsche dir einen schönen Wochenanfang.
Marlena 

Petrarca

 


Liebe Marlena
Ja, diese Biographie über Petrarca ist interessant. Ich hatte wirklich nicht allzu viel über ihn gehört bisher. Ps Bruder war Geistlicher. Petrarca selbst war eigentlich Jurist, hat aber sein Studium, das er in Monpellier angefangen und in Bologna fortgesetzt hat, nicht beendet. Durch den frühen Tod seines Vaters sind die beiden Brüder dann reich geworden. Und so konnte Petrarca sich dieser Briefschreiberei widmen. Er war oft Berater von hohen geistlichen Würdenträgern und hatte freundschaftliche Beziehungen zu vielen grossen Leuten in Europa. Und Cicero ist wirklich eines seiner grossen Vorbilder.

Am interessantesten finde ich die Änderungen seines Weltbildes vor dem Hintergrund jenes Dantes, wie er es in der Divina Commedia dargestellt hat. Beide, Petrarca und Dante, waren von ihrer Abstammung her Florentiner. Und beide lebten im Exil sozusagen. P hat immer wieder gegen dieses Avignon gewettert und alle seine Bemühungen in den Versuch gesteckt, einflussreiche Männer zu gewinnen, damit die Kurie der katholischen Kirche zurück nach Rom gehe.In seinem Herzen lebte er für Rom. Gegenüber Dantes vertikalem Weltbild, das durch die Perspektive der göttlichen Allmacht gesehen ist, gibt sich Petrarcas Weltbild horizontal. Es ist wie eine Landschaft, in der man dahinpilgert, und immer neue und verschiedene Erfahrungen macht. Das Wesentliche ist in Petrarcas Welt die Vielheit, gegenüber jener der Einheit bei Dante. Die vielen neuen Erfahrungen, die neuen Dinge, die im Horizont auftauchen, zeigen eine Art Unübersichtlichkeit, wie wir sie heute wieder konstatieren. Individuelle Perspektivität ist das neue Charakteristikum der Weltsicht. Und das ist nun wirklich sehr modern.


 

Donnerstag, 19. November 2020

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre ..

 


 

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen—:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.


(Rilke)

 

Dienstag, 17. November 2020

Sonntagabend

(R)

 


 

Lieber ...,
Es ist ein kühler Morgen. Ein dichter Nebel gibt mir den Eindruck auf einer Insel zu sein. Es wird ein schöner Tag werden. Das Licht deutet es an. 

(---)

Nun ist K wieder abgereist und ich werde mich eine Weile mit Vorbereitungen für Morgen beschäftigen. Ich muss lachen, wenn du von einem ”alten General” sprichst. Wenn er wenigstens alt wäre. Aber er ist jünger als ich und wie du sagst, sehr unerfahren in der Pädagogik was ihn auch zu einer leichten Beute aller Bluffer macht. Mehrere Kollegen haben schon diese Befürchtungen geäussert wenn sie sehen von welchen Leuten er sich beeinflussen lässt. Aber man weiss ja nicht was er im Inneren denkt, obwohl er schon ein paar Mal Ideen hervorgebracht hat, die uns den Atem stocken liessen. Du brauchst mich also nicht um meinen Chef zu beneiden. Dagegen würde ich Dir so liebe Kollegen wünschen wie ich sie in meiner Nähe habe. Wir verstehen uns und leiden zusammen. Vielleicht ist deshalb unser Umgang so fröhlich und lustvoll.. weil wir ganz einfach dem Schweren etwas entgegensetzen müssen.

Jetzt beginne ich langsam eine Erleichterung zu spüren in meiner Arbeit. Die kommende Woche sind 2 von meinen Klassen auf ”Pryo” (Berufsorientierung) und ich werde die freie Zeit benutzen um ein wenig Ordnung in unserer Institution zu schaffen und natürlich auch hier zu Hause.. à la Feng Shui.. ;-)))
Ach, chéri, ich muss lachen über deine wilden Vermutungen. Wenn ich eine Leidenschaft finde dann werde ich Dir gern darüber berichten. Erzählst du mir von deiner???
Nein, weisst du, ich suche nichts Aufregendes mehr im Leben.. ich wünsche mir Stille und Harmonie.. aber...

als ich gestern nach ein paar Gedichten von Paul Celan suchte (er ist im Moment auf der Tapete, wie wir sagen) fand ich ein anderes kleines Gedicht von einer mir unbekannten Dichterin.

---

O sag es meinen Augen nicht,
Dass du sie suchst - sonst könnt es sein,
Indes der Herbst schon Kränze flicht,
Bräch’ einmal noch der Lenz herein!

O sag es meinen Träumen nicht,
Dass du sie kennst - sonst könnt es sein,
Nach allem lächelnden Verzicht
Käm einmal noch des Wunsches Pein!

O sag es meinem Herzen nicht,
Dass du mich liebst - sonst könnt es sein,
Ich liess noch spät im Abendlicht
Des Glückes ganze Torheit ein!


Gisela von Berger


---


Freitag, 13. November 2020

Manganelli - Menschen?

 Liebe Marlena

Lass mich dir noch eine kleine Geschichte zitieren. Sie hat mit dem Vorhergehenden nichts zu tun. Sie stammt von einem Italiener. Ich gebe dir hier die biographischen Daten: Giorgio Manganelli, der zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren der italienischen Literatur zählt, wurde 1922 in Mailand geboren. Er studierte englische Litertur und lebte in Rom, wo er 1990 starb. Die "Irrläufe" sind das heiterste und charakteristischste Buch Manganellis. Hundert höchst unterhaltsame Mini-Romane erzählen von Mord und Totschlag, Liebe und Eifersucht, Lug und Trug - so wie es sich für Romane gehört.

In einer Art künstlerischem Zirkus wird mit hunderterlei Darstellungsweisen jongliert, und selbstverständlich ist das auftretende Personal recht unterschiedlich: Damen und Herren, Drachen und Dinosaurier, Himmelskörper und Astrologen, schwarze Schwäne und Architekten, Gespenster, Schatten und Schreie. Manganelli hat ein unbegrenztes Reich möglicher Kombinationen geschaffen. Schon eine "Pille" genügt, den Leser in den Rausch der fortspinnenden Phantasie zu versetzen.

Geschichte 53: Es handelt sich nicht um einen eigentlich menschlichen Ort - in dem Sinne, dass seine Bewohner keine menschlichen Wesen sind und von Menschenwesen nur unbestimmte, durch alte Fabulisten überlieferte oder von Kaufleuten, Geographen und Fotografienfälschern erfundene Kenntnisse besitzen. Viele, die einen relativ hohen Bildungsgrad erreicht haben, glauben nicht mehr an die Existenz menschlicher Wesen. Sie sagen, dass es sich um einen alten und ziemlich törichten Aberglauben handle und dass die Überzeugung, sie seien existent, in Wirklichkeit hauptsächlich in den unteren Schichten verbreitet sei. Auch die Kinder glauben an die Existenz menschlicher Wesen, was zu einer reichen Märchendichtung geführt hat, deren Hauptfiguren die Menschen sind. In diesen Märchen tun die Menschen lustige und doch auf ihre Weise unheimliche Dinge; sie spinnen unsinnige und sinnvolle Ränke. Aber die eigenartigste und regste Industrie, die sich rings um die Tradition der Menschenwesen herum entfaltet hat, ist die der Masken und Marionetten. Das sie wertvolle Objekte darstellen, werden sie nicht nur zum Vergnügen der Kinder hersgestellt und verkauft, sondern gleichzeitig als Schmuckgegenstände in Wohnungen und Häusern verwendet, auch von solchen, die studiert haben, und deshalb nicht an die Existenz von Menschen glauben.. Natürlich können diese Masken und Marionetten nicht die Gesichtszüge menschlicher Wesen tragen, die ja niemand je gesehen hat und die es womöglich gar nicht gibt. Man stützt sich deshalb auf die Traditionen, auf alte und absurde illustrierte Bücher und schliesslich auf die eigene Fantasie. So haben die Gesichter der menschlichen Wesen stets Löcher zum Sehen, im allgemeinen zwei, aber an irgendeiner Stelle, eins ganz oben und eins an den Füssen oder auch in der Mitte, sozusagen im Bauch. Die Menschen haben ein rundes oder quadratisches Oberteil, an dem bisweilen noch ein weiteres Teil hängt, und unten haben sie Glieder, die zum Greifen und Gehen dienen. Von irgendeinem Teil her stossen sie Laute aus - und hier lassen die Künstler ihrer Phantasie meist freien lauf; so zeichnen sie etwa Trompeten, die ganz oben in Büscheln emporwachsen, oder kleine Löcher wie bei Flöten und Okarinen. Zum Hören haben sie eine Art von Knorpeltrichter, der irgendwo eingesetzt wird. Besonders beliebt sind Marionetten, die "kranke" Menschenwesen darstellen - obwohl es schwierig ist, sich eingebildete Krankheiten auszudenken. Manche werden über und über mit Pusteln oder Wunden versehen und sondern Lebenssäfte ab. Sie haben Öffnungen, aus denen sie nicht sehen; Flöten, die abgebrochen sind und nicht klingen; Glieder, die nicht tasten, nicht greifen und nicht gehen. Trotzdem halten manche die Menschenwesen für unsterblich; sie bringen jenen Masken Ehrerbietung entgegen; und jene, welche sie für unvollkommen und unehrerbietig erachten, werden von ihnen barmherzig verbrannt.

Soweit Manganelli, er ist modern in seiner virtuellen Welt, noch fast virtueller als unsere Mails.
 

Donnerstag, 12. November 2020

Gedanken über das Beten

 

 


Lieber ...,

Du sprichst von Beten in deinem Mail und ich bin nicht sicher ob du das ernstlich meinst 

oder ob du nur Spass machst. Betest du wirklich?


Re:

Liebe Marlena
Ja, es hilft auch bei jenen, die nicht daran glauben. Wir haben die Resultate zwar noch nicht bekommen, aber wir beten immer noch. Und wenn ich sage "beten", dann meine ich irgendwie eine wohlwollende Gedankenflut in die richtige Richtung. Ich glaube auch nicht, dass der liebe Gott durch unsere Gebete wie mit einer Feder im Nacken gekitzelt wird und dann aufmerkt. Und bei Allah glaube ich es noch weniger. Na ja, vielleicht würde, von der feinen Feder gekitzelt, der liebe Gott aufschrecken und auch Allah wecken, der im Nebenzimmer vor sich hindösen scheint, und gemeinsam würden sie sozusagen den Wind in die richtige Richtung lenken. Das wäre natürlich schon möglich. Doch sooooo glaube ich nicht dran. Aber natürlich weiss ich auf eine Art, dass meine Gedanken irgend etwas in der Welt verändern, wenigstens doch an mir selbst. Es gibt diesen englischen Forscher Sheldrake, der sich mit Phänomenen dieser Art auseinandersetzt. Ich habe mal ein Buch über ihn gelesen. Muss ein lustig-komischer Kerl sein. Wenn ich also "beten" sage, so meine ich eine Art Fürbitte, wie die Katholiken das doch stark haben. Und auf irgend eine geheimnisvolle Weise nehme ich an, dass meine Gedanken ein bisschen etwas erleichtern können. Oder vielleicht können sie es auch nicht. Das spielt eigentlich keine Rolle. Vielleicht könnte ich sagen, ich wünsche es mir einfach. Es ist ein Wunsch in die frische Luft hinaus. So etwa! Ein Wunsch wie ein Ruf in die Berge hinein, in der Hoffnung, es kommt ein Echo zurück. Manchmal kommt auch keines. Ob die Götter wegen meiner Wünsche auch noch Wolken verschieben und an den langen Fäden des Schicksals herumzerren, das überlasse ich ihnen. Das weiss ich nicht, denn sie haben es mir ja nie verraten. Aber wenn sie es denn nicht tun, so ist es doch für viele Menschen eine tröstliche Vorstellung.
Gerade gestern habe ich gehört, dass in Spanisch Schutzengel Angelo della guardia oder so heisst. Eigentlich also Wachengel. Über diese Idee haben wir doch sicherlich auch schon diskutiert. Es ist eine schöne Vorstellung, einen Schutzengel zu haben. Und ich erinnere mich an die kleine Anekdote, die meine Mutter erzählt hat. Als die kleinste Schwester noch sehr klein war, wurde sie im Kinderbett und angesichts der Engelchen ermahnt, ruhig zu bleiben und zu schlafen. Sie hat sich beschwert und ihrer Ungeduld heftig Ausdruck gegeben und gesagt, sie könne dieses nächtliche Geflatter der Engel rund um ihr Bett ohnehin nicht ertragen.

Liebe Marlena, ich muss kurz bleiben. In einigen Minuten fahre ich ab zu einem Termin an der örtlichen Schule hier. Und da darf ich nicht zu spät sein. Ich wünsche Dir einen schönen Tag.
Mit einem lieben Gruss
...
 

Sonntag, 1. November 2020

Romantisches Programm - Novalis

 

 

Liebe Marlena
...

Gerade habe ich einen Artikel über Novalis gelesen. Ich würde wetten, dass Du ihn kennst. Der Exponent der Romantik und der Taufpate Deines eigenen Denkens. Es gibt ja auch dieses berühmte Abbild, wo er aussieht wie ein Mädchen, mit einem feinen Gesicht und süssen Lippen. Novalis, der in seinen "Hymnen an die Nacht" und dem unvollendeten Roman "Heinrich von Ofterdingen" die Romantik inkarniert hat. Romantik, das ist die erste Avantgardebewegung. Novalis ist der Dichter der Romantik schlechthin.
In seinen "Blütenstaub"-Fragmenten schreibt er, und da spricht er Marlena aus dem Herzen:

"Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft".

Ja ich finde in diesem ausgezeichneten Artikel von Bohrer sogar ein romantisches Programm, was ich in den letzten paar Jahren immer gesucht habe.

 "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Anschein gebe so romantisiere ich es".

Das ist, kurz gesagt, Werbung. In den letzten Jahren hatte ich immer stärker den Eindruck, die Romantik sei eine besonders starke Bewegung der Moderne. Vor allem auch in der Psychologie spielt sie eine wichtige Rolle. Aber ich hatte darüber nur ein diffuses Gefühl, keine wirklichen Informationen. Nur da und dort, da ich etwas gelesen habe, hat sich mir die These erhärtet.

Bohrer ist Professor für deutsche Literatur und Spezialist für Romantik, soviel ich weiss. Ich habe zwei Bücher von ihm, aber ich habe etwas Mühe, sie zu lesen, denn sie sind ziemlich komplex.